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3. KAPITEL
ОглавлениеDienstagmorgen. Die vierte Unterrichtsstunde war soeben zu Ende gegangen.
Jonathan saß an seinem Pult, hatte seinen Aufsatz vor sich liegen und sah zu, wie der Rest der Klasse aus dem Zimmer drängelte, um möglichst schnell die einzige Freistunde der Woche genießen zu können. Nicholas Scott, der als Letzter ging, verdrehte die Augen, bevor er auf den Gang hinaustrat.
Mr. Stewart, der Geschichtslehrer, wischte gerade die Tafel sauber. Wolken aus Kreidestaub wirbelten durch die abgestandene Luft des Klassenzimmers. Mr. Stewart war ein großer, athletisch gebauter Mann Ende zwanzig, dessen markantes, kantiges Gesicht beinahe als gut aussehend zu bezeichnen war. Sein Arm bewegte sich locker über die Tafel, als würde er sich gerade fürs Speerwerfen aufwärmen. Als er fertig war, setzte er sich an seinen Katheder und gab Jonathan ein Zeichen näher zu kommen.
»Wegen deines Aufsatzes«, begann er.
Jonathan, der schon ahnte, was kommen würde, wand sich.
»Er war hervorragend, Palmer. Eine erstklassige Leistung.«
Jonathan spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Danke, Sir.« Aus seiner Stimme sprach eine Mischung aus Stolz und Verlegenheit.
»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Ehre, wem Ehre gebührt. In der Bibliothek steht mindestens ein dutzend Bücher über die Virgin Queen, und du scheinst sie alle gelesen zu haben.«
»Nicht alle, Sir« widersprach Jonathan bescheiden.
Mr. Stewarts braune Augen blickten ihn aufmunternd an. In seinem Universitätsblazer ähnelte er eher einem älteren Aufsichtsschüler als einem Mitglied des Lehrkörpers. Er war einer der wenigen Lehrer, die keine Robe trugen. »Ist Geschichte dein Lieblingsfach?«, fragte er.
Jonathan nickte.
»Warum?«
Aus dem Mund seines Geschichtslehrers fand er diese Frage ziemlich überraschend. »Es macht mir einfach Spaß, Sir.« »Warum macht es dir Spaß?«
»Weil es so aufregend ist.«
»Was findest du am aufregendsten? Die Kriege? Die Fehden?«
Jonathan war versucht, einfach Ja zu sagen, aber er mochte Mr. Stewart und wollte ehrlich zu ihm sein. »Nein, Sir. Es ist mehr als das. Es ist... Es lässt sich schwer in Worte fassen.«
»Versuch es trotzdem.«
Lächelnd zuckte Jonathan mit den Achseln, ohne etwas zu sagen.
»Versuch es, Palmer. Ich würde es gern wissen.«
»Weil es mir so lebendig vorkommt.«
»Lebendig? Inwiefern?«
»Es liegt an den Menschen, über die ich etwas erfahre. Die großen Geister der Geschichte. Wenn ich etwas über ihr Leben lese, ihre Leistungen, all die Gefahren, die sie bestehen mussten...« Er schwieg einen Moment, versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Sie haben nicht bloß existiert. Sie haben ihr Leben wirklich gelebt. Allein schon, wenn ich über sie lese, fühle ich mich irgendwie lebendig.«
Mr. Stewart lehnte sich zurück und lächelte Jonathan an. »Ich weiß, was du fühlst. Als ich zur Schule ging, konnten meine Freunde nie verstehen, was mich so an Geschichtsbüchern faszinierte. Für sie war Geschichte tote Materie, aber für mich war sie lebendiger als alle anderen Fächer.«
»Das stimmt. Es ist, wie wenn man eine Erzählung liest, bloß interessanter, weil es tatsächlich passiert ist.«
»Du liest viel, nicht wahr?«
Er nickte eifrig. »Ständig.«
»Das merkt man an deinen Arbeiten. Womit beschäftigst du dich gerade?«
»Mit einem Buch über den Mann mit der eisernen Maske.« »Ist es gut?«
»Phantastisch! Ich habe am Sonntag damit angefangen und den ganzen Nachmittag gelesen. Das ist die beste Art, einen Sonntagnachmittag zu verbringen.«
»Weil es dir hilft, die Freuden des Montagmorgens zu vergessen?!«
»Weil es mir hilft, ganz und gar zu vergessen, dass ich hier sein muss!«
Er hielt abrupt inne, weil ihm bewusst geworden war, was er da eben gesagt hatte. Beschämt senkte er den Blick und starrte auf seine Schuhe hinunter. Sie mussten dringend geputzt werden. In der Ferne konnte er Schüler des dritten Jahrgangs französische Verben aufsagen hören.
