Читать книгу Der Schützling - Patrick Redmond - Страница 7

1. KAPITEL Die City of London, 1999

Оглавление

»Wer von euch beiden ist noch nicht voll ausgelastet?«, wollte Graham Fletcher wissen.

Die beiden Benutzer des Büros sahen sich an. Stuarts Schreibtisch war leer bis auf den Kaufvertrag, den er eben erst erhalten hatte, zwei Tage später als ursprünglich zugesagt und dringend zu prüfen. Auch wenn Michaels Schreibtisch mit Unterlagen bedeckt war, hatte er einen großen Teil des Nachmittags damit verbracht, E-Mails an seinen Freund Tim zu schicken. Die Aussicht auf das, was ihn erwartete, war ein mächtiger Anreiz, den Mund zu halten, aber letztlich siegte sein Gewissen.

»Ich.«

»Oh.« Graham wirkte enttäuscht. »Womit sind Sie gerade beschäftigt, Stuart?«

»Mit dem Projekt Rocket. Der Neuentwurf ist gerade erst reingekommen, und wir müssen dem Mandanten bis heute Abend unsere Kommentare zukommen lassen.«

»Ich verstehe. Michael, in zwei Minuten in meinem Büro. Und bringen Sie einen Block mit.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Stuart, nachdem Graham fort war.

Michael schickte eine letzte E-Mail ab und erhob sich. »Ich bin halt ein Glückspilz!«

Stuart lächelte. Er war älter als Michael – schon über dreißig – und erst nach mehreren Jahren als Physikdozent zur Juristerei gekommen. Beide hatten vor sechs Monaten ihr Examen gemacht und teilten sich seitdem ein Büro.

»Bist du sicher, dass ich mich nicht freiwillig melden soll?«

»Nein, danke. Bleib du mal schön bei deinem Projekt Rocket.« Michael verdrehte die Augen. »Projekt Rocket! Mein Gott, wer denkt sich eigentlich diese Namen aus?« Er schnappte sich seinen Block und marschierte zur Tür.

»Achte auf die Körpersprache«, sagte Stuart.

Michael zeigte ihm den Finger. »Wie wär’s damit?«

Stuart lachte. »Viel Glück.«

Michael ging den Korridor entlang zu Grahams Büro. Sekretärinnen saßen an ihren Schreibtischen vor den Büros der Rechtsanwälte, für die sie arbeiteten. Die Luft war erfüllt vom Klappern der Tastaturen, von Unterhaltungen über das gestrige Fernsehprogramm, von Klagen über unleserliche Handschriften und dem permanenten Zischen der Klimaanlage. Ständig traten Anwälte aus ihren Büros, um ihren Sekretärinnen Diktatbänder zu geben, Kollegen wegen fachlichem Rat aufzusuchen, unerwünschte Arbeiten zu delegieren oder einfach, um zu plaudern.

Er näherte sich Grahams Eckbüro. Einer der Seniorpartner, Jeff Speakman, stand beim Diktat neben seiner Sekretärin Donna. Donnas Mund war eine schmale Linie. Sie konnte diese Angewohnheit von Jeff nicht ausstehen. Michael lächelte ihr im Vorübergehen verschwörerisch zu.

Mehrere Referendare drängten sich um die Kaffeemaschine und klagten über einen langweiligen Vortrag, den sie sich während ihrer Mittagspause hatten anhören müssen. Noch vor wenigen Wochen wären sie vorsichtiger gewesen, da aber das neueste Gerücht besagte, dass die Abteilung für Wirtschaftssachen im September keine Neueinstellungen vornehmen würde, ließ automatisch auch der Wunsch zu beeindrucken nach.

Wie immer herrschte in Grahams Büro das reinste Chaos, und auf jeder verfügbaren Fläche türmten sich aufgeschlagene Akten. Eine Zigarette zwischen den Fingern, sprach Graham schnell in sein Diktiergerät. In einer Ecke des Zimmers arbeitete Grahams Referendarin Julia still an ihrem Schreibtisch.

Michael nahm Platz und schaute aus dem Fenster zu den tristen Büros auf der anderen Straßenseite. Sein Freund Tim arbeitete bei Layton Spencer Black und hatte einen Panoramablick auf die City. Aber, wie Graham ihn schnell erinnert hätte, zu Cox Stephens kam man wegen der Qualität der Arbeit und nicht wegen der schönen Aussicht.

