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2. KAPITEL

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Clive Howard, der Direktor von Kirkston Abbey, schaute aus dem Fenster seines Arbeitszimmers.

Die Mitglieder des Schulkadettenkorps, in ihren khakifarbenen Uniformen prächtig anzusehen, standen draußen vor den Kreuzgängen und warteten darauf, General Collinson und seine Frau als Ehrengarde zur Aula zu geleiten. Eine große Gruppe von Jungen näherte sich aus Richtung Heatherfield und Monmouth House. Sie gingen alle sehr schnell und stemmten sich dabei gegen den Wind. Er lächelte erleichtert. Alles lief nach Plan.

Er stellte sich vor den Spiegel neben der Tür und betrachtete kritisch seine Erscheinung. Er war ein großer, kräftiger Mann Ende vierzig mit bereits leicht ergrautem Haar und einem vertrauenswürdigen, freundlichen Gesicht. Beruhigt kam er zu dem Schluss, dass seine Krawatte einigermaßen gerade saß und sein Haar nicht noch ein weiteres Mal gekämmt werden musste.

Er hörte Schritte, leichte, anmutige Schritte, dann betrat seine Frau Elizabeth den Raum. Sie war zehn Jahre jünger als er, eine attraktive Erscheinung mit feinen Gesichtszügen und lebhaften Augen. An diesem Tag trug sie ein schickes blaues Kostüm, das ihre schlanke Figur gut zur Geltung brachte. Lachend drehte sie sich vor ihm. »Nimmst du mich so mit?«

Bei ihrem Anblick stieg ein Gefühl der Freude in ihm auf. Selbst nach fünfzehn Jahren Ehe konnte er es noch immer nicht fassen, dass dieses schöne, elfenhafte Wesen tatsächlich seine Frau war. »Du siehst sehr hübsch aus«, sagte er in zärtlichem Ton. »Niemand wird dir das Wasser reichen können.«

»Du siehst auch nicht schlecht aus. Bloß die Krawatte sitzt ein bisschen schief.« Sie zog sie zurecht und fuhr mit einem Finger durch sein Haar. »So ist es besser. Jetzt bist du fast präsentabel.«

Er küsste sie leicht auf die Nase. »Dann musst du dich also nicht schämen, mit mir gesehen zu werden?«

»Ein bisschen schon. Aber wir haben schließlich alle unser Kreuz zu tragen.«

Sie lachten und er küsste sie noch einmal. »Nervös?«, fragte sie ihn.

Er nickte.

»Das ist nicht nötig. Alles wird glatt gehen.«

»Ich kann nichts dagegen tun. Ich mache mir wegen allem und jedem Sorgen, seit Paul Ellerson ...«

»Das ist Vergangenheit«, schnitt sie ihm rasch das Wort ab. »Wirklich?«

»Ja!«, antwortete sie mit Nachdruck. »Hör endlich auf, dir die Schuld daran zu geben. Du hättest nichts für ihn tun können.«

»Ich war sein Direktor. Ich war für ihn verantwortlich, und ich habe ihn im Stich gelassen.«

»Du hast ihn nicht im Stich gelassen, Clive. Er war achtzehn Jahre alt und erwachsen. Alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen. Niemand hat ihn zu dem gezwungen, was er getan hat.«

»Ich habe trotzdem das Gefühl, dass ich mehr hätte tun können. Sogar noch hinterher. Großer Gott, wir haben nicht mal einen Gedenkgottesdienst für ihn abgehalten.«

»Das war die Entscheidung seiner Eltern, nicht deine.« Sie streichelte über seine Wange. »Was passiert ist, war eine Tragödie, eine schreckliche Vergeudung jungen Lebens. Aber es war nicht deine Schuld. Du warst nicht dafür verantwortlich. Du bist ein guter Mann, Clive Howard, und Kirkston Abbey kann von Glück sagen, dich als Direktor zu haben. Das solltest du nie vergessen.«

Er legte den Arm um sie und küsste sie auf die Wange. »O Lizzie, was würde ich bloß ohne dich anfangen?«

Sie lachte. Es war ein süßer Ton, wie fernes Glockengeläut. »Daran wage ich gar nicht zu denken! Aber jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen. Der Nachmittag wird – dank unserer Hilfe – ein voller Erfolg werden.«

Mit den anderen Jungen aus Old School House betrat Jonathan die Aula, einen großen, rechteckigen Saal mit hoher Decke und eichenvertäfelten Wänden, an denen die Porträts früherer Schuldirektoren und anderer Honoratioren hingen. Der Saal stand voller Holzstühle, zwischen denen in der Mitte ein Gang freigelassen war. Die Jungen aus Heatherfield und Monmouth saßen bereits auf ihren Plätzen. Als Jonathan an ihnen vorbeiging, entdeckte er Nicholas Scott und die Perrimans. Nicholas lächelte ihn an, und Michael tat, als müsse er ein Gähnen unterdrücken.

