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PROLOG Bow, East London, 1984

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»Wo steckt Michael? Warum ist er nicht hier? Ich will mich von ihm verabschieden.« Sean stellte die Tasche ab, die er in der Hand hielt, und starrte zu Boden. Sein Gesicht war gerötet, seine Lippen begannen zu beben.

Susan Cooper, die mit seinem Koffer gefolgt war, holte tief Luft. »Ich hab’s dir doch gesagt, Sean, wir können ihn nirgends finden.«

»Aber ich will mich verabschieden. Ich gehe nicht, ohne mich zu verabschieden!«

Die zwei standen auf dem Bürgersteig vor dem Kinderheim. Es war ein quadratischer viktorianischer Kasten aus grauem Stein; das einzige freistehende Einzelhaus auf dieser Straßenseite. Direkt gegenüber befand sich ein Sozialwohnungskomplex, ein Betonlabyrinth, das die Sonne aussperrte und die schmale Straße in Schatten tauchte.

Tom Reynolds, der im Wagen wartete, stellte jetzt den Motor ab und schien aussteigen zu wollen. Susan schüttelte den Kopf. Sie waren ohnehin schon spät dran. Nur noch ein paar Minuten, und sie würden unweigerlich in den Rushhourverkehr geraten. Einige Jungs aus der Sozialsiedlung spielten auf der Straße Fußball, warfen sich mit jedem Schuss Beleidigungen an den Kopf, bemerkten nichts von der Abschiedsszene, die sich vor ihren Augen abspielte.

Susan zitterte. Obwohl erst Anfang Oktober, blies der Wind bereits recht frisch und kündete vom nahenden Winter. Ein älteres Paar ging bepackt mit Lebensmitteln vorüber und warf Sean einen mitfühlenden Blick zu. Im Stillen verfluchte sie Michael. Darauf konnte sie im Moment wirklich verzichten. »Ich hab’s dir doch gesagt, Sean«, sagte sie mit einem schärferen Ton als beabsichtigt. »Wir können ihn nicht finden. Es tut mir sehr Leid, aber so ist es nun mal.«

»Dann gehe ich nicht! Ich will nicht gehen! Sie können mich nicht zwingen!«

Seine sanften Augen waren voller Angst. Sofort schämte sie sich. Sie hockte sich neben ihn und wischte ihm eine blonde Strähne aus der Stirn. »Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht anschnauzen. Wir haben versucht, ihn zu finden, ehrlich. Du kennst ihn doch. Wahrscheinlich ist er aufgehalten worden.«

»Er will nicht hier sein.«

»Natürlich will er.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Er ist dein bester Freund. Das würde er doch nicht versäumen wollen.«

»Er hat gesagt, er hasst mich und wäre froh, wenn ich weggehe. Er hat gesagt –«, Seans Augen füllten sich mit Tränen, »– er hat gesagt, dass Pflegeeltern nur freundlich tun, um einen reinzulegen, und wenn ich erst mal bei denen bin, dann sperren sie mich in den Keller und geben dem Sozialarbeiter Geld, damit er nichts sagt, und ...«

Susan machte beruhigende Laute. »Er nimmt dich doch nur auf den Arm. Die Andersons sind nette Leute, Sean. Du glaubst doch wohl nicht, ich würde dich bei Leuten wohnen lassen, die nicht nett sind, oder?«

Er gab keine Antwort. Sie hob sein Kinn an und sah ihm in die Augen. »Glaubst du das?«

Langsam schüttelte er den Kopf.