Graham beendete sein Diktat und brüllte den Namen seiner Sekretärin. Keine Reaktion. Er fluchte. »Julia, gehen Sie sie suchen. Sagen Sie ihr, ich brauche das hier dringendst.« Julia nahm das Band und verließ den Raum.

Graham starrte Michael an. Er war ein großer schlanker Mann um die vierzig mit schütter werdendem Haar, scharf geschnittenen Gesichtszügen und aggressiv funkelnden Augen. Er galt als einer der größten Tyrannen der Kanzlei und war verschrien, seinen Untergebenen nur minimale Unterstützung zu gewähren, ihnen aber die Schuld an sämtlichen Fehlern zuzuschieben, seine eigenen eingeschlossen. »So«, sagte er, »Sie haben also nicht viel zu tun, stimmt’s?«

»Nicht besonders viel, Graham.«

»Nun, das wird sich bald ändern.«

»Ja, Graham.«

»Wir sind gerade mit einer neuen Firmenübernahme beauftragt worden.«

»Tatsächlich, Graham.«

Grahams Gesicht verfinsterte sich. Bei Cox Stephens sprach man sich mit Vornamen an. »Wir legen hier keinen besonderen Wert auf Förmlichkeiten«, hatte der Seniorpartner Michael und seinen Referendarskollegen an ihrem ersten Tag verkündet. Michael wusste, dass Graham diese Verfahrensweise als abträglich für seinen Status als Sozius ansah, und folglich hielt Michael es für ein Muss, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Vornamen anzusprechen. Erst letzten Donnerstag hatte er es bei ihrer zweiwöchentlichen Abteilungsbesprechung geschafft, den Vornamen in einem einzigen Satz gleich viermal einzubauen, womit er Stuart zu einem künstlichen Hustenanfall veranlasste.

»Wir vertreten Digitron. Schon mal von denen gehört?«

»Nein, Graham.«

»Eine Softwarefirma. Eigentlich einer von Jack Bennetts Mandanten, aber da Jack mit Arbeit völlig zu ist, habe ich die Sache übernommen.«

Michael klappte seinen Block auf und begann, sich Notizen zu machen. Er hörte Julia an ihren Platz zurückkehren.

»Digitron entwickelt maßgeschneiderte Betriebssysteme für Firmen. Derzeit noch in kleinem Maßstab, aber sie wollen ihre Marktpräsenz ausbauen und zu diesem Zweck Pegasus übernehmen, eine Tochtergesellschaft von Kinnetica. Das kostet sie ein Vermögen. Die Aktiva sind rein gar nichts wert, aber die Trumpfkarte ist Pegasus’ langfristiger Softwarelieferungsvertrag mit Dial-a-Car. Genau dafür blätterte Digitron eigentlich das Geld hin. Sie haben schon von Dial-a-Car gehört, nehme ich an.«

»Ja, Graham.«

Jemand klopfte an die Tür. Jack Bennett trat ein. »Tut mir Leid, dass ich stören muss. Ich hatte gerade Peter Webb von Digitron am Telefon. Er möchte für morgen früh um halb neun eine Konferenz anberaumen. Ist das möglich?«

Graham nickte, deutete dann über den Schreibtisch. »Michael wird mir helfen.«

Jack strahlte. »Fein, ich bin Ihnen beiden sehr dankbar.« Er war ein kleiner, stämmiger Mann mit der Statur eines Rugbyspielers und einem jovialen Gesicht. Er war vor sechs Wochen mit einer Mandantenliste an Computerfirmen, um die ihn praktisch die gesamte Konkurrenz beneidete, von Benson Drake zu ihrer Kanzlei gewechselt. Da er sich immer noch wie der Neue fühlte, war er zu allen äußerst freundlich. Da die meisten Seniorpartner nachdrücklich davon hatten abgehalten werden müssen, bei seiner Ankunft laut »Hosianna!« zu rufen und den Korridor mit Palmblättern auszulegen, schien ein solches Verhalten unnötig. Andererseits war es eine angenehme Eigenschaft.

Michael erwiderte das Lächeln. »Kein Problem.«

»Sie können den Besprechungstermin einhalten?«, fragte Graham, nachdem Jack gegangen war.