»Ist es das, was du möchtest, Palmer? Vergessen, dass du hier bist?«
»Nein, Sir.«
»Bist du sicher?«
»Ja, Sir.«
Er blickte vorsichtig hoch. Mr. Stewart musterte ihn eingehend, aber sein Blick war mitfühlend. In den Augen des Lehrers brannte eine Frage, aber Jonathan wusste, dass er sie nicht stellen würde. Manche Fragen wurden in Kirkston Abbey einfach nicht gestellt.
»Mit der Zeit wird es besser«, sagte Mr. Stewart plötzlich. »Wenn du in die höheren Jahrgänge kommst. Je älter du wirst, desto besser wird es. Ich weiß, dass das jetzt kein großer Trost für dich ist, aber es ist tatsächlich so.«
Diese Worte, die so nett gemeint waren, berührten bei Jonathan einen wunden Punkt. Er spürte einen Kloß im Hals. »Glaubst du mir nicht?«
Jonathan nickte.
Mr. Stewart spürte sein Widerstreben. »Aber?«
»Das hat Paul Ellerson auch immer gesagt, Sir.«
Der Name, der mittlerweile so selten erwähnt wurde, hing wie ein Bleigewicht in der Luft. Jonathan hörte Mr. Stewart scharf einatmen. Eine Weile schwiegen sie beide.
»Dein Aufsatz war hervorragend, Palmer«, sagte der Lehrer schließlich. »Wirklich hervorragend.« Er lächelte schwach. »Tut mir Leid, wenn ich dich aufgehalten habe. Aber jetzt nichts wie raus mit dir!«
»Ja, Sir. Danke, Sir.« Er wandte sich ab und steuerte auf die Tür zu, aber bevor er das Klassenzimmer verließ, drehte er sich noch einmal um und sah Mr. Stewart an, der noch immer an seinem Katheder saß und gedankenverloren ins Leere starrte.
Mr. Stewart hatte Paul Ellerson gemocht. Alle hatten Paul Ellerson gemocht. Jetzt aber erwähnte niemand mehr seinen Namen. Nicht nach dem, was passiert war. Jetzt war es, als hätte Paul Ellerson nie gelebt.
Schnell drehte Jonathan sich um und eilte auf den Gang hinaus, als müsste er vor den heftigen Gefühlen davonlaufen, die in seinem Inneren zu toben begannen.
Die Bibliothek von Kirkston Abbey, ein großer, eichenvertäfelter Raum im ersten Stock des Hauptgebäudes, dessen Fenster auf die Rugbyfelder und die Kirche hinausgingen, war an diesem Tag fast leer. Nur ein paar Fünftklässler saßen lachend an einem der Tische. Von der Bibliotheksaufsicht war weit und breit nichts zu sehen.
Jonathan ging an den Fünftklässlern vorbei in Richtung Theologieabteilung der Bibliothek, besser bekannt als »Elefantenfriedhof«: eine Nische mit einem Fensterplatz, versteckt in der äußersten linken Ecke des Raums.
Bis 1942 hatte der Religionsunterricht im Lehrplan von Kirkston Abbey eine zentrale Rolle gespielt. Reverend Johnson, der Hausgeistliche, war ein Vertreter der harten Schule gewesen. Der festen Überzeugung, dass junge Menschen für die Verlockungen des Teufels besonders empfänglich seien, hatte er seine Unterrichtsstunden dem Studium der in der Bibliothek gesammelten kirchlichen Schriften gewidmet und seinen Schülern zusätzlich in den düstersten Farben geschildert, welche Qualen einen Sünder in der Hölle erwarteten. Immer wieder hatte er sie ermahnt, zu Gott zu beten, damit er ihren unwürdigen Seelen gnädig sei.
