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1. KAPITEL
ОглавлениеNorfolk, Oktober 1954
Alles hat seinen eigenen Anfang. Das längste Buch beginnt mit einem einzigen Wort, die längste Reise mit einem einzigen Schritt.
In Kirkston Abbey bestand der erste Schritt in einem unerwarteten Akt der Freundlichkeit: einem Fleck perfekten Blaus, der das Grau eines Oktobertags erhellte. Bald würde dieses Blau matt werden, es würde verderben und verrotten und seine Fäulnis über den ganzen Himmel verbreiten.
Die Morgenandacht näherte sich ihrem Ende. Das Gotteshaus der Schule hallte wider vom Klang dreihundert jugendlicher Stimmen, die die Schönheit eines der erbaulichsten englischen Kirchenlieder zwar mindern, aber nicht völlig zerstören konnten:
»Bring me my bow of burning gold! Bring me my arrows of Desire!
Bring me my spear! O Clouds, unfold! Bring me my chariot of fire!
I will not cease from mental fight,
Nor shall my sword sleep in my hand, Till we have built Jerusalem,
In England’s green and pleasant land.«
Das Lied war zu Ende.
»Lasset uns beten!«, intonierte Mr. Howard, der Schuldirektor, von seinem Platz vor dem Chorgestühl. Die Schüler knieten nieder. Mit einem dumpfen Geräusch lehnten sich hunderte von Körpern gegen die Kanten der Holzbänke.
»Herr, blicke herab auf uns, deine Diener, die wir heute hier versammelt sind. Gib uns die Kraft, dein Werk zu tun und deine Gebote zu befolgen, heute und alle Tage. Im Namen von Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.«
»Amen«, wiederholten die Schüler.
Dreißig Sekunden Schweigen. Eine Gelegenheit zu beten, wehmütig an das gerade zu Ende gegangene Wochenende zu denken oder wegen nicht gemachter Hausaufgaben in Panik zu geraten.
Die Orgel setzte wieder ein. Der Klang von Toccata und Fuge erfüllte die Kirche. Die Schüler erhoben sich und begannen hinauszuströmen. Haus für Haus, Reihe für Reihe, wobei jeder Junge sich nach vorn wandte und respektvoll in Richtung Altar nickte, bevor er den Gang entlangschritt und in den klaren Herbstmorgen hinaustrat.
Von der Kirche aus strömten sie auf das Hauptgebäude der Schule zu. Jungen in schmucken blauen Blazern, auf denen das Schulwappen prangte, grauen Hosen mit scharfen Bügelfalten und auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen. Eine Masse geordneter Uniformität, belebt durch die Farbflecken der Aufsichtsschüler, denen es gestattet war, Jacken ihrer eigenen Wahl zu tragen. Der Wind pfiff über die flache Landschaft und durch die Äste der Buchen zu beiden Seiten des Weges. Es war ein bitterkalter, salziger Wind, der vom fünf Kilometer nördlich gelegenen Meer blies.
Weiter vorn teilte sich der Weg. Ein Teil der Jungen bog auf einen Pfad ein, der auf den Wald und zwei Wohngebäude zuführte, Heatherfield und Monmouth, die versteckt zwischen den Bäumen lagen. Der Rest folgte dem Weg an den Rugbyfeldern vorbei auf das Haupthaus zu, ein riesiges viktorianisches Gebäude, das trotz seiner gotischen Architektur unter dem weiten Himmel Norfolks klein wirkte. Eigentlich handelte es sich um zwei Bauten, die durch einen Kreuzgang miteinander verbunden waren. Das Gebäude auf der rechten Seite beherbergte die Klassenzimmer und die Aula. In dem linken Gebäude waren zwei weitere Wohnbereiche untergebracht: Abbey House und Old School House.
Die Jungen strömten in ihre jeweiligen Häuser, um die Bücher zu holen, die sie für die Unterrichtsstunden dieses Vormittags brauchen würden.
Jonathan Palmer, ein Schüler im vierten Jahr, schob sich zusammen mit den anderen Jungen aus Old School House durch den Kreuzgang in Richtung Klassenzimmer.
Er war ein schlanker, gut aussehender Junge mit hellbraunem Haar und feinen Gesichtszügen. Drei Monate zuvor war er vierzehn Jahre alt geworden.
Jonathan ging an der Aula vorbei und folgte dann einem langen Gang. Um ihn herum drängelten und schubsten sich Jungen, die Neuigkeiten austauschten, sich gegenseitig hänselten und die letzten Reste ihrer Wochenendenergie aufbrauchten, bevor der Schultrott wieder begann. In der Luft hing der Geruch von Bohnerwachs. Zu beiden Seiten des Ganges lagen Klassenzimmer. Jedes hatte einen Namen, der in goldenen Lettern auf die Tür gemalt war: Drake und Walpole, Pitt und Melbourne – die glorreichen Namen, die dazu beigetragen hatten, Großbritannien Größe zu verleihen.