»Sie haben einen schönen großen Garten und zwei Hunde. Du wirst bei ihnen glücklich sein, Sean. Das verspreche ich dir.«

Lautes Hupen zerschnitt die Stille, gefolgt von einer erregten Stimme: Ein Autofahrer fluchte, weil Toms Wagen die Straße versperrte. Sie konnte es nicht länger hinauszögern. »Komm, setz dich jetzt ins Auto. Tom sagt, du darfst vorn sitzen und dir eines deiner Bänder anhören.«

Tom öffnete die Beifahrertür und lächelte Sean breit an. »Bist du dann soweit, Kumpel?« Wieder das Schmettern der Hupe. Tom beugte sich aus dem Fenster. »Sekunde noch!« Er zerzauste Sean die Haare. »Wollen doch mal sehen, ob wir auf der Autobahn den Geschwindigkeitsrekord zu Lande brechen können, häh?« Sean brachte ein schwaches Lächeln zu Stande, während Susan ihm beim Anschnallen half. »Kommen Sie mich auch mal besuchen?«, fragte er sie ängstlich.

»Aber sicher.«

Er sah immer noch besorgt aus. »Das mit meinem Foto werden Sie nicht vergessen? Sie suchen weiter?«

»Natürlich. Wir werden’s schon finden. Keine Angst.«

Sie sah dem Auto nach, als es die Straße entlangfuhr. Die Jungs aus der Siedlung ließen das Fahrzeug vorbei und setzten dann ihr Spiel fort. Während sie ihnen nachschaute, hallte ein unausgesprochenes Gebet in ihrem Kopf. O Gott, bitte mach, dass diese Geschichte gut ausgeht. Er ist erst neun, und er hat schon so viel durchgemacht.

Traurig drehte sie sich um und kehrte ins Haus zurück.

Michael stand am Ende der Straße und beobachtete, wie Susan Sean umarmte.

Die Schultasche hing über seiner Schulter. Er hätte schon vor einer Stunde zurück sein sollen. Stattdessen hatte er gebummelt und die Zeit totgeschlagen. Jetzt müsste es eigentlich vorbei sein.

Er spürte, dass Sean weinte. Wusste, dass er Angst hatte. Wusste auch, wessen Schuld das war.

Er schämte sich, zusätzlich waren da noch andere, kompliziertere Gefühle, die er sich nicht eingestehen wollte. Wütend drängte er sie zurück. Sean war ein Baby und verdiente es, Angst zu haben.

Er wandte sich der winzigen Autowerkstatt an der Straßenecke zu. Das Tor des Vorhofs war nicht verschlossen, und er flitzte hinein, sprang auf eine Kiste und von dort auf eine Mauer, die auf der Rückseite der Häuser verlief. Hinter sich hörte er das wütende Brüllen des Werkstattbesitzers.

Nachdem er ein Stück auf der Mauer balanciert war, langsam, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, sprang er in den Garten des Heims. Eine Briefmarke mit Unkraut. Er betrat das Haus durch die Hintertür, ging durch den Lagerraum und vorbei an der Küche. Er hörte Stimmen. Die Vorbereitungen zum Abendessen hatten begonnen. Dem Geruch nach gab es Bolognesesoße. Hackfleisch und Dosentomaten, abgeschmeckt mit Zwiebelwürfeln und über Spaghetti verteilt. Das gleiche Gericht hatte es schon vier Abende zuvor gegeben. Aber es war eine einfache Mahlzeit, und es waren zwanzig Kinder, die satt werden mussten.

Er kam in die Diele. Die Luft war abgestanden und roch ein wenig feucht. Der Wandanstrich sah schmutzig aus. Von außen strahlte das Haus eine gewisse Vornehmheit aus, aber im Inneren war es schäbig und renovierungsbedürftig. Vor ihm die Haustür. Daneben befanden sich ein Anschlagbrett, ein Haufen Mäntel und Taschen. Zu seiner Linken lag das Fernsehzimmer. Die älteren Kinder schauten sich ein Autorennen an, während die jüngeren vergeblich Zeichentrickfilme zu sehen verlangten.