1942 war Gott den Jungen von Kirkston Abbey tatsächlich gnädig. Reverend Johnson besuchte einen Bruder in London und kam bei einem Luftangriff ums Leben. Seinem Nachfolger, Reverend Potter, ging es weniger darum, die Seelen seiner Schüler zu retten, als um ein ruhiges Leben. Mit dem Studieren kirchlicher Texte war es von da an vorbei. Die Unterrichtsstunden bestanden nun aus Zusammenfassungen der wichtigsten Teile der Bibel mit deutlichen Hinweisen auf die Abschlussprüfung am Schuljahresende. Die meisten theologischen Bücher in der Bibliothek hatte schon seit Jahren keine menschliche Hand mehr berührt. Die Religionsabteilung war daher ein idealer Ort für Leute, die allein sein wollten.
Jonathan steuerte zielstrebig auf diese Abteilung zu.
Doch auf dem Platz am Fenster saß schon Richard Rokeby, das Kinn auf die Hände, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster. Seine Augen folgten ein paar Regentropfen, die träge an der Scheibe hinunterrollten.
Bei seinem Anblick fühlte sich Jonathan wie ein Eindringling. Rasch wandte er sich ab, um wieder zu verschwinden, bevor seine Anwesenheit bemerkt wurde.
Gleichzeitig aber drängte ihn eine innere Stimme, etwas zu sagen. Er ignorierte sie. Richard Rokeby würde bestimmt keine Lust haben, mit ihm zu reden. Aber die Stimme war hartnäckig.
Sag etwas. Irgendwas, bloß um ein Gespräch in Gang zu bringen. Du wolltest doch mit ihm reden. Das ist deine Chance.
Eigentlich wäre er viel lieber gegangen, aber er wusste, dass er sich später dafür verachten würde. Als er sich Richard zuwandte, war er so nervös wie bei einer wichtigen Prüfung.
»Hallo, Rokeby.«
Richard schien ihn nicht zu hören. Er versuchte es noch mal, diesmal lauter. »Hallo, Rokeby.«
Diesmal reagierte Richard. Er zuckte leicht zusammen, ehe er sich zu ihm umwandte. Seine Augen wirkten so feindselig, dass Jonathan sofort der Mut verließ und er das Erstbeste sagte, was ihm einfiel. »Du bist nicht am Lesen, oder?«
»Sieht es danach aus?«
Jonathan versuchte seine Verlegenheit mit einem kurzen Lachen zu kaschieren.
»Ich...« Krampfhaft überlegte er, wie er anfangen könnte. »Ich wollte dir danken.«
»Mir danken?«
»Wegen letzter Woche. Dafür, dass du mir bei der Übersetzung geholfen hast.«
Wortlos starrte ihn Richard an. Er hatte das Gefühl, seine Anwesenheit rechtfertigen zu müssen. »Ich komme mit den Sätzen, die Ackerley mir aufgibt, nie klar. Ich war wirklich dankbar für deine Hilfe.«
Richard zuckte mit den Achseln. »Vergiss es.« Er wandte sich wieder dem regennassen Fenster zu. Für ihn schien die Unterhaltung beendet zu sein.
Jonathan rührte sich nicht von der Stelle, scharrte mit den Füßen auf dem Boden herum und zermarterte sich das Gehirn, was er sonst noch sagen könnte. Als Richard merkte, dass er immer noch da war, drehte er sich erneut zu ihm um. »Was willst du denn noch?«, fragte er gereizt.
Nichts, sagte Jonathan. Zumindest hätte er das gesagt, wenn die Frage, die ihn so brennend interessierte, nicht aus ihm herausgeplatzt wäre, bevor er etwas dagegen tun konnte.