Er betrat das Klassenzimmer Melbourne, dessen kalte weiße Mauern Reihen ramponierter Doppelpulte beherbergten, die wie Käfige wirkten. Die Käfige füllten sich gerade mit Jungen. Einige unterhielten sich mit ihren Nachbarn, andere starrten auf ihre Bücher oder ins Leere. Alle warteten auf den Beginn der ersten Unterrichtsstunde, einer Lateinstunde. Die Wände hallten von den Kommentaren wider, die sie schon die letzten hundert Jahre gehört hatten und auch noch weitere hundert Jahre hören würden:
»...so ungerecht! Jeder weiß, dass ich besser bin, aber sein Bruder ist Captain, und deswegen haben sie statt mir ihn genommen ...«
»... ich bin nicht dazu gekommen, die Mathe-Hausaufgabe zu machen. Kann ich sie von dir abschreiben...?«
»...du hast ja keine Ahnung, wie es ist, mit ihm das Zimmer zu teilen!...«
»... und mein Vater hat gesagt, wir dürfen nach London fahren und uns eine Show ansehen...«
Jonathan setzte sich an seinen üblichen Platz. An der Wand vor ihm hing ein Bild der Königin. Um den Patriotismus der Schule zu demonstrieren, war es im Vorjahr anlässlich der Krönung aufgehängt und seitdem noch nicht wieder abgenommen worden. Jonathan hatte jenen Tag mit seiner Mutter und ihren Nachbarn verbracht. Sie hatten sich alle zusammen in das einzige Haus in der Straße gedrängt, in dem es einen Fernsehapparat gab. Es war das erste Mal gewesen, dass er überhaupt ferngesehen hatte.
Der Platz neben ihm blieb leer, ebenso wie das Doppelpult vor ihm: die Plätze von Nicholas Scott und den Perriman-Zwillingen, die in Monmouth House wohnten. Ohne die drei fühlte sich Jonathan hilflos und verletzlich. Er starrte auf das schmuddelige Stück Papier hinunter, auf dem er versucht hatte, die Sätze zu übersetzen, mit denen sie sich in den nächsten vierzig Minuten beschäftigen würden. Bei den meisten war er gescheitert, aber das machte nichts. Nicholas würde alle Sätze richtig haben. Er hatte die Lateinhausaufgabe immer richtig.
Die Oberfläche seines Pults war mit tief in das Holz eingeritzten Namen und Daten übersät. Mit seinen schlanken Fingern fuhr er die Linien nach: John Forrest, 1937, Peter Ashley, 1912, Charles Huntley, 1896. Jungen, die längst zu Männern herangewachsen waren und ihre Schultage weit hinter sich gelassen hatten.
Noch immer strömten Jungen in das Klassenzimmer. Der Lärmpegel stieg an. Richard Rokeby kam mit ein paar Büchern unter dem Arm herein und steuerte auf seinen Platz am Fenster zu. Aus dem hinteren Teil des Klassenzimmers schossen James Wheatley und George Turner mit Papierkügelchen auf Colin Vale, der vergeblich versuchte, ihnen mit einem Lachen die Freude an ihrem Bombardement zu verderben.
Stephen Perriman betrat das Klassenzimmer, gefolgt von seinem Bruder Michael. Sie ließen sich an dem Doppelpult vor Jonathan nieder und starrten ihn aus ihren blassblauen Augen an.
»Wo ist Nick?«, fragte er.
Michael tat, als müsste er sich übergeben.
»Er hat gestern Abend zu kotzen angefangen«, erklärte Stephen. »Wir haben ihn auf die Krankenstation gebracht. Sie glauben, dass er sich irgendeinen Bazillus eingefangen hat.«
Jonathan verließ der Mut. Er machte sich natürlich wegen Nicholas’ Gesundheitszustand Sorgen, aber noch mehr war er wegen des Zustands seiner Übersetzung besorgt.
»Wir haben versucht, die Sätze hinzukriegen«, sagte Michael zu ihm, »ist uns aber nicht besonders gut gelungen.« »Wir?«, rief sein Bruder.
Jonathan bemerkte, dass sich über Stephens rechtem Auge ein kleiner Bluterguss bildete. »Wo hast du denn den her?«
»Wir sind gestern Abend von der Fünften überfallen worden. Sie waren eigentlich hinter denen aus der Dritten her, aber die hatten sich verbarrikadiert.«
»Sie haben das Bettzeug von unseren Betten gerissen«, fügte Michael hinzu »und dann wollten sie mit den Wäschekörben Autoskooter spielen. In den einen haben sie Julian Archer gesetzt, und in den anderen wollten sie mich stecken, aber Stephen hat gesagt, er stelle sich statt meiner zur Verfügung. Es war ein solcher Lärm, dass Mr. Soper aufgetaucht ist. Die aus der Fünften sind durch die Waschräume abgehauen, aber Stephen und Julian saßen noch in den Körben. Mr. Soper hat sie rausgelassen und Stephen gefragt, was los gewesen sei.«
»Hast du es ihm gesagt?«, fragte Jonathan.
Stephen starrte ihn an, als sei Jonathan nicht ganz richtig im Kopf. »Na klar! Als ob du es sagen würdest, wenn Wheatley und seine Gang eines Abends beschließen, sich an dir abzureagieren.«
Jonathan drehte sich nach James Wheatley um, der noch immer mit leuchtenden Augen Colin Vale mit Papierkügelchen traktierte. Noch immer versuchte Colin so zu tun, als mache es ihm nichts aus, aber als ihn eine der Kugeln ins Auge traf, schien er den Tränen nahe. Jonathan spürte, wie Wut in ihm hochstieg.
Gleichzeitig war da aber noch ein anderes Gefühl, für das er sich ein bisschen schämte. Wenigstens trifft es nicht mich. »Lass uns die Sätze vergleichen«, schlug Stephen vor.
Sie wollten gerade damit anfangen, als Mr. Ackerley mit wehender Robe hereinrauschte. Sofort herrschte Ruhe im Klassenzimmer.
Mr. Ackerley, ein großer Mann mit stechenden, tief liegenden grauen Augen und einem bleichen Patriziergesicht, ließ den Blick über die Klasse schweifen. An dem leeren Platz neben Jonathan blieb er hängen. »Wo ist Scott?«
»Er ist krank, Sir«, erklärte Stephen.
»Verstehe. Ich nehme an, ihr habt alle eure Hausaufgaben gemacht.«
»Ja, Sir«, antwortete die Klasse im Chor. Einige Stimmen klangen überzeugter als andere.