»Ja, Graham.«

Graham zog an seiner Zigarette. »Natürlich«, sagte er gedehnt, »werde ich das Reden übernehmen.«

Michael verstand die versteckte Bedeutung sofort. Er nickte. »Okay.«

»Unter den gegebenen Umständen halte ich es so für das Beste.«

Michael spürte, wie sich seine Schultern versteiften, und versuchte sofort, sie zu lockern. Rebecca warnte ihn immer, dass seine »Zieh-Leine-Schultern« – ihre Worte – zu viel verrieten.

»Immerhin handelt es sich hier um wichtige Mandanten. Wir wollen ja schließlich keinen schlechten Start hinlegen, oder?«

Graham starrte ihn weiter an und wartete auf eine Reaktion. Michael wappnete sich, war fest entschlossen, ihm diese Genugtuung nicht zu verschaffen. »Natürlich nicht.«

»Von Ihnen erwarte ich, dass Sie in der Zwischenzeit Recherchen über Pegasus und Kinnetica anstellen. Sehen Sie sich noch einmal den Übernahmevertrag an, den wir für Syncarta ausgearbeitet haben, und stellen Sie fest, welche Klauseln wir in unserem Vertragsdokument haben wollen, und dann machen Sie eine Aufstellung sämtlicher Informationen, die wir noch von Digitron benötigen. Und vergessen Sie bitte nicht, dabei einen Blick in die Mandantenakte zu werfen. Die Mandantschaft wird kaum beeindruckt sein, wenn wir sie um Material bitten, das wir bereits besitzen, und das Gleiche gilt übrigens auch für mich.« Graham hob eine Augenbraue. »Meinen Sie, Sie kommen damit zurecht?«

Wartete immer noch. Tja, da kannst du ewig warten, du kleines Arschloch.

Michael war so entspannt wie nach einer einstündigen Massage. Er lächelte honigsüß und legte seine gesamte Verachtung in seinen besten Leck-mich-am-Arsch-Blick.

»Natürlich.« Kurzes Schweigen. »Graham.«

Er klappte seinen Block zu und kehrte in sein Büro zurück.

Michael gab die Firmenüberprüfungen in Auftrag und begann, den Syncarta-Vertrag zu überfliegen. Stuart ging in die Kantine und besorgte ihnen ein Eis. Rebecca rief an, um ihm einen Witz zu erzählen, der gerade die Runde machte.

Halb sechs. Er nahm sich die Mandantenakte vor und fing mit dem Fragebogen an. Stimmengewirr erfüllte den Korridor, als die Sekretärinnen Feierabend machten. Er arbeitete schnell, da er um sieben mit Rebecca verabredet war. Dann spürte er, wie jemand in seiner Nähe wartete. Julia stand in der Tür, wirkte besorgt. »Ich weiß, du hast viel zu tun, Mike, aber könntest du für mich vielleicht mal einen kurzen Blick auf dieses Vorstandsprotokoll werfen?«

»Klar. Gib her.«

Sie blieb stehen und beobachtete ihn. Ein ruhiges Mädchen mit mausbraunen Haaren und nervösem Blick. Nicht so selbstsicher wie die anderen Referendare. Er machte eine kleine Korrektur, dann gab er ihr die Unterlagen zurück. »Wirklich toll. Gute Arbeit.«

Errötend senkte sie den Blick. Er vermutete schon länger, dass sie ihn mochte. Die Vorstellung erschien ihm merkwürdig. Nachdem er den größten Teil seines Lebens damit verbracht hatte zu akzeptieren, dass er hässlich war, fiel es ihm immer noch schwer zu glauben, dass er jetzt alles andere war als das. Er lächelte sie an. »Du überlebst?«

»So gerade eben.«

»Du machst deine Sache gut. Das findet jeder. Lass dich von Hitlers Zwilling nicht tyrannisieren.«

»Vielleicht sollte ich bei dir Unterricht nehmen.«

»Ist ganz leicht. Intonier einfach das Wort ›Graham‹ wie ein Mantra. Dann kriegt er einen Herzinfarkt, und der Fluch verschwindet.« Er deutete auf seinen Schreibtisch. »Ich mach jetzt besser weiter. Wir sehen uns, okay?«