Die Haustür öffnete sich. Da er nicht wollte, dass Susan ihn sah, rannte er die Treppe hinauf in den ersten Stock, ein langer Korridor gesäumt von Zimmern. Hinter einer der Türen hörte irgendwer Duran Duran. Eine andere Tür wurde geöffnet, und Mr. Cook trat heraus. Er war einer der Angestellten, die im Haus wohnten. Er lächelte Michael an. Sein Puttengesicht, der helle Bart und die leuchtend rote Strickjacke verliehen ihm das Aussehen eines zu groß geratenen Teddybärs. »Hast du dich von Sean verabschiedet?«

»Ja.«

»Du bist bestimmt traurig. Willst du drüber reden?« Seine Stimme war herzlich, sein Gesichtsausdruck freundlich. Michael spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Jeder wusste doch, was hinter Mr. Cooks Freundlichkeit steckte. Mit finsterem Gesicht rannte er weiter hinauf zur zweiten Etage.

Sein Zimmer lag auf der Vorderseite des Hauses, geduckt unter dem Dachvorsprung. Es hatte eine niedrige Decke, zwei Betten und kahle Wände. Als er hergekommen war, hatten sie Poster aufhängen dürfen, aber jetzt nicht mehr. Irgendwas von wegen Beschädigung des Anstrichs, hieß es. Als ob es durch ein paar Streifen Tesa schlimmer werden könnte.

Sein Bett war ein Chaos von Laken und Decken. Dort, wo sich im vergangenen Jahr Seans Bett befunden hatte, war jetzt nur noch eine nackte Matratze. Das Bettzeug befand sich in der Wäsche und wurde in Vorbereitung auf den neuen Bewohner gereinigt, der nächste Woche eintreffen sollte. Ein Junge seines Alters, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnern konnte, auch wenn Susan es ihm gesagt hatte. Außerdem hatte sie gesagt, dass er dem Neuankömmling helfen müsse, sich einzuleben. Ihn in alles einweihen. Genau wie bei Sean.

Er setzte sich auf sein Bett und starrte das Fenster an. Alles, was er sah, war die Sozialsiedlung. Nach hinten war der Ausblick besser. Von Brians Zimmer aus konnte man über den Häuserreihen die Spitzen der Wolkenkratzer der Londoner Innenstadt sehen. Die City. Die magische Quadratmeile. Das Herz der englischen Finanzwelt, hatte Brian ihn aufgeklärt, wo jeden Tag riesige Vermögen gewonnen und verloren wurden.

Brian war fünfzehn. Schon bald würde er das Heim verlassen und selbst ein Vermögen machen. Brian prahlte, mit fünfundzwanzig wäre er Millionär, besäße ein großes Haus im West End und eine Villa auf dem Land, eine ganze Flotte teurer Autos, eine Garderobe nur aus Designerklamotten und habe Bedienstete, die jede seiner Anweisungen ausführten. Brian steckte voller Träume. Vielleicht würden sie sich ja verwirklichen. Ungeachtet all dessen, was er erlebt hatte, klammerte sich auch Michael an den Glauben, dass Träume manchmal wahr werden konnten.

Als Susan eine halbe Stunde später auf der Suche nach Seans Foto hereinkam, saß er immer noch dort. Seine Anwesenheit erschreckte sie. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er zurückgekehrt war.

»Was war denn mit dir?«, wollte sie wissen.

Er beachtete sie nicht.

»Du hättest da sein sollen.«

Ein Achselzucken.

»Sean war ziemlich geknickt.«

»Na und?«

»Du hättest da sein sollen. Du bist sein bester Freund.«

»Mir doch egal.«

Der Anblick seines Rückens machte sie ärgerlich. »Das war gemein von dir. Ihm all diese Lügen über die Andersons zu erzählen.«

»Das waren keine Lügen.«

»Du hast ihm richtig Angst gemacht. Du weißt doch genau, dass er jedes Wort glaubt, das du ihm sagst.«

»Ist doch nicht meine Schuld. Blödes Baby. Saublödes Scheißbaby!«

Hier wäre eigentlich ein Tadel am Platz gewesen, aber sie brachte es nicht übers Herz. Sie verstand die Gründe für seine Wut, auch wenn sie nichts dagegen tun konnte.