»Gut.« Er ließ sich an seinem Katheder nieder. »Schlagt eure Bücher auf Seite 56 auf.«
Jonathan tat, wie ihm geheißen. Verwirrt starrte er auf ein Diagramm sich überschneidender Dreiecke. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er das falsche Buch mitgebracht hatte. Er spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Ausgerechnet in der Lateinstunde musste ihm dieser Fehler passieren. Seine eigene Dummheit verfluchend, meldete er sich.
Mr. Ackerley, der gerade mit der Unterrichtsstunde beginnen wollte, bemerkte die hochgereckte Hand. »Was ist, Palmer?«
»Es tut mir leid, Sir. Ich habe mein Buch vergessen. Kann ich es schnell holen?«
Die strengen grauen Augen verdrehten sich gen Himmel. »Du weißt doch, was für eine Stunde das ist, Palmer, oder?« »Ja, Sir.«
»Warum hast du dann das falsche Buch mitgebracht? Für die Lateinstunde braucht man das Lateinbuch. Das ist doch nicht so schwierig, nicht einmal für jemanden wie dich.«
Hinter Jonathan kicherte jemand. Er spürte, wie er rot wurde. Es war besser, sich eine Antwort zu verkneifen, aber das Wissen, dass Mr. Ackerley keine so große Sache daraus gemacht hätte, wenn es sich um jemand anderen gehandelt hätte, brachte ihn dazu, sich zu verteidigen. »Ich habe versehentlich mein Mathebuch mitgenommen, Sir. Es hat die gleiche Farbe und Größe wie das Lateinbuch, sodass einem dieser Fehler ziemlich leicht unterlaufen kann.« Während er sprach, wurde ihm bewusst, dass sein Yorkshire-Dialekt immer deutlicher hervortrat, und er wünschte, er hätte den Mund gehalten.
»Mein Gott, Palmer, hör auf, mit dieser blöden Stimme vor dich hinzujammern. Kein Mensch interessiert sich für deine Erklärungen!« Mr. Ackerley hielt nach einem leeren Sitzplatz Ausschau. »Setz dich neben Rokeby.«
Jonathan erhob sich mit hochrotem Kopf. Er hasste das Gefühl, von allen angeglotzt zu werden. Michael Perriman lächelte ihm mitfühlend zu.
Er ging nach vorn zu dem Doppelpult, an dem Richard Rokeby allein saß und durch das Fenster auf die Felder hinter der Schule hinausstarrte.
Richard Rokeby war der Einzelgänger der Schule, ein Junge, der alle anderen mit kaum verhohlener Verachtung behandelte. Er hatte keine Freunde, sprach mit so wenig Leuten wie möglich und schien sich selbst zu genügen.
Dieses Verhalten war Jonathan immer seltsam erschienen. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass solche Einzelgänger die Welt auf Distanz hielten, weil sie an Minderwertigkeitskomplexen litten. Sie wusste das, weil sie es in einer ihrer Zeitschriften gelesen hatte. Jonathan war sicher, dass sie Recht hatte, konnte sich aber schlecht vorstellen, weswegen sich Richard Rokeby minderwertig fühlen sollte. Er war ausgesprochen intelligent, äußerst selbstsicher und – wenn er sich schon einmal dazu herabließ, es unter Beweis zu stellen – bemerkenswert redegewandt.
Sein auffallendstes Merkmal aber war sein gutes Aussehen. Er war groß und athletisch gebaut, hatte blau-schwarzes Haar, markante schöne Gesichtszüge und tief liegende, stechend blaue Augen, die die Welt mit verächtlichen Blicken bedachten, in denen immer auch etwas Herausforderndes lag.
Jonathan ließ sich neben Richard nieder und lächelte ihn verlegen an. Richard antwortete mit einem desinteressierten Nicken, schob sein Lateinbuch in die Mitte des Doppelpults und starrte dann wieder zum Fenster hinaus.
Mr. Ackerley ließ den Blick übers Klassenzimmer schweifen. »Upton, übersetze den ersten Satz.«
Die Stunde begann. Adam Upton, ein eifriger Junge, hielt sich an die bei Übersetzungen übliche Vorgehensweise: Er las ein lateinisches Wort vor, nannte seine englische Entsprechung und machte so weiter, bis der ganze Satz übersetzt war. Alle anderen zappelten währenddessen ängstlich auf ihren Plätzen herum und hofften, nicht als Nächster dranzukommen. Jonathan starrte auf seine unzureichenden Übersetzungsversuche. Er war sicher, dass er aufgerufen werden würde, und betete, dass es sich bei dem betreffenden Satz nicht ausgerechnet um Nummer fünf oder acht handeln würde.
Satz zwei. Colin Vale. Ebenfalls eine gute Leistung. Satz drei. Michael Perriman. Nicht ganz so gut. Michael machte Fehler und musste sich von Stephen helfen lassen, der ihn immer wieder flüsternd korrigierte. Mr. Ackerley wurde wütend. »Lieber Himmel, Perriman, du hättest das zu Hause vorbereiten sollen! Und wenn dir dein Bruder noch einmal hilft, muss er nachsitzen. Nächstes Mal machst du deine Hausaufgaben wieder ordentlich!«
Satz vier. Stuart Young. Nicht gerade brillant, aber besser als Michael Perriman.
Satz fünf. Mr. Ackerleys Blick schweifte über die Klasse. Jonathan, der auf sein Pult hinunterstarrte, spürte, wie der Blick des Lehrers in seine Richtung wanderte. Sein Körper verkrampfte sich vor Angst.