Sie ging. Nachdem er weitere zehn Minuten damit verbracht hatte, den Fragebogen in Ordnung zu bringen, schaltete er seinen Computer aus. Der Fahrstuhl steckte im Keller fest, also nahm er die Treppe. Er durchquerte den Empfangsbereich und plauderte kurz mit dem Mann des Sicherheitsdienstes, bevor er auf die Straße trat. Die Aprilluft war warm und drückend nach dem Regen, der früher am Tag gefallen war. Er dachte kurz daran, die U-Bahn zu nehmen, entschied sich dann aber dagegen. Nach einem langen Arbeitstag im Büro würde ihm ein Spaziergang gut tun.

Er überquerte den Broadgate Circle und ging an der Liverpool Street Station vorbei, wobei er sich die Krawatte lockerte. Der Verkehr auf den Straßen stand, während Hunderte Pendler mit müden Gesichtern und wild entschlossenen Mienen zu ihren Zügen hasteten. Es schien, als trage die ganze Welt Anzüge, und die Autoabgase füllten seine Lungen.

Bei einem Straßenverkäufer an der Ecke kaufte er im Vorbeigehen einen Evening Standard. Man erwartete deutlich fallende Zinsen. Die Ehe irgendeiner Berühmtheit stand vor dem Aus. Nichts Ungewöhnliches. Einfach nur wieder ein Tag.

Er setzte seinen Weg die Cannon Street entlang fort, überquerte den Ludgate Circus und ging weiter die Fleet Street Richtung Strand. Das Verhältnis Touristen zu Einheimischen verschob sich. Ein amerikanisches Pärchen mit Rucksäcken fragte ihn nach dem Weg nach Covent Garden. In der Ferne bombardierten Tauben im Sturzflug die Nelsonsäule.

Er erreichte die Buchhandlung Chatterton’s und ging hinunter in die Sachbuchabteilung. An der Kasse saß eine etwa dreißigjährige, freundliche Frau. Sie strahlte ihn an und deutete auf die Kunst- und Architekturabteilung, wo ein Mädchen mit kurzen blonden Haaren eine ältere Frau bei der Auswahl eines Buchs beriet. Die Frau schien nicht genau zu wissen, was sie eigentlich wollte, also machte das Mädchen Vorschläge, zeigte ihr Band um Band. Während er dort stand und sie beobachtete, spürte das Mädchen seine Anwesenheit und lächelte ihm kurz zu.

Schließlich traf die Frau ihre Wahl und ging zur Kasse. Michael steuerte auf das Mädchen zu. Sie war Anfang zwanzig und wunderschön. Schlank und anmutig mit lebhaften grünen Augen und einem schalkhaften Lächeln.

»Hallo, Beck«, sagte er.

»Selber hallo.«

Er küsste sie. Sie duftete nach Seife und Rosen. »Ich bin früh dran. Soll ich später wiederkommen?«

»Nein.« Sie deutete auf ein halbfertiges Werbearrangement aus neuen Büchern. »Hilf mir dabei. Clare hat gesagt, ich könnte gehen, sobald ich damit fertig bin.«

Sie knieten sich neben den Aufsteller. Er reichte ihr Bücher, während er Clare an der Kasse beobachtete. »Clare sieht glücklich aus.«

»Ist sie auch. Der irre gut aussehende Vertreter hat sie endlich zu einem Rendezvous eingeladen.«

»Dann haben sich deine Tipps also ausgezahlt?«

»Ja, und es wurde auch Zeit. Jetzt hat Clare Panik, was sie anziehen soll. Also werde ich morgen in der Mittagspause mit ihr einkaufen gehen müssen.«

Sie lachten beide. »Wie war dein Tag?«, fragte sie.

Er erzählte von der neuen Firmenübernahme. Sie sah erfreut aus. »Die scheinen ja wirklich zufrieden mit dir zu sein.«

Das folgte zwar nicht zwangsläufig daraus, aber es machte sie glücklich, es zu glauben, also nickte er. »Ich schätze schon.«

Sie lächelte weiter, doch ihr Blick wurde ein wenig traurig. Er berührte ihre Wange. »Was ist denn?«

»Ach, nichts.«

»Sag’s mir.«

»Später.«

»Versprochen?«

»Versprochen. Komm, bringen wir das hier hinter uns.«

In angenehmem Schweigen arbeiteten sie weiter. Als sie fertig waren, holte sie ihre Tasche. Der Laden war jetzt praktisch leer. Er sah sich die Bücher in seiner Nähe an. Tausende. Ein Tropfen im Ozean des Wissens der Welt.