Im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinströmte, sah man Staubkörnchen durch die Luft tanzen. Jonathan ließ sich ziemlich weit vorn nieder. In seinem Sonntagsanzug fühlte er sich höchst unbehaglich, und der Gedanke an den langweiligen Nachmittag, der ihm bevorstand, deprimierte ihn. Wie gern wäre er jetzt draußen gewesen, weit weg von der Förmlichkeit dieses offiziellen Anlasses. Er blickte zu den Porträts an der Wand. Dutzende Paare kalter, stumpfer Augen starrten missbilligend auf ihn herab, als wollten sie ihn wegen seines Mangels an Gemeinschaftssinn tadeln.

Jemand rief: »Erhebt euch!« Die Schüler standen alle gleichzeitig auf.

Mr. Howard kam in Begleitung eines großen weißhaarigen Mannes in Militäruniform den Gang entlang, gefolgt von Mrs. Howard, die wie immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen hatte und eine rundliche, säuerlich dreinblickende Frau in einem Tupfenkleid eskortierte. Hinter ihnen marschierten die ganz in Khaki gekleideten Kadetten, deren Schuhe so auf Hochglanz poliert waren, dass sie fast leuchteten. Die Nachhut bildeten die anderen Lehrer, die ihre Roben angelegt hatten und zum Teil allein, zum Teil in Begleitung ihrer Frauen waren.

Das Kadettenkorps und die Lehrer stellten sich in die Reihen vor Jonathan. Die Howards und ihre Besucher gingen weiter zur Bühne, wo Stühle für sie bereitstanden. Mr. Howard nickte Mr. Ballantyne zu, dem Musiklehrer, der auf einer Seite der Bühne am Klavier saß. Er begann zu spielen, und alle zusammen stimmten die Nationalhymne an.

»God save our gracious Queen,

Long live our noble Queen,

God save the Queen!

Send her victorious, happy and glorious,

Long to reign over us,

God save the Queen!«

Alle setzten sich. Mr. Howard trat an den vorderen Rand der Bühne und sprach ein paar einleitende Worte, mit denen er sie alle daran erinnerte, was für ein Glück sie hatten, einen solch hochrangigen Redner in ihrer Mitte begrüßen zu dürfen. Jonathan, dem das Stillhalten schon jetzt schwer fiel, ließ den Blick über die Reihen wandern. Schließlich blieb er an Mrs. Jepson hängen, der Frau des Chemielehrers, die mit gespielter Begeisterung vor sich hin starrte. Jonathan fragte sich, ob sie sich wohl genauso langweilte wie er.

Dann bemerkte er Mr. Ackerley, der auf seine Füße hinuntersah und um den Mund herum ein wenig angespannt wirkte. Der Platz neben ihm war frei. Wo blieb Mrs. Ackerley?

Mr. Howard war inzwischen an seinen Platz zurückgekehrt. General Collinson erhob sich und trat vor. Applaus brandete auf.

Nachdem der General den Beifall einen Moment lang reglos zur Kenntnis genommen hatte, bat er mit einer Handbewegung um Ruhe. »Ich bin sicher«, dröhnte er, »dass ein paar von euch Jungs jetzt denken: ›Warum müssen wir einen schönen freien Nachmittag verplempern, indem wir hier sitzen und einem alten Soldaten zuhören?‹« Fragend zog er eine Augenbraue hoch. »Habe ich Recht?«

»Nein!«, ertönte es im Chor aus dem Publikum. Jonathan schwieg, hätte aber gern den Mut gehabt, »Ja!« zu antworten.

»Zweifellos«, fuhr der General fort, »sind ein paar von euch Jungs der Meinung, dass man von einem alten Knacker wie mir nichts lernen kann. Ich bin da anderer Meinung, aber ich sage immer: Ein Freiwilliger ist besser als zehn Widerwillige. Wenn also einer von euch Jungs kein Interesse hat und glaubt, die Zeit besser nutzen zu können, dann steht es ihm frei, jetzt den Saal zu verlassen.«

Im Publikum wurde spontanes Lachen laut. Den Saal verlassen? Undenkbar!