»Rokeby!«
Richard Rokeby wandte sich vom Fenster ab und sah Mr. Ackerley an. »Sir?«
»Rokeby, entschuldige, dass ich dich störe. Würdest du uns die große Ehre erweisen, den fünften Satz zu übersetzen, oder würdest du lieber weiter zusehen, wie der Platzwart das Spielfeld absteckt?« Ein paar Schüler kicherten. Mr. Ackerley neigte leicht den Kopf, als wolle er sich für den Applaus bedanken.
»Ich würde lieber dem Platzwart zusehen, Sir«, antwortete Richard Rokeby.
Wieder war Kichern zu hören, diesmal allerdings kein anbiederndes. Es verstummte sofort wieder.
»Wie bitte?«, fragte Mr. Ackerley, der offensichtlich der Meinung war, sich verhört zu haben.
»Ich habe gesagt, ich würde lieber dem Platzwart zusehen, Sir.«
Mr. Ackerley riss die Augen auf. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Hältst du das für lustig?«, fragte er. Die Schüler rutschten nervös auf ihren Plätzen hin und her, weil sie spürten, dass am Horizont Gewitterwolken aufzogen.
Richard Rokeby schien die Aussicht auf schlechtes Wetter nichts auszumachen. »Ich beantworte bloß Ihre Frage, Sir«, entgegnete er kühl. »Ich nehme doch an, dass Sie eine Antwort erwartet haben. Warum würden Sie mir sonst eine solche Frage stellen?«
»Du versuchst nicht zufällig, mich als Idioten hinzustellen, Rokeby?«, fragte Mr. Ackerley. Seine Stimme klang beängstigend ruhig.
Richard Rokeby dachte kurz nach, bevor er antwortete: »Nicht absichtlich, Sir.«
Der Rest der Klasse schnappte hörbar nach Luft. Alle warteten angespannt auf die Explosion.
Aber sie blieb aus. Stattdessen schien sich Mr. Ackerley krampfhaft zu bemühen, seinen Zorn hinunterzuschlucken. Überrascht registrierte Jonathan, dass Richard Mr. Ackerleys stechenden Blick mit einer Miene erwiderte, die deutlich machte, dass er sich von einer wütenden Stimme nicht aus der Ruhe bringen lassen würde.
»Satz fünf, Rokeby«, sagte Mr. Ackerley leise.
»Was ist damit, Sir?«, fragte Richard höflich.
»Du sollst ihn übersetzen!«
Richard seufzte leise, aber hörbar. Er starrte auf das Buch hinunter. Dann las er den ganzen Satz laut vor und präsentierte anschließend etwas, das wie eine perfekte Übersetzung klang.
»Sehr gut, Rokeby«, sagte Mr. Ackerley mit ziemlich gepresst klingender Stimme.
Richard nickte gnädig und wandte sich wieder dem Fenster zu. Mr. Ackerley wirkte plötzlich sehr wütend. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich aber anders.
Die Stunde ging weiter.
Satz sechs. Sean Spencer. In Ordnung.
Satz sieben. Henry Osborne. Eine hervorragende Leistung. Was niemanden überraschte. Henry hatte im Vorjahr den Preis für Latein gewonnen.
Satz acht. »Ein sehr schwieriger Satz«, verkündete Mr. Ackerley. »Welchen mutigen Jungen sollen wir denn dafür aufrufen?«
Diejenigen, die bereits an der Reihe gewesen waren, blickten selbstbewusst nach vorn. Alle anderen starrten auf ihre Pulte und bemühten sich, nicht aufzufallen. Jonathan spürte, wie Mr. Ackerley seinen stechenden Blick erneut durchs Klassenzimmer schweifen ließ.
Nicht ich, nicht ich, bitte, lieber Gott, nicht ich.
»Palmer.«
»Sir?« Er versuchte, selbstbewusst zu klingen, obwohl ihm vor Angst fast übel war. In solchen Situationen verließ er sich immer ganz auf Nicholas, aber Nicholas war nicht da.
»Übersetze Nummer acht.«
»Ja, Sir.« Er blickte auf die leere Stelle auf seinem Blatt. Das Papier war genauso leer wie sein Kopf.
»Mach schon, Palmer. Wir haben nicht ewig Zeit.«
Er starrte in das Buch. Die Worte, die er las, waren ihm völlig unverständlich. Der Satz hätte genauso gut auf Chinesisch dastehen können.
»Palmer, an der staatlichen Schule ist es vielleicht Brauch, auf die Frage eines Lehrers mit offenem Mund und dummem Gesichtsausdruck zu reagieren, aber hier ist das ganz bestimmt nicht üblich. Nun mach endlich!«
Kurzes Lachen. Er spürte, wie er erneut errötete und rieb sich das Gesicht. Die Haut über seinen Wangenknochen brannte. Er wünschte, er würde nicht immer so schnell rot werden.
»Wenn wir einen Satz übersetzen, Palmer, beginnen wir mit dem Subjekt. Subjekt, Prädikat, Objekt. In dieser Reihenfolge. Was ist das Subjekt dieses Satzes?«
Er starrte auf die Worte. Es schien kein Subjekt zu geben. »Los, Palmer. Du kannst nicht einfach nur dasitzen und die Augen verdrehen wie ein Fisch.«
Wieder ertönte anbiederndes Lachen.
»Das tue ich gar nicht, Sir«, sagte er. Sein Herz schlug schneller.
»Also, was ist das Subjekt?«
»Ähm ...«, sagte er, während er den Satz erneut nach dem richtigen Wort absuchte.
»Nein, Palmer, nicht ähm. Das Wort ähm kommt gar nicht vor.«
Das Lachen wurde lauter. In der letzten Reihe konnte er James Wheatley wie einen bösartigen Kobold kichern hören. Er versuchte zu raten.