Er bemerkte ein neues Buch über den Künstler Millais und dachte, dass es ihr gefallen würde. Vielleicht eine Idee für ihren Geburtstag. Bis dahin waren es zwar noch einige Monate, aber er hatte bereits eine lange Liste von Dingen, die er ihr schenken wollte.

Die Wettervorhersage für den Rest der Woche war gut, und er beschloss, sie an einem der nächsten Tage in der Mittagspause zu überraschen und Sandwiches mitzubringen, damit sie sich auf den Trafalgar Square setzen und die Tauben füttern konnten. Früher, vor einer Million Jahren, hätte er solche Gefühle verachtet. Doch das war in einem anderen Leben gewesen, und die Erinnerung daran hielt er jetzt im dunkelsten Korridor seines Kopfes verborgen.

Er plauderte mit Clare und neckte sie ein bisschen mit ihrem bevorstehenden Rendezvous. Dann kehrte Rebecca zurück, und sie verließen das Geschäft.

Als sie in Richtung Leicester Square und zu ihrer Verabredung zum Abendessen in der Gerrard Street den Strand entlangschlenderten, zeigte Rebecca auf ein Poster, das für eine neue Ausstellung in einer Kunstgalerie am Piccadilly warb. »Patrick Spencer. Er war nur ein Jahr vor mir auf der St. Martin’s. Sieh nur, was aus ihm geworden ist.«

Jetzt verstand er ihre Traurigkeit. »Ja«, wiederholte er leise, »sieh nur, was aus ihm geworden ist.«

»Macht mir nichts aus. Er war gut. Er hat’s verdient.«

»Du auch.«

»Vielleicht.«

»Bestimmt. Du hast auch das Zeug zur großen Künstlerin.«

»In meinen Träumen.«

Er blieb stehen, nahm sie in die Arme und blickte ihr in die Augen. »Weißt du, was ich glaube? Heute in zehn Jahren, wenn Patrick Spencer eine große Berühmtheit ist und in allen Zeitungen steht, dann wird die eine Frage, die jeder Journalist ihm stellen wird, lauten: ›Wie war es, zusammen mit Rebecca Blake das College zu besuchen? Die Rebecca Blake. Die größte Entdeckung in der Kunstwelt seit Jahrzehnten.‹ Das glaube ich.«

Sie lächelte. »Klar.«

»Klar. Es wird so kommen, Beck. Wart’s nur ab, du wirst schon sehen.«

Sie umarmten sich auf offener Straße, während sich die Menschen an ihnen vorbeidrängten, jeder mit eigenen Zielen, eigenen Leben, Hoffnungen und Träumen. Eine Frau mittleren Alters lächelte sie im Vorübergehen an. Er erwiderte das Lächeln und dachte: Genau das bedeutet die Liebe. Das Glück eines anderen Menschen mehr wünschen als das eigene.

»Komm jetzt«, drängte Rebecca. »Wir kommen noch zu spät.«

Die Arme umeinander geschlungen gingen sie weiter Richtung Gerrard Street.

Das Abendessen verlief nicht sonderlich gut.

Mr. und Mrs. Blake liebten chinesisches Essen über alles. Bei ihren häufigen Trips von Winchester nach London bestanden sie immer darauf, im Oriental Pearl in der Gerrard Street zu Abend zu essen. »Wunderbares Zeug!«, rief Mr. Blake aus, wenn er sich seine Pekingente munden ließ. »Warum kann unser einheimisches Essen nicht so schmecken?« Mrs. Blake nickte stets zustimmend und bemerkte dann, dass sie eines Tages wirklich mal nach China reisen sollten. An diesem Punkt stellte sich Michael dann immer Mr. Blake mitten in der Verbotenen Stadt vor, diesem herrlichem Zeugnis der ungewöhnlichen Geschichte Chinas, wie er eine Tirade losließ auf einen Straßenverkäufer, weil sein Chopsuey nicht so schmeckte wie im Oriental Pearl. Doch da Mr. und Mrs. Blake Rebeccas Eltern waren, behielt er diese Gedanken für sich.