»Es muss doch nicht das Ende sein«, sagte sie behutsam. »Ihr könnt euch immer noch besuchen.«

»Na klar! Canterbury liegt ja gerade mal die Straße runter. Ich kann nach der Schule zu Fuß hingehen!«

Er drehte sich zu ihr um. Sie musterte sein Gesicht: Die schwarze Mähne, die strengen Gesichtszüge, die für einen zehnjährigen Jungen viel zu alt wirkten, und die anklagenden blauen Augen, die ihr immer ein schlechtes Gewissen machten. Ein zorniges Gesicht, in dem nichts Attraktives war. Jenny, eine der Sozialarbeiterinnen, glaubte, dass er sich zu einem gut aussehenden jungen Mann entwickeln und ein ziemlicher Herzensbrecher werden würde. Sie hoffte es. Gutes Aussehen war ein Vorteil, und Kinder wie Michael brauchten jeden Vorteil, den sie kriegen konnten.

Es war inzwischen sechs Uhr geworden. Ihre eigene Familie würde bereits auf sie warten. »Ich muss jetzt los. Kommst du klar?«

Er drehte sich wieder zum Fenster. »’türlich.«

Sie wollte es nicht einfach so dabei bewenden lassen. Er brauchte sie, trotz all seiner gespielten Tapferkeit. Doch das galt auch für ihre Familie.

Wo, dachte sie plötzlich, sind all die unfruchtbaren Paare, die ein Kind suchen, um es bei sich aufzunehmen und mit ihrer Liebe zu überhäufen? Sie wusste, dass es sie gab. Aber sie wusste auch, dass die meisten ein Neugeborenes oder einen süßen kleinen Jungen wie Sean wollten, der noch unbeschädigt genug war, um auf diese Liebe zu reagieren. Nur wenige wollten ein Kind wie Michael, ein Kind, das irgendwie durch alle Maschen gefallen war und die Welt mit Augen anstarrte, die jahrhundertealt waren, voller Misstrauen und den dunklen Schatten der Vernachlässigung.

»Wenn du willst, kann ich noch ein bisschen bleiben.«

Wieder ein Achselzucken.

Sie fühlte sich mies, wenn auch nicht mehr ganz so wie früher. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, Distanz zu wahren, alles nicht zu nah an sich heranzulassen. Andernfalls würde es ihr das Herz brechen.

»Ich bin morgen hier. Wir reden nach der Schule, okay? Du hast ihn nicht verloren, Mike. So weit weg ist Canterbury auch nicht.«

»Mir doch egal.«

»Nein, das stimmt nicht.«

Sie verließ das Zimmer. Er blieb auf dem Bett sitzen, starrte weiter das Fenster an.

Als in dieser Nacht alle schliefen, lief er fort.

Nachdem er ein paar Kleidungsstücke und die wenigen Dinge, die er behalten wollte, zusammengepackt hatte, schlich er sich nach unten. Während er sich leise durch die Dunkelheit tastete, hörte er das eine oder andere Seufzen eines Schlafenden, ansonsten war alles still. Das Heim war immer voller Lärm. Manchmal glaubte er, es treibe ihn in den Wahnsinn, aber jetzt empfand er die Abwesenheit jedes Geräuschs als unheimlich.

In der Diele wühlte er in den Schultaschen und stopfte seine Habe in eine, die größer war als die seine. Dann ging er von Zimmer zu Zimmer. Die vordere und hintere Tür würden abgeschlossen sein. Auch die Fenster sollten eigentlich verriegelt sein, aber er wusste, dass dies häufig übersehen wurde. Im Fernsehzimmer fand er, wonach er suchte, und kletterte hinaus in die Nacht.

Er ging durch fast leere Straßen, deren Häuser so dicht gedrängt standen, dass sie aussahen, als würden sie sich erdrücken. Er kam an dem Laden an der Ecke vorbei, in dem er Süßigkeiten und Comics gestohlen hatte, und an der alten Kirche mit dem verfallenen Friedhof, von dem er Sean erzählt hatte, es spuke dort. Straßenlaternen und gelegentlich Licht aus einem Fenster beleuchteten seinen Weg. Die Nacht war kalt und still. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, befanden sich meist auf dem Nachhauseweg aus den Pubs und beachteten ihn nicht weiter, außer einem Mann mittleren Alters, der mit seinem Hund spazieren ging und sich umdrehte und ihm nachstarrte. Michael beschleunigte seinen Schritt, beeilte sich, das Licht und den Lärm der Mile End Road zu erreichen.