»Nein, Palmer. So dumm kannst nicht mal du sein. Versuch es noch einmal.«
Während er auf die Seite hinunterschaute, bemühte er sich, das Lachen auszublenden. Die Röte schien sich von seinem Gesicht auf seinen ganzen Körper auszubreiten.
»Palmer! Ich warte!«
»Ja, Sir.«
»Also, was ist das Subjekt? Wenn du nicht einmal eine so einfache Frage beantworten kannst, dann hast du an einer Schule wie dieser nichts verloren!«
Er starrte auf die Worte vor ihm. Es konnte jedes Wort sein. Sein Herz hämmerte wie wild. Vor lauter Panik wurde ihm langsam schwindlig.
»PALMER! WAS IST DAS SUBJEKT? Ich warne dich! Wenn du es diesmal wieder nicht weißt, wirst du den Rest des Schuljahrs nichts zu lachen haben.«
Sein Blick blieb an einem Wort hängen. Er öffnete den Mund.
O Gott bitte lass es das Richtige sein bitte lieber Gott bitte lieber Gott bitte...
Es klopfte an der Klassenzimmertür.
»Herein!« rief Mr. Ackerley.
Ein Schüler der dritten Klasse trat ein und hielt Mr. Ackerley ein Stück Papier hin. »Bitte, Sir, der Herr Direktor lässt fragen, ob Sie mit den Änderungen im Stundenplan für nächste Woche einverstanden sind.«
Mr. Ackerley nahm das Blatt und studierte es. Der Drittklässler stand ruhig neben seinem Pult, ohne die angespannte Atmosphäre zu registrieren, in die er hineingeplatzt war.
Jonathan hatte plötzlich das Gefühl, als sei ihm sein Hemdkragen zu eng geworden. Vor seinen Augen schien Blut zu pulsieren, sodass er nicht richtig sehen konnte. Hinter sich hörte er seine Mitschüler flüstern, spürte ihre Blicke im Rücken. Richard Rokeby, den das alles nicht zu interessieren schien, kritzelte auf einem Stück Papier herum.
Jonathan drehte sich zu den Perrimans um. Stephen formte mit den Lippen unhörbare Worte. Vergeblich versuchte Jonathan zu verstehen, was sein Freund ihm sagen wollte. Jemand zupfte ihn am Ärmel. Jonathan achtete nicht weiter darauf und versuchte erneut, den Satz von Stephens Lippen abzulesen. Da spürte er wieder dieses Zupfen und drehte sich um.
Richard Rokeby hatte ein Stück Papier vor ihn hingeschoben. Bei den Worten, die auf dem Papier standen, schien es sich um die vollständige Übersetzung des Satzes zu handeln.
Ihre Blicke trafen sich. Richard nickte.
Der Drittklässler verließ den Raum. Mr. Ackerley wandte sich wieder Jonathan zu. »Ich warte noch immer, Palmer.«
Er starrte auf das Stück Papier hinunter. An die Stelle seiner Panik trat nun Verwirrung. War das ein Trick? Wahrscheinlich, aber er war verzweifelt genug, um nach jedem Strohhalm zu greifen. Er las das erste Wort und wartete auf den Ausbruch.
Aber er blieb aus. Er begann sich durch den Rest zu arbeiten. Als er einmal kurz aufblickte, nickte Mr. Ackerley und sagte mit enttäuscht klingender Stimme: »Richtig, Palmer.«
Er kam zum Ende des Satzes. Die Erleichterung rollte in so heftigen Wellen über ihn hinweg, dass er fast zitterte.
Die Unterrichtsstunde ging weiter. Jonathan starrte auf das Buch, während er langsam und tief durchatmete, bis sich sein Gesicht etwas abgekühlt hatte und sein Herz wieder langsamer schlug.
Satz neun. Malcolm Usher. Eine ziemlich durchwachsene Leistung. Satz zehn. Timothy Watham. Sehr flüssig. Gerade, als er mit seinem Satz fertig war, ertönte die Glocke.
Mr. Ackerley verließ rasch das Klassenzimmer. Die Schüler hatten es weniger eilig. Langsam sammelten sie ihre Bücher ein, bevor sie in die Erdkundestunde aufbrachen.
Jonathan wandte sich an Richard Rokeby und bedankte sich wortreich. »Ich hätte das nie übersetzen können! Wenn du nicht gewesen wärst... Ich bin dir wirklich dankbar. Ich bin...«
Richard Rokeby würdigte ihn keines Blickes. Er stand auf, ging an Jonathan vorbei und steuerte auf die Tür zu. Auf dem Weg dorthin wurde er von James Wheatley angesprochen, dessen gewitztes Gesicht ihm voller Bewunderung entgegenstrahlte. »He, Rokeby, das war großartig! Wie Wankerley geschaut hat! Möchtest du...« Richard würdigte auch ihn keines Blickes. Er machte sich nicht einmal die Mühe stehen zu bleiben, sodass Wheatley mit wütender, verlegener Miene zurückblieb.
Die Perrimans warteten an der Tür. Jonathan ging schnell zu ihnen. »Das war ja mal wieder typisch, dass Wankerley dir den schwersten Satz gegeben hat«, meinte Stephen, während sie auf den Gang hinaustraten. »Er hat dich wirklich auf dem Kieker.«
Jonathan nickte. Sein Blick war auf die Menge gerichtet, die sich an ihnen vorbeischob: eine Masse von Jungen in blauen Blazern, die zwischen den Klassenzimmern hin und her wuselte wie Ameisen zwischen den verschiedenen Kammern eines großen Ameisenhaufens. Die Luft war von hunderten von Stimmen erfüllt.
Es war der Klang der Schule, einer mächtigen, aus vielen Teilen zusammengesetzten Maschinerie, die reibungslos funktionierte – so, wie sie es immer getan hatte. Er selbst war ein Teil dieser Schule. Er genoss das Privileg, sie besuchen zu dürfen.