»Warum redest du eigentlich nie mit jemandem?«
Richards Augen weiteten sich kaum merklich. »Was geht dich das an?«
»Nichts.«
»Wieso fragst du dann?«
»Weil ich es wissen möchte.«
»Warum?«
»Weil es keinen Sinn ergibt. Nicht bei jemandem wie dir.« »Jemandem wie mir?«
»Du könntest jede Menge Freunde haben, wenn du nur wolltest.«
»Freunde?« Richard starrte ihn ungläubig an. »Freunde«, wiederholte er mit einer Stimme, die sowohl verächtlich als auch amüsiert klang.
»Warum nicht?«
»Verschwinde, Palmer.«
»Aber warum nicht?«
Richard atmete schwer. »Sei so gut und verschwinde einfach!«
»Warum willst du denn keine Freunde?« Er klang allmählich frustriert. »Warum hasst du uns alle? Was stimmt mit uns nicht?«
»Ihr seid alle Schafe.«
»Ich bin kein Schaf!«, widersprach Jonathan, plötzlich voller Entrüstung.
Richard sah ihn wortlos an, aber aus seinem Blick sprach Verachtung. Er zog eine Augenbraue halb in die Höhe. »Ich bin kein Schaf!«
»Doch, bist du schon!«
»Nein, bin ich nicht!« Er spürte, wie sein Gesicht vor Zorn heiß wurde.
»Natürlich bist du das! Du und alle anderen hier. Ihr tut, was die Schule euch befiehlt. Ihr seid alle Schafe.«
»Das stimmt nicht!«
»Natürlich stimmt es. Keiner von euch kann eigenständig denken. Diese Schule ist voller Zombies! In euch allen steckt ungefähr so viel Leben wie in Paul Ellerson!«
»WAG ES JA NICHT, ETWAS ÜBER PAUL ELLERSONZU SAGEN!!«
Die Wut in seiner Stimme überraschte ihn mehr als Richard. Sein Herz raste. »Wag es ja nicht, etwas über Paul Ellerson zu sagen!«, wiederholte er in beherrschterem Tonfall. »Niemals!«
»Warum nicht?«, fragte Richard. Plötzlich wirkten seine ernsten Augen interessiert. »Warum nicht? Warum sollte ich nicht über ihn reden?«
»Lass es einfach bleiben!«
»Warum?«
»Weil du absolut nichts über ihn weißt!«
»Aber du schon?«
»Jedenfalls mehr als du.« Er schluckte. Seine Kehle war plötzlich sehr trocken.
»Wieso?«
»Weil er der Sprecher meines Hauses war.«
»Das weiß ich«, erwiderte Richard ungeduldig. »Das hat doch nichts zu sagen.«
»Ich war ihm letztes Jahr als Hilfskraft zugeteilt.«
»Weißt du, warum er es getan hat?«
Jonathan wollte nicht über dieses Thema reden. Es war gefährlich, davon anzufangen. Am liebsten wäre er auf der Stelle gegangen. Aber Rokeby schien ihn mit seinem hypnotischen Blick festzuhalten.
»Ich kannte ihn nur vom Sehen«, sagte Richard sanft. »Wie war er?«
»Nicht so wie die anderen. Er war kein Schaf. Über alle anderen kannst du sagen, was du willst. Aber Paul Ellerson war anders.«
»Inwiefern?«
Plötzlich stürmten Erinnerungen auf Jonathan ein, Erinnerungen, die er zu verdrängen versucht hatte, weil sie zu schmerzhaft gewesen waren. Auch jetzt kämpfte er noch gegen sie an, aber es war, als würde er versuchen, eine Flut mit bloßen Händen aufzuhalten.
Und mit den Erinnerungen kamen endlich auch die Tränen.
Beschämt und über seine Schwäche erschrocken drehte er sich um und stürmte aus der Nische. Rasch durchquerte er die Bibliothek und lief an den Fünftklässlern vorbei, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um ihn zu beachten. Er erreichte die Tür, riss sie auf und rannte prompt zwei Jungen in die Arme.
»Kannst du nicht aufpassen?«, rief der eine von ihnen so laut, dass die Fünftklässler zu lachen aufhörten und neugierig zur Tür blickten.