»Und wie läuft es in der Arbeit, Michael?«, fragte Mrs. Blake, während sie den letzten Löffel ihrer Suppe aß.

»Gut, danke der Nachfrage.«

»Er ist gerade erst an einem wirklich guten Projekt beteiligt worden«, erzählte Rebecca ihrer Mutter. »Es hat sich erst heute ergeben, stimmt’s, Mike?«

Er nickte. Das Restaurant war voll. Ein Kellner wartete bereits in der Nähe, um ihre Teller abzuräumen. Die anderen waren mit ihrer Vorspeise bereits fertig, also ließ er sich sein letztes Rippchen schmecken.

»Nun, das ist ja wunderbar«, erwiderte Mrs. Blake. Sie wandte sich an ihren Mann. »Was meinst du, John?«

»Warten wir erst mal ab, wie es sich entwickelt, bevor wir in Lobeshymnen ausbrechen«, erwiderte er bissig.

»Dad!«, rief Rebecca.

»Nun, nach allem, was letzten Monat passiert ist ...«, setzte Mr. Blake an.

»Das war nicht Mikes Schuld«, unterbrach Rebecca ihn rasch.

Mr. Blake wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab. »Und wessen Schuld dann?«

Rebecca sah verärgert aus. »Ich dachte, wir wollten nicht mehr darüber reden.«

»Wie auch immer«, fügte Michael hinzu, »es wird nicht wieder passieren.«

Mr. Blake grunzte verächtlich.

»Dein Vater macht sich nur Sorgen, Becky«, sagte Mrs. Blake. »Um euch beide.« Sie lächelte Mike an. »Ich bin überzeugt, du wirst deine Sache sehr gut machen.«

Er lächelte zurück und fragte sich mal wieder, wen von beiden er weniger mochte.

Ursprünglich hatten sie sich einen Tisch für fünf Personen reservieren lassen. Rebeccas älterer Bruder Robert hatte in letzter Minute absagen müssen. »Eine wichtige Besprechung«, hatte Mrs. Blake stolz verkündet. Robert war Baugutachter und außerordentlich erfolgreich, falls man seinen Eltern glauben konnte. Rebecca war enttäuscht gewesen über diese Mitteilung. Michael hatte ebenfalls seiner Enttäuschung Ausdruck verliehen, während er es als Beweis nahm, dass Gott ihn noch nicht verlassen hatte.

Der Kellner tauchte wieder auf. Mr. und Mrs. Blake starrten Michael erwartungsvoll an. Beide hatten grobe, fleischige Gesichter und den anspruchsvollen Blick von Leuten, in deren Leben es so wenig Enttäuschungen gegeben hatte, dass bereits der geringste Rückschlag einen Wutanfall auslösen konnte. Sie ähnelten einander auf diese merkwürdige Art wie so viele alte Ehepaare. In keinem von ihnen war etwas von Rebecca wiederzufinden. Sie hatte ihr Aussehen von einer ihrer Großmütter geerbt.

Er war immer noch nicht fertig, aber er konnte Mr. Blake nicht zumuten, noch länger auf seine Pekingente zu warten. Also legte er das letzte Rippchen auf den Teller zurück. Ein großer Flecken Bratensaft hatte sich dort gebildet. Am liebsten hätte er den Teller genommen und ihn abgeleckt, nur um ihre entsetzten Gesichter zu sehen. Stattdessen nickte er dem Kellner zu.

Mr. Blake schenkte Wein nach. Rebecca stieß Michael an. »Hab ich ganz vergessen, dir zu erzählen. Ich glaube, ich habe eine Wohnung für uns gefunden. Es ist nur vorübergehend, aber es klingt gut.«

»Vorübergehend? Wie meinst du das?« Die beiden hatten eine kleine möblierte Wohnung in Camberwell gemietet, aber der Vertrag lief aus.