Er hasste sie.
Langsam folgte er den Perrimans in die Erdkundestunde.
In der halbstündigen Pause zwischen dem Mittagessen und dem Sportunterricht besuchte er Nicholas Scott.
Nicholas war momentan der einzige Patient der kleinen, schuleigenen Krankenstation, auf der es nach Suppe und Desinfektionsmitteln roch. Er saß in seinem Bett und las ein Buch. Seine kleinen dunklen Augen, die durch seine dicke Brille noch kleiner wirkten, leuchteten bei Jonathans Anblick auf. »Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest.«
Jonathan setzte sich auf das Bett. »Was liest du da?«
»Liebe auf Station 10.« Nicholas schnitt eine Grimasse. »Einen Krankenhausschmöker. Schwester Clark hat ihn mir geliehen. Es war das einzige Buch, das sie aufstöbern konnte.«
»Ich hätte dir was mitbringen sollen. Tut mir Leid, daran habe ich nicht gedacht.«
Er erzählte Nicholas, was passiert war. »Ich hasse Ackerley. Warum muss er ständig auf mir herumhacken? Was ist so schrecklich daran, dass ich vorher auf eine staatliche Schule gegangen bin?«
»Nichts. Keiner von den anderen Lehrern hat damit ein Problem.«
»Ich bin ja auch nicht der Einzige. John Fisher aus der Dritten ist vorher in eine staatliche Schule in der Nähe von Yarmouth gegangen. Er hat einen Akzent, mit dem man Kartoffeln ausgraben könnte, und ist in Latein schlechter als ich, aber auf ihm hackt Ackerley nicht halb so viel herum wie auf mir.« Aufgebracht trat er mit seinen Füßen gegen ein Bettbein. Erneut empfand er die ganze Demütigung, die er an diesem Morgen verspürt hatte. »Wie ich ihn hasse! Und diese verdammte Schule hasse ich auch!«
»So schlimm ist es auch wieder nicht«, meinte Nicholas besänftigend.
»Nein?«
»Der Kerl ist es doch gar nicht wert, dass du dich so über ihn aufregst, Jon.«
Er blieb seinem Freund die Antwort schuldig. Stattdessen starrte er auf seine Schuhe hinunter und musste dabei an den Tag denken, an dem sie beide sich zum ersten Mal begegnet waren.
Es war gerade mal ein Jahr her. Sein erster Tag in Kirkston Abbey: ein albtraumhafter Tag voller Besprechungen und Listen, Besichtigungsrunden und Schulglocken. Ein Tag, an dem er sich während seiner verzweifelten Bemühungen, sich an diesem seltsamen, strengen Ort, der sein neues Zuhause war, irgendwie zurechtzufinden, immer elender gefühlt hatte.
Er erinnerte sich daran, wie er damals nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet in der riesigen, zugigen Turnhalle gestanden und zitternd vor Kälte darauf gewartet hatte, gewogen und gemessen zu werden, während streng aussehende Männer mit Trillerpfeifen um den Hals irgendwelche Anweisungen brüllten. Er war einer von sechzig neuen Jungen gewesen, die sich dort versammelt hatten, aber all die anderen waren aus privaten Schulen gekommen, die sie auf diese raue, regelgebundene Welt vorbereitet zu haben schienen, während seine eigene Schule in dieser Hinsicht völlig versagt hatte. Er hatte dagestanden und gewartet, und obwohl er von so vielen anderen umringt gewesen war, hatte er sich noch nie so einsam gefühlt.
Irgendwann war ihm dann eine Gruppe von drei Jungen aufgefallen, die in seiner Nähe standen: ein kleiner magerer Junge mit einem spitzen Gesicht und dicken Brillengläsern sowie Zwillinge mit aschblondem Haar. Als der magere Junge, der seinen Blick bemerkt hatte, fragend eine Augenbraue hob, hatte sich Jonathan verlegen abgewandt. Aber als er einen weiteren Blick riskierte, hatte er gesehen, dass der Junge lächelte und ihn mit einem Winken aufforderte, zu ihnen hinüberzukommen.
Schüchtern war er dieser Aufforderung gefolgt und hatte festgestellt, dass er sich in ihrer Gegenwart sofort wohl fühlte, dass er dazuzugehören schien – so sehr, dass sie am Ende dieses verwirrenden Tages eine Einheit geworden waren, vier Freunde, die sich gegenseitig dabei helfen würden, in dieser fremden neuen Welt zu überleben.
Die Erinnerung, die ihn so unerwartet überkommen hatte, hinterließ ein warmes Gefühl in ihm, und es wurde ihm plötzlich bewusst, wie viel ihm dieser ernste, bebrillte Junge, der neben ihm saß, bedeutete. »Du musst schnell wieder gesund werden. Es macht keinen Spaß, wenn du nicht da bist.«
»Bestimmt bin ich morgen schon wieder in Ordnung«, antwortete Nicholas.
»Hauptsache, du bist Samstag wieder raus.«
»Samstag?«
»Heute Morgen in der Kirche haben sie verkündet, dass uns am Samstagnachmittag General Collinson besucht und eine Rede über den Krieg hält. Das wird sicher hochinteressant.«
»O ja, bestimmt. Wer möchte schon einen langweiligen halben Tag freihaben, wenn er stattdessen vier faszinierende Stunden lang mit General Collinson die Landung in der Normandie erleben kann.«
Sie versuchten, eine ernste Miene zu machen, hielten aber nicht lange durch. Bald prusteten sie beide los, salutierten voreinander und schnaubten verächtlich zur Melodie von »Land of Hope and Glory«.