Aber auch diese Straße kam jetzt allmählich zur Ruhe. Bis auf ein paar Autos, die entweder in Richtung Essex fuhren oder in die City und weiter zu den bis tief in die Nacht geöffneten Clubs mit Alkoholausschank im West End, war die riesige Durchgangsstrecke leer. Auch auf den Bürgersteigen waren kaum Menschen zu sehen, da die Pubs und Restaurants geschlossen hatten. Was jetzt noch an Leben herrschte, versammelte sich um eine Hand voll Imbissbuden und Nachtcafés.

Es begann zu regnen. Er ging in eines dieser Cafés, ein kleines, freundliches Lokal, in dem es nach fettigem Essen roch, wo Fotos von Filmstars an der Wand hingen und leiser Jazz aus ramponierten Boxen tönte. Der Duft machte ihn hungrig. Auch wenn er zum Abendbrot nichts gegessen hatte, wollte er seine geringe Barschaft nicht zu sehr angreifen, deshalb kaufte er sich nur eine Coke und eine Tüte Chips, bevor er sich an einen Tisch in der Ecke ans Fenster setzte, um zu warten, dass der Regen aufhörte.

In dem Moment, als Joe Green wieder aus der Küche kam, bemerkte er den Jungen.

Er stieß seinem Neffen Sam in die Rippen, der den Kopf in ein Musikmagazin vergraben hatte. »Ist das Kid da allein reingekommen?«

»Welches Kid?«, fragte Sam, ohne aufzuschauen.

»Wie viele Kids sind denn hier?«

Sam hob den Kopf, nickte und widmete sich wieder seinem Magazin.

Der Junge hatte die Chips aufgegessen und trank jetzt einen Schluck. Sein Anblick rührte Joe. Er sollte nicht mehr allein unterwegs sein. Nicht so spät in der Nacht.

Das Café war fast leer, die einzigen anderen Gäste waren zwei junge Leute, die lachten, während sie sich Pizza und Fritten schmecken ließen. Joe vermutete, dass sie Studenten vom Queen Mary College waren, auf dem Heimweg nach einer Party. Immer wieder wanderte der Blick des Jungen zu ihnen. Joe erriet den Grund dafür. Er kehrte in die Küche zurück, lud Pommes frites auf einen Teller und ging dann zu dem Tisch in der Ecke. Der Bürgersteig vor dem Lokal war mit Abfall übersät, und er nahm sich vor, später alles noch wegzukehren.

Er räusperte sich. »Was dagegen, wenn ich mich setze?«

Der Junge starrte ihn misstrauisch, ja fast feindselig an. Joe lächelte. »Und?«

Keine Antwort. Joe fasste das Schweigen als Zustimmung auf, setzte sich und schob dem Jungen den Teller zu. »Mein Abendessen. Ich schaff’s nicht allein. Willst du was?«

Der Junge sah zuerst den Teller, dann Joe an. Seine Augen waren immer noch argwöhnisch. Joe lächelte. »Na los. Dir werden sie besser schmecken als mir.«

Der Junge griff nach einer Fritte. Er kaute sie langsam, dann nahm er sich noch eine. Sein Blick blieb unverwandt auf Joe gerichtet. Beunruhigende Augen; aufgewühlt und voller Zorn. Joe deutete auf den Teller. »Schmeckt’s?«

Der Junge nickte.

»Will ja nicht, dass mein Lokal einen schlechten Ruf kriegt. Willst du Ketchup?«

Noch ein Nicken. Joe griff nach der Plastiktomate in der Mitte des Tischs und drückte etwas Soße an den Rand des Tellers. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Wie heißen Sie?«

»Joe Green. Für dich einfach Joe Sir.«

Die Augen wurden etwas sanfter. »Blöder Name.«

»Und wie heißt du?«

Keine Antwort. »Der Mann ohne Namen«, sagte Joe. »Genau wie Clint Eastwood. Wo willst du hin, Clint?«

»Michael«, sagte der Junge plötzlich.