Jonathan sah sich Courtney und Fisher gegenüber, die wie er zum vierten Jahrgang gehörten, aber in eine andere Klasse gingen. Er murmelte eine Entschuldigung und versuchte sich an ihnen vorbeizuschieben.
»Er heult!«, rief Courtney aus.
»Nein, tu ich nicht.« Wieder versuchte er sich an ihnen vorbeizuschieben. Aber Courtney hatte sich inzwischen breitbeinig vor ihm aufgebaut und versperrte ihm den Weg. Er war ein großer, brutal aussehender Junge mit riesengroßen Ohren, die nahezu rechtwinklig von seinem Kopf abstanden. »Er heult!«, rief er noch einmal. »Seht euch das an!«
»Ich heule nicht!«, widersprach Jonathan, und sein Herz begann zu rasen. In seinem Rücken spürte er die Blicke der Fünftklässler, die ihre Arbeit inzwischen völlig vergessen hatten und sich mit leuchtenden Augen auf die Aussicht freuten, gleich eine ordentliche Rauferei zwischen zwei Viertklässlern präsentiert zu bekommen. Zum dritten Mal versuchte sich Jonathan an Courtney vorbeizudrängen.
Aber Courtney versperrte ihm noch immer den Weg. Aus seinen eng beieinander liegenden Augen, die ein wenig an die eines Schweins erinnerten, sprach eine Mischung aus Verachtung und Schadenfreude. Ihm war mittlerweile ebenfalls aufgefallen, dass sie Zuschauer hatten, und er begann, für sie eine Show abzuziehen. »Und wie du heulst!«, verkündete er laut und versetzte Jonathan dabei einen Schubs, sodass er nach hinten stolperte und gegen das Eck des Tisches stieß, an dem ihre Zuschauer wie gierige Aasgeier saßen.
»Warum weinst du denn, du kleine Tunte?«
»Lass ihn in Ruhe«, sagte eine Stimme hinter Jonathan. Richard Rokeby hatte seine Nische verlassen und beobachtete die Szene.
»Verpiss dich, Rokeby!«, entgegnete Courtney abschätzig. »Ich habe gesagt, lass ihn in Ruhe.«
Courtney schenkte ihm keine Beachtung, boxte stattdessen Jonathan auf den Ellbogen. Es war ein so harter Schlag, dass Jonathans ganzer Arm davon taub wurde.
»LASS IHN IN RUHE, ELEFANTENBABY!«
Courtney erstarrte.
Einer von den Fünftklässlern stieß einen leisen Pfiff aus.
Courtney hörte das Geräusch. Er warf einen kurzen Blick zum Tisch hinüber, ehe er sich Richard zuwandte. »WIE HAST DU MICH EBEN GENANNT?«
»Du hast es doch gehört«, antwortete Richard gelassen. Courtney trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe dich etwas gefragt, Rokeby!«
Jonathan, der zwischen den beiden stand, erstarrte vor Angst. Richard aber zeigte keine Spur von Furcht. Er trat ebenfalls einen Schritt vor.
»Du bist doch nicht taub, oder, Courtney?« Er begann zu grinsen. »Ausgerechnet du.«
»Nein, ich bin nicht taub!«
»Dann ist es ja gut. Wäre ja auch schlimm, wenn jemand, der geistig so weit zurückgeblieben ist wie du, zusätzlich noch eine zweite Behinderung hätte.«
Im Hintergrund kicherte jemand.
Wieder warf Courtney einen schnellen Blick zum Tisch hinüber. Aus seiner Miene sprach noch immer Wut, aber auch eine Spur von Unbehagen. »Du hältst jetzt besser das Maul, Rokeby!«, sagte er in scharfem Ton.
»Oder was?«
»Oder er stopft es dir!«, antwortete Fisher, der sich mit diesem Einwurf zum ersten Mal am Gespräch beteiligte.