»An meiner alten Schule«, erzählte Nicholas, »kam einmal einer vom Parlament und redete über Politik. Der Typ fand überhaupt kein Ende mehr! Er sprach den ganzen Nachmittag und hätte das auch noch den ganzen Abend getan, wenn nicht ein Erstklässler namens Peter Bowen eingeschlafen wäre.«
»Was ist passiert? Hat er zu schnarchen angefangen?«
»Nein! Es war noch viel besser. Er hatte einen Albtraum! In seinem Traum wurde er von riesigen Spinnen durch den Dschungel gejagt! Der Politiker erkundigte sich, ob wir irgendwelche Fragen hätten, und Peter Bowen fing an zu schreien: ›Rette mich, Tarzan! Die wollen mir an die Eier!‹«
Diesmal lachten sie beide so laut, dass Schwester Clark den Kopf zur Tür hereinsteckte und sie aufforderte, nicht solchen Lärm zu machen.
»Musst du nicht langsam gehen«, fragte Nicholas, als sie sich endlich wieder beruhigt hatten, »und deine Sportsachen holen?«
Jonathan warf einen Blick auf seine Uhr. »Nein, noch nicht. Warum? Möchtest du schlafen?«
»Nein. Meinetwegen könntest du den ganzen Nachmittag hier bleiben. Ich freue mich, dass du da bist.«
»Ich mich auch.«
Sie saßen ein paar Minuten lang schweigend da. Es war ein angenehmes, behagliches Schweigen.
Dann schlug Nicholas das Buch auf, das er gerade las. »Diese Stelle hier ist wirklich lustig. Hör zu ...«
Viertel nach neun Uhr abends. Jonathan drehte den Hahn zu und trat aus der Dusche. Heißes Wasser tröpfelte auf den Boden, während er nach seinem Handtuch griff. Er wickelte es sich um die Taille und durchquerte die Umkleideräume von Old School House, begleitet vom Geruch schmutziger Kleider und den Stimmen der anderen Jungen, die sich ebenfalls zum Schlafen fertig machten.
Nachdem er in Schlafanzug und Bademantel geschlüpft war, ging er den dunklen Gang entlang in Richtung Haupttreppenhaus, vorbei am schwarzen Brett, am Schrank mit den Pokalen und dem Tisch, auf dem morgens die Post lag, und stieg die Treppe hinauf. Seine Pantoffeln, die er diesen Monat neu bekommen hatte und ihm noch zu groß waren, machten auf dem kalten Steinboden ein klatschendes Geräusch.
Er erreichte den Treppenabsatz, ging an dem Gang vorbei, auf dem die Aufsichtsschüler ihre Zimmer hatten, und öffnete die Tür, die in den Schlafsaal der vierten Jahrgangsstufe führte.
Es war ein langer schmaler Raum, in dem sechzehn Betten standen, in zwei Achterreihen geordnet, jedes mit der vorgeschriebenen grünen Decke und einem kleinen hölzernen Nachttisch ausgestattet. Der Saal war noch fast leer, nur Colin Vale und William Abbott lagen schon in ihren Betten und lasen.
Er ging an den Bettenreihen entlang und trat durch die Tür auf der linken Seite in den Waschraum. Sechs Waschbecken, eine einzelne Toilettenkabine und an der Wand ein hölzernes Regalfach mit Tassen zum Abstellen der Zahnbürsten und Haken für Toilettentaschen.
Er putzte sich die Zähne, langsam und gründlich. Hinter ihm wurden Stimmen laut, und er hörte, wie mehrmals die Tür aufging und wieder zufiel. Jungen strömten in den Schlafsaal und weiter in den Waschraum. Alle trugen sie ihre Bademäntel, griffen nach ihren Zahnbürsten, holten Waschlappen aus ihren Toilettentaschen und brachten das Ritual hinter sich, das in Kirkston Abbey zur Schlafenszeit gehörte.
Jonathan ging zu seinem Bett. Er zog seinen Bademantel aus und schlüpfte unter die Decke. Das Bett war an diesem Morgen frisch bezogen worden und der Bezug so gestärkt, dass Jonathan das Gefühl hatte, unter einer Betondecke zu liegen.
Er griff nach dem Buch in der Schublade seines Nachttischs, Silas Marner, einer Pflichtlektüre für den Englischunterricht. Er versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren, war aber nicht mit dem Herzen bei der Sache. Stattdessen beobachtete er aus dem Augenwinkel, was um ihn herum geschah.
Am anderen Ende des Schlafsaals saß Stuart Barry in seinem Bett und sprach mit James Wheatley. George Turner trat zu den beiden. Stuart und George, die Bande von James. Stuart, groß, blond und auf glatte Art gut aussehend, aber ziemlich beschränkt, war ein Typ, der immer jemanden brauchte, dem er folgen konnte. George, ein riesiger, grobknochiger Junge, hatte derbe Gesichtszüge und einen dichten dunklen Haarschopf auf seinem runden Kopf. Ein Junge, der zu dumm war, um ein Führer zu sein.
James selbst war ein kleiner, drahtiger Typ mit einem klugen Lausbubengesicht und schlauen, meist boshaft dreinblickenden Augen. Im Moment wanderte ihr Blick langsam und ganz bewusst über den Schlafsaal hinweg.
Bloß keinen Blickkontakt herstellen.
Jonathan senkte den Blick und tat so, als würde er lesen. Er spürte, wie sich sein Körper verkrampfte, während er sich fragte, welche Vergnügungen James und seine Kumpane für diese Nacht planten, und ob er unfreiwillig daran beteiligt sein würde.
Er musste an einen Abend drei Wochen zuvor denken, an dem James beschlossen hatte, dass William Abbot ihn beleidigt hatte. Als alle Lichter gelöscht waren, hatten sie William aus seinem Bett gezerrt, in einen Wäschekorb gesperrt und den Korb anschließend die Feuertreppe hinunterdonnern lassen, sodass William drei Wochen lang mit Prellungen und Blutergüssen auf der Krankenstation gelegen war.