»Michael oder Mike?«

»Mir egal.«

»Also dann, Mike. Wo willst’n hin, Mike?«

Der Junge zuckte die Achseln.

»Irgendwo musst du doch hinwollen. Ist schon nach zwölf. So spät ist niemand mehr unterwegs, es sei denn, mit irgendeinem Ziel.«

Der Junge senkte den Blick, griff nach einer weiteren Fritte und tunkte sie in das Ketchup.

»Wissen deine Mum und dein Dad, dass du hier bist?«

»Hab niemanden.«

Joe pfiff leise. »Tut mir Leid, Mike. Echt.«

Der Junge zuckte wieder mit den Achseln. An seiner Unterlippe hatte er einen Klecks Ketchup. Joe unterdrückte den Impuls, seine Hand über den Tisch zu strecken und es wegzuwischen. »Es ist spät, Mike. Weißt du nicht, wohin du sollst?«

Keine Antwort.

»Solltest jetzt nicht mehr allein unterwegs sein. Nicht in deinem Alter. Hast du keine Unterkunft?«

»Es gibt da ein paar Leute. Die Andersons. Die wohnen in Canterbury. Die haben ein großes Haus mit Garten.« Der Junge starrte auf den Tisch. »Die wollen, dass ich bei ihnen wohne. Haben gesagt, ich krieg ein eigenes Zimmer und alles, was ich sonst noch so will. Da könnte ich hin.«

»Klingt gut.«

»Da könnte ich hin«, wiederholte der Junge. Er schluckte. »Wenn ich wollte.«

»Allerdings schon ein bisschen spät, um jetzt noch hinzugehen«, meinte Joe.

Ein Nicken.

»Und, was willst du stattdessen machen? Ganz allein herumspazieren?«

»Vielleicht.«

»Ja, vielleicht.«

Joe lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster. Draußen auf dem Bürgersteig war jetzt nur noch eine einsame Gestalt in einem schmutzigen Mantel unterwegs, die mit einer ganzen Sammlung Plastiktüten die andere Straßenseite entlangschlurfte. Ein Obdachloser. Jemand ohne Zuhause und ohne Ziel. Joe sah den Jungen wieder an. »Die Welt da draußen ist ganz schön hart. Zu hart für einen Jungen wie dich.«

Keine Antwort. Joe hob das Kinn des Jungen an und sah ihm in die Augen.

»Hör zu, Mike. Ich weiß nicht, woher du kommst oder wovor du wegläufst. Wenn du mir’s nicht erzählen willst, dann ist das allein deine Sache. Aber glaub mir, alles ist besser als ganz allein dort draußen zu sein.« Er unterbrach sich kurz, lächelte freundlich. »Findest du nicht auch?«

Zuerst nichts. Dann nickte der Junge langsam.

»Also«, fuhr Joe fort. »Kannst du irgendwohin?«

Für einen Moment waren die Augen des Jungen voll verzweifelter Sehnsucht. Dann wurden sie so ausdruckslos wie Glas. Ein weiteres Nicken.

Der Teller war leer. Joe sah auf seine Uhr. »Immer noch hungrig?«

»Ja.«

»Wir machen erst in einer halben Stunde zu. Ich glaube, wir haben noch was Schokoladenkuchen über. Was würdest du sagen, wenn ich dir ein Stück hole? Anschließend bringe ich dich dorthin zurück, wohin du musst. Du solltest nicht allein durch die Gegend laufen. Nicht so spät in der Nacht.«

Der Junge nickte.

»Du bleibst jetzt hier sitzen. Bin sofort zurück.«

Joe verschwand in der Küche. Es war noch Kuchen übrig. Er schnitt eine dicke Scheibe ab.

Doch als er an den Tisch zurückkehrte, war der Junge fort.