»Liebe Güte, das Ding kann sogar reden! Ich dachte schon, es wäre nur zur Zierde da!« Richards Blick schweifte verächtlich über Fisher hinweg und kehrte dann wieder zu Courtney zurück. »Und wie hast du vor, mir das Maul zu stopfen?«
»Das wirst du schon sehen!«
»Nein, sag es mir!« Richard trat noch einen Schritt vor. Dabei lächelte er breit, und seine Augen funkelten. »Wie wirst du es machen? Hast du vielleicht vor, mir ein blaues Auge zu verpassen? Oder die Nase einzuschlagen?« Er begann zu lachen. »Oder wäre ein dickes Ohr in dem Fall vielleicht passender?«
Im Hintergrund wieder Gekichere, diesmal nicht nur von einer Person – jetzt kicherte schon der ganze Tisch.
Die Wut auf Courtneys Gesicht war inzwischen einem Ausdruck der Verwirrung gewichen. »Halt endlich die Klappe!«, sagte er, so scharf er konnte, »oder ich schlag dir die Zähne ein!«
»Reg dich nicht auf, Courtney. Sonst fangen deine Ohren noch zu schlackern an, und wenn dein Mund noch mehr heiße Luft produziert, besteht die Gefahr, dass du abhebst.«
Das Kichern im Hintergrund schlug in lautes Lachen um. Courtney, der mittlerweile völlig aus dem Konzept geraten war, fiel keine passende Antwort ein. Er klappte den Mund auf und wieder zu wie ein nach Luft schnappender Fisch.
In diesem Augenblick wurde die Tür der Bibliothek aufgerissen. Mr. Huntley, der Geografielehrer, kam mit großen Schritten in den Raum, eine Pfeife zwischen den nikotingelben Zähnen. »Was ist denn das hier für ein Lärm?«, schimpfte er und blies dabei Wolken beißenden Rauchs in die Luft. »Wir sind hier in der Bibliothek und nicht im Aufenthaltsraum! Fünfte Klasse, zurück in euer Klassenzimmer!«
Widerwillig standen die Fünftklässler auf, sammelten ihre Bücher ein und steuerten auf die Tür zu.
Mr. Huntley starrte die vier Jungen an, die neben dem Tisch standen. »Was habt ihr hier zu suchen?«, bellte er.
»Wenn ihr nicht arbeitet, dann seht zu, dass ihr hier rauskommt!« Er machte eine Handbewegung in Richtung Tür.
Courtney, der sichtlich erleichtert war, ohne völligen Gesichtsverlust den Rückzug antreten zu können, machte Anstalten zu gehen. »Du bist so gut wie tot!«, flüsterte er Richard zu.
»O ja, sicher!«, antwortete Richard verächtlich.
»Wart’s ab!«, zischte Courtney, bevor er Fisher durch die Tür folgte, die ihnen Mr. Huntley aufhielt.
»Ihr beide auch«, sagte Mr. Huntley mit einem strengen Blick auf Jonathan und Richard.
»Aber wir haben hier noch zu tun, Sir«, erklärte Richard. »Wir arbeiten an einem Geschichtsthema. Mr. Stewart hat uns hergeschickt, damit wir uns ein paar Bücher dazu ansehen.«
»Wirklich?« Mr. Huntleys Blick wirkte misstrauisch.
»Fragen Sie Mr. Stewart, wenn Sie uns nicht glauben«, antwortete Richard. »Er ist gerade in seinem Klassenzimmer.«
Mr. Huntley schüttelte den Kopf. »Dann macht weiter, aber bitte leise!« Mit diesen Worten marschierte er hinaus.
Jonathan und Richard blieben in dem plötzlich still gewordenen Raum allein zurück. Jonathans Herz pochte, als sei er gerade ein paar Kilometer gerannt. »Du hättest nicht so gemein zu Courtney sein sollen«, sagte er zu Richard.