»Es ist wieder eine Mietwohnung, Clare hat mir davon erzählt. Clare ist meine Freundin in der Arbeit«, erklärte sie ihren Eltern. »Sie hat eine Freundin namens Alison. Alisons Mann Neil arbeitet bei einer der Handelsbanken. Er ist gerade erst zu ihrer Filiale in Singapur versetzt worden, und sie müssen in ein paar Wochen abreisen. Ihr Mietvertrag läuft noch vier Monate weiter, deshalb suchen sie jemanden, der ihn übernimmt. Sie ist voll möbliert, also müssen wir nicht Hals über Kopf alles kaufen.«

»Wo liegt die Wohnung?«, fragte er.

»South Kensington.«

»Mein Gott! Wir sollten doch sparen. Wie viel wird das denn kosten?«

»Nicht viel mehr als das, was wir jetzt zahlen. Die Wohnung ist wohl nicht sehr groß und der Vermieter ein Geschäftsfreund von Neils Vater. Deshalb zahlen sie nicht die übliche Miete. Aber sie müssen die volle Mietzeit drin bleiben.«

»South Ken!«, rief Mrs. Blake aus. »Oh, Becky, das wäre ja wunderbar!«

»Aber wir suchen doch nicht eine weitere Mietwohnung«, meinte Michael. »Wir wollen kaufen. Wollen uns vor der Hochzeit in den eigenen vier Wänden niederlassen.«

»Aber unser Mietvertrag läuft in wenigen Wochen aus. In dieser Zeit werden wir garantiert nirgendwo was kaufen. Das heißt, dass wir den Vertrag für weitere sechs Monate verlängern müssen. Und so sind wir nur für vier Monate festgelegt. Die meisten Leute würden so einen kurzen Mietvertrag nicht abschließen wollen, für uns aber ist es ideal.«

»Und was für ein Spaß, in so einem schicken Stadtteil zu leben«, fügte Mrs. Blake hinzu.

»Und um wie viel mehr Miete handelt es sich hier?«, wollte Michael wissen.

»Es wäre ja nur für vier Monate.«

»Wie viel?«

»Ich bin überzeugt«, sagte Mrs. Blake, »dass Beckys Vater aushelfen würde, sollte es Probleme geben.«

Mr. Blake lächelte seine Tochter an. »Natürlich würde ich das, Schatz, wenn du das möchtest.«

»Ja«, sagte Mrs. Blake. »Das wäre wirklich schön für dich. Aber, natürlich, wenn Michael dagegen ist ...«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich dagegen bin«, antwortete Michael.

Mrs. Blake seufzte. Rebecca und ihr Vater starrten ihn an: Rebecca hoffnungsvoll, Mr. Blake betont kühl. Er begriff, dass Rebecca nicht vergessen hatte, es ihm zu sagen, sondern, dass sie den Augenblick sorgfältig ausgewählt hatte, wobei sie genau wusste, dass ihre Eltern sie unterstützen würden. Er holte tief Luft und versuchte, seine Verärgerung hinunterzuschlucken. »Okay.«

Rebecca küsste ihn. »Wir sehen sie uns einfach mal an. Vielleicht gefällt sie uns ja gar nicht.«

»Ich bin sicher, dass sie euch gefallen wird«, meinte ihre Mutter.

»Und falls ihr Unterstützung bei der Miete braucht ...«, setzte ihr Vater an.

»Werden wir nicht«, sagte Michael aggressiver als beabsichtigt. Er milderte seinen Ton. »Es ist nett von euch, uns das anzubieten, und ich bin euch dafür sehr dankbar, aber wir kommen schon allein zurecht.«

Der Hauptgang wurde serviert. Der Kellner stand neben dem Tisch und bereitete die Pekingente zu. Mr. Blakes Augen glänzten. »Das sieht wunderbar aus.« Mrs. Blake erkundigte sich bei Rebecca nach Neuigkeiten von ihrer Freundin Emily. Michael griff nach seinem Weinglas. Der Rest des Abends lag vor ihm wie ein Hindernisrennen. Mit einem vagen Lächeln wartete er auf das Essen, auf das er keinen Appetit mehr hatte.

Um zehn Uhr verließen sie das Restaurant und gingen Richtung Leicester Square. Die Straßen waren voller Menschen, in der Luft hingen die vielfältigsten Gerüche exotischer Speisen. Sie verabschiedeten sich, und Mr. und Mrs. Blake machten sich auf den Weg zur U-Bahnstation und dem Zug, der sie zu Roberts Wohnung in Clapham bringen würde. Michael und Rebecca gingen zur Bushaltestelle an der Regent Street. Von dort fuhren sie in Richtung Süden, über die Themse zu ihrer Wohnung nach Camberwell.