Michael kletterte durch das Fenster des Fernsehzimmers wieder ins Heim. Er stellte die Tasche an ihren Platz in der Diele zurück und schlich dann die Treppe hinauf.

In seinem Zimmer setzte er sich in der Dunkelheit aufs Bett. In der Hand hielt er eine kleine Taschenlampe. Er griff unter die Matratze, holte einen kleinen Gegenstand hervor und hielt ihn ins Licht.

Es war ein schäbiges Foto, das einen erheblich jüngeren Sean zeigte, der mit seiner Mutter in einem Garten stand. Die große, schlanke blonde Frau hatte die gleichen zarten Gesichtszüge wie ihr Sohn. Sie lächelte in die Kamera, war noch glücklich und gesund, bevor der Krebs kam und sie bei lebendigem Leib auffraß.

Sean hatte noch andere Aufnahmen seiner Mutter besessen, aber dieses war sein Lieblingsfoto gewesen, dasjenige, bei dem er immer noch in Tränen ausbrach. In den ersten Wochen hatte er nur geweint. Die anderen Kinder, die bereits gelernt hatten, Schwäche zu verachten, hatten ihn schikaniert. Sean, verängstigt und allein, hatte bei der Person Schutz gesucht, die ihm am nächsten war. Der Junge, mit dem er sich ein Zimmer teilte.

Zuerst war Sean Michael gewaltig auf die Nerven gegangen. Ein Schatten, den er nicht abschütteln konnte. Doch als aus den Wochen Monate wurden, war aus Verärgerung Zuneigung geworden. Sean hatte seine Stärke gebraucht, also war er für ihn stark gewesen und hatte seine eigenen Ängste und Nöte hinter einer Maske von Selbstsicherheit verborgen. Das dem Jungen dadurch vermittelte Gefühl von Sicherheit hatte ihm dieser mit einer unkritischen Bewunderung belohnt, wie sie für Michael neu war.

Jetzt war Sean fort. Unterwegs zu einem neuen Zuhause und einem neuen Leben. Sean hatte geweint, bevor er ging, hatte Angst gehabt vor dem, was die Zukunft wohl bringen mochte. Sean war ein Baby gewesen, das immerzu Schutz brauchte. Ein Mühlstein um seinen Hals. Michael war froh, dass er ihn endlich los war.

Er fragte sich, was Sean jetzt wohl machte. Vielleicht hatten die Andersons ihn in einen Keller gesperrt, genau wie er es Sean erzählt hatte. Er hoffte es. Ihm gefiel die Vorstellung von Sean in der Dunkelheit, verängstigt und ganz allein, ohne ihn.

Genau wie er sich jetzt fühlte.

Er starrte das Foto an. Sean hatte schreckliche Angst, dass es womöglich für immer verschwunden sein könnte. Michaels Hand schloss sich darum, war bereit, es in kleine Stücke zu reißen.

Aber er brachte es nicht fertig.

Stattdessen kamen die Tränen, gegen die er den ganzen Tag angekämpft hatte. Er weinte völlig lautlos. Tränen hatten nur dann eine Bedeutung, wenn es jemanden gab, der sie sah, und hier war niemand.

Er legte das Foto an seinen Platz zurück. Morgen würde er es Susan geben, ihr sagen, er habe es gefunden, und sie bitten, es nach Canterbury zu schicken.

Er knipste die Taschenlampe aus, legte sich auf sein Bett und starrte in die Dunkelheit. Er erinnerte sich vage an jemanden in einem der zahllosen Pflegeheime, der ihm sagte, er brauche keine Angst vor der Dunkelheit zu haben, weil Gott dort lebe.

Über die Jahre hatte man ihm eine Menge Unsinn erzählt, alles ein Haufen Scheiße.

In der Stille seines Zimmers wartete er darauf, dass der Schlaf endlich kam.

Am nächsten Tag gab er Susan das Foto, damit sie es Sean schicken konnte. Wenn aber in den darauf folgenden Wochen Briefe aus Canterbury eintrafen, riss er sie in Stücke.

Der Schützling

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