»Warum nicht?«
»Weil er es dich büßen lassen wird.«
»Nein, wird er nicht.«
»Doch, bestimmt. Du hast gehört, was er gesagt hat.«
»Das war bloß Gerede. Er schikaniert nur Leute, die Angst vor ihm haben. Er würde es nie wagen, sich mit jemandem anzulegen, der zurückschlagen könnte.«
»Du hättest diese Dinge trotzdem nicht zu ihm sagen sollen.« Nach einer kurzen Pause fügte er verlegen hinzu: »Danke.«
Richard, der die Tür im Auge behalten hatte, wandte sich zu ihm um. Plötzlich hatte Jonathan das Gefühl, dass ihn der andere Junge zum ersten Mal wirklich wahrnahm. Aus dem Chaos seiner Gefühle kristallisierte sich eine einzige Empfindung heraus – die einer inneren Verbindung –, die genauso schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war. Zurück blieben eine Stille, die Jonathan gar nicht mehr peinlich vorkam, und ein Selbstvertrauen, das es ihm erlaubte, die Dinge zu sagen, die ihm wirklich wichtig waren.
»Ich wünschte, ich könnte so sein wie du. Ich würde alles dafür geben, so zu sein wie du.«
Richard sah ihn neugierig an. »Tatsächlich?« Und nach einer Pause: »Warum?«
Errötend senkte Jonathan den Blick. »Wegen der Dinge, die du tust.«
»Was für Dinge meinst du?«
»Alles. Alles, was du tust. Alles, was du sagst. Die Art, wie du eben mit Courtney oder letzte Woche mit Ackerley gesprochen hast. Die Frechheit, mit der du vor versammeltem Auditorium aus der Aula spaziert bist. Ich würde alles dafür geben, auch so mutig zu sein.«
»Du hältst mich für mutig?«
»Ja! Ich meine, ich könnte nie so mit Ackerley reden wie du.«
»Klar könntest du.«
Jonathan schüttelte den Kopf.
»Doch, du könntest. Wenn du ihn genug hassen würdest.« Überrascht starrte Jonathan ihn an. »Aber ich hasse ihn doch!«
»Nein, das tust du nicht.«
»Natürlich hasse ich ihn!«
Richard schüttelte den Kopf. »Nein, du hasst ihn nicht. Du wünschst dir seine Anerkennung. Du möchtest, dass er gut über dich denkt. Mir dagegen ist es völlig egal, wie er über mich denkt. Das ist der Unterschied zwischen uns. Es hat nichts mit Mut zu tun.«
»Aber ich hasse ihn wirklich«, wiederholte Jonathan beharrlich. »Ich hasse die Art, wie er ständig auf mir herumhackt.«
»Dann musst du ihn das spüren lassen. Du musst ihm zeigen, dass du ihn hasst und dass er dich durch nichts umstimmen kann.« Richards Miene verfinsterte sich. »Mein Gott, wenn er über mich solche Bemerkungen machen würde...«
»Aber das würde er nie tun«, entgegnete Jonathan leise. »Nicht über dich. Das ist der wahre Unterschied zwischen uns.«
Plötzlich trat ein Licht in Richards Augen – ein wärmeres Licht, als Jonathan es je zuvor gesehen hatte. Richard öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann hielt er inne. Sein Gesicht verwandelte sich in eine Maske. Abrupt wandte er sich ab und starrte zu den Fenstern auf der anderen Seite der Bibliothek. Der Regen hatte aufgehört, und an seine Stelle war eine blasse Herbstsonne getreten.
Die Glocke läutete zum Mittagessen. Jonathan wusste, dass Nicholas und die Perrimans vor dem Speisesaal auf ihn warteten. »Ich muss gehen. Danke, dass du zu mir gehalten hast.«
Richard würdigte ihn keines Blickes. Verletzt wandte Jonathan sich ab.
»Palmer.«
Eifrig drehte er sich zu Richard um. »Was ist?«
»Du möchtest, dass die Leute dich mögen. Du möchtest dazupassen und dazugehören. Das ist deine Schwäche. Genau daraus ziehen Ackerley und alle anderen ihre Stärke. Du musst lernen, sie und alle, wofür sie stehen, zu hassen. Auf diese Weise wirst du stark. Nur so gewinnst du.«
Jonathan lächelte wehmütig. »Wenn du das sagst, klingt es so einfach.«
»Es ist einfach.«