Neil Archer, einer der Aufsichtsschüler, war in den Schlafsaal gestürmt und hatte gefragt, wer dafür verantwortlich sei. Er hatte sie daran erinnert, dass es gegen die Regeln sei, einen Mitschüler derart zu behandeln, und ihnen allen mit einer Woche frühmorgendlichen Laufens gedroht, falls sich die Schuldigen nicht melden würden.
James und seine Freunde aber hatten gar nicht daran gedacht, ihr Verschulden zuzugeben, und die anderen hatten ebenfalls geschwiegen und sich auf diese Weise dazu verdammt, eine Woche lang im Morgengrauen aufzustehen und vor dem Frühstück eine Stunde über schlammige Felder zu rennen. Sie hatten den Mund gehalten, weil ihnen keine andere Wahl geblieben war.
Die einzige Regel, die in Kirkston Abbey wirklich zählte, war die, dass man niemals einen Mitschüler verpfiff, egal, was er einem angetan hatte.
Die Tür des Schlafsaals öffnete sich, und Brian Harrington trat ein. Ein großer, imposanter Junge, der Kapitän ihres Rugbyteams. Inzwischen besaß er auch noch die Autorität, die die Rolle des Haussprechers mit sich brachte. Eine Stellung, die Paul Ellerson innegehabt hatte, bis ...
Aber darüber wollte Jonathan nicht nachdenken.
Brian ließ den Blick über den Schlafsaal schweifen, während die Jungen, die noch auf waren, rasch zu ihren Betten eilten. »Gute Nacht euch allen.« »Gute Nacht, Harrington!«, antworteten sie im Chor. Brian schaltete das Licht aus und zog die dicke Holztür hinter sich zu.
Zuerst herrschte Stille. Nur der Wind war zu hören, der vom Meer herblies und an den Fenstern rüttelte.
Dann füllte sich die Dunkelheit langsam mit einem leisen Summen. Ein Teil der Jungen begann sich leise zu unterhalten. Aus Angst vor Entdeckung und Bestrafung wagten sie nur zu flüstern. Jonathan, der schweigend dalag, versuchte die Stimme von James Wheatley auszumachen und auf diese Weise in Erfahrung zu bringen, was er vorhatte. Schließlich gelang es ihm tatsächlich, das hohe Timbre zu identifizieren. Er konzentrierte sich ängstlich darauf, hörte aber zu seiner Erleichterung, dass James gähnte und Stuart eine Gute Nacht wünschte. Jonathan spürte, wie sich sein Körper entspannte. In dieser Nacht würde es keinen Ärger geben.
Zusammengerollt lag er auf der Seite und lauschte den Stimmen, die nach und nach verstummten. Immer wieder hustete, schniefte oder nieste jemand. Bettfedern quietschten. Gelegentlich rauschte das Heißwasserrohr, das an der Wand entlang verlief. Die Schwärze des vollen Schlafsaals hatte etwas Klaustrophobisches.
Jonathans Gedanken kehrten zu Paul Ellerson zurück, aber er versuchte diese Gedanken sofort wieder wegzuschieben und an etwas anderes zu denken.
Zum Beispiel daran, wie sehr er diesen Schlafsaal hasste, das Fehlen jeder Privatsphäre, das ständige Gefühl, beobachtet zu werden. Wenn er doch nur ein eigenes Zimmer hätte wie die Jungen in Abbey House. Dort gab es Einzelzimmer. Zimmer, die abschließbare Türen besaßen, sodass man Leute wie James Wheatley und George Turner aussperren konnte. Abschließbare Türen, die es einem erlaubten, friedlich zu schlafen, ohne sich ängstlich fragen zu müssen, welche Überraschung die Nacht für einen bereithielt. Er wünschte, er wäre in Abbey House. Richard Rokeby wohnte dort.
Er wälzte sich auf den Rücken und starrte zur Decke. Er musste an die morgendliche Lateinstunde denken und daran, wie Richard mit Mr. Ackerley gesprochen und James Wheatley einfach links liegen lassen hatte. Daran, wie Richard ihm, Jonathan, unaufgefordert zu Hilfe gekommen war.
Während ihm diese Dinge durch den Kopf gingen, kam ihm ein Gedanke. Der Gedanke, dass sich zwischen ihnen beiden eine Freundschaft entwickeln könnte.
Warum nicht? Die Tatsache, dass Richard ihn nach der Unterrichtsstunde ignoriert hatte, musste nichts bedeuten. Er hatte es eilig gehabt, das war alles.
Er begann, sich einen Plan zurechtzulegen. Morgen würde er ein Gespräch mit Richard anfangen. Er würde versuchen, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken, etwas über ihn zu erfahren. Eine gemeinsame Basis zwischen ihnen zu finden. Ein Fundament, auf das er aufbauen konnte.
Aber noch während er sich all das vorstellte, wurde ihm klar, dass er dabei von falschen Voraussetzungen ausging. Richard war nicht wie er. Richard brauchte keine Freunde. Er war stark. So stark, dass er allein zurechtkam.
Ebenso schnell, wie sich der Gedanke in seinem Kopf festgesetzt hatte, verflüchtigte er sich auch wieder, durchbohrt von der kalten Lanze der Logik. Übrig blieben nichts als ein Gefühl von Leere und eine kleine, schmerzhafte Sehnsucht.
Ich möchte auch so sein. O Gott, ich würde alles dafür geben, so zu sein.
Er lag auf dem Rücken, starrte in die Dunkelheit, lauschte dem Wind und der Stille, die ihn umgab, und träumte davon, weit, weit weg zu sein.