Nachdem sie an der Camberwell High Street ausgestiegen waren, schlenderten sie Hand in Hand den Berg hinauf. Es war inzwischen merklich frischer geworden, und Rebecca hatte keinen Mantel dabei. Er bot ihr sein Jackett an. Sie lehnte dankend ab.

Sie erreichten den Wohnblock: ein riesiger roter Ziegelkasten, Ende der Achtzigerjahre erbaut. Ihre Wohnung befand sich im zweiten Stock: eine funktionale Wohneinheit mit Steinböden und sauberen Oberflächen. Michael ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Rebecca beobachtete ihn. »Die Wohnung wird dir gefallen«, sagte sie. »Davon bin ich überzeugt.«

»Ja, ich auch.«

»Es ist doch nur für vier Monate. Genug Zeit, um etwas zum Kaufen zu finden. Eine Wohnung, die wirklich uns gehört.«

Er drehte sich zu ihr um. »Warum musstest du ihnen das erzählen?«

»Was erzählen?«

»Über die Arbeit. Was letzten Monat passiert ist. Das hätten sie wirklich nicht erfahren müssen.«

Sie senkte den Blick. Schwieg.

»Warum?«

»Weil ich mir Sorgen gemacht habe. Ich wollte mit jemandem darüber reden.«

»Warum hast du nicht mit mir geredet? Es war unser Problem, nicht ihres.«

Sie seufzte. »Sie sind Teil meines Lebens, Mike. Daran ändert sich nichts, nur weil wir zusammen sind.«

»Das weiß ich. Aber ich bin dein Verlobter, und das betraf nur uns beide. Ich hab dir doch gesagt, es gibt überhaupt keinen Grund zur Beunruhigung. Warum hast du mir nicht geglaubt?«

»Ich habe dir geglaubt.«

»Nein, hast du nicht. Du hast es ihnen erzählt. Hast ihnen noch mehr Munition gegen mich gegeben.«

»Sie sind nicht gegen dich. Sie sind nur fürsorglich.«

»Du brauchst keine Fürsorge.«

»Das weiß ich doch. So habe ich’s auch nicht gemeint.«

Er stellte sein Glas auf den Tisch. »Ist auch egal. Sollen sie mich ruhig hassen, wenn sie’s denn unbedingt wollen.«

»Sie hassen dich nicht.«

»Und ob sie das tun.«

Sie starrten sich an. Sie sah verletzt aus, und dieser Anblick bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. »Tut mir Leid«, sagte er schnell. »Es war ein hektischer Tag, und ich fühle mich einfach ausgepowert.«

Ihr Gesicht entspannte sich, und sie lächelte verständnisvoll. Dann ging sie zu ihm und begann, seinen Nacken zu massieren. »Soll ich uns einen heißen Kakao machen? Wir können uns den Rest von diesem Film mit Humphrey Bogart anseh’n, und du erzählst mir alles.«

Er wollte zustimmen und sie glücklich machen. Aber der Abend hatte eine nervöse Energie in ihm aufgebaut, die er loswerden musste. »Ich vertrete mir lieber noch ein wenig die Beine.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Du gehst ins Bett. Wird nicht lange dauern.«

Nachdem sie sich geliebt hatten, lagen sie aneinander gekuschelt im Bett. Während Rebecca schnell eingeschlafen war, blieb er wach; sein Verstand führte ihn auf eine Reise, die er nicht machen wollte, quer durch Zeit und Raum zu einem grauen Haus in Bow.

In diesem Haus hatte er sechs Jahre gelebt. Es war sein Zuhause gewesen, seine Welt, immer voller Menschen, voller Lärm und Leben. An Gesellschaft hatte es ihm nie gemangelt. Trotzdem war er immer allein gewesen.

Sein ganzes Leben war er allein gewesen.

Bis jetzt.

Er schloss seine Arme fester um Rebecca, schmiegte sich an sie, als versuche er, sie beide zu einem einzigen Wesen zu verschmelzen, das nie mehr getrennt werden konnte.

Der Schützling

Подняться наверх