Der General hielt es offensichtlich auch für undenkbar. Er nahm sich kaum Zeit zum Luftholen, sondern öffnete sofort wieder den Mund, um weiterzureden: »Als Erstes möchte ich sagen...«

Jonathan, dessen Gedanken bereits abschweiften, ließ sich gerade in seinen Stuhl zurücksinken, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er drehte sich um, um zu sehen, was vor sich ging. Alle anderen drehten sich ebenfalls um.

Richard Rokeby war aufgestanden und schob sich an den anderen vorbei ans Ende seiner Reihe. Er trat auf den Gang hinaus und steuerte auf die Tür zu. Dabei bewegte er sich locker und selbstbewusst, mit hocherhobenem Kopf und gestrafften Schultern. Seine Augen blickten kühl geradeaus. Aus seiner Haltung sprach keine Spur von Unsicherheit, und er machte auch nicht den Eindruck, als wolle er mit seinem Tun Aufmerksamkeit erregen. Er war einfach er selber, selbstsicher und beherrscht wie immer.

Schweigen senkte sich über die Aula, das schockierte Schweigen hunderter Jungen, die gezwungen waren, ruhig dazusitzen und zuzusehen, wie einer aus ihren Reihen mit offenen Augen in sein Verderben rennt. Das einzige Geräusch, das man hörte, war das Klappern von Richards Absätzen auf dem Steinboden.

Er erreichte die große Doppeltür am Ende des Saales, trat über die Schwelle und ließ die Tür hinter sich zuschwingen. Draußen auf dem Gang wurde das Geräusch seiner Schritte langsam leiser, bis es schließlich ganz verstummte.

Absolute Stille. Eine Stille, die so lastend war, dass man sie fast körperlich spürte.

Langsam kehrten alle Blicke zur Bühne zurück. Mrs. Howard flüsterte der Frau des Generals etwas zu. Mr. Howard, dessen Gesicht so rot war wie Portwein, starrte vor sich auf den Boden, als wünsche er, von ihm verschluckt zu werden.

General Collinson stand allein am vorderen Rand der Bühne und starrte fassungslos und mit offenem Mund auf die Tür, durch die Richard Rokeby soeben verschwunden war. Er hätte selbst dann nicht überraschter dreinblicken können, wenn plötzlich Hitler in der Aula erschienen wäre, um zu verkünden, dass er aus dem Grab auferstanden sei, um eine neue Invasion zu starten.

Das Schweigen dauerte eine weitere Minute. Dann musste ein Schüler aus dem dritten Jahr kichern.

Es war ein kurzes, schrilles Lachen, eher nervös als erheitert. Der Junge befand sich im Stimmbruch, sodass sein Lachen tief begann, plötzlich zwei Oktaven hochschoss und dann wieder abfiel – und das in weniger als fünf Sekunden.

Die Aula erwachte wieder zu Leben. Ein allgemeines Flüstern begann, begleitet von mehreren, hastig unterdrückten Lachanfällen. Jonathan blickte sich um und beobachtete die verschiedenen Reaktionen. James Wheatley und George Turner bogen sich vor Lachen. Henry Blake wirkte schockiert – sein Vater war im Krieg ums Leben gekommen. William Abbott schüttelte den Kopf, als sei er davon überzeugt, dass Richard Rokeby verrückt geworden war. Einige der Lehrer flüsterten ihren Frauen etwas zu. Das Kadettenkorps starrte loyal vor sich hin.

»Ruhe!«, brüllte Mr. Howard.

Alle fuhren erschrocken zusammen, sogar der General. Jonathan verspürte plötzlich den heftigen Drang zu lachen und biss auf einen seiner Finger, um nicht loszuprusten.

Ruhe kehrte ein. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. General Collinson nahm sich zusammen. »Als Erstes möchte ich sagen...« Das Publikum versuchte zu vergessen, was passiert war, und sich auf seine Worte zu konzentrieren.

Seine Rede dauerte anderthalb Stunden. Er sprach über den Krieg, über Dünkirchen, die Landung in der Normandie und über den Mut der britischen Soldaten. »Männer, auf die ihr alle stolz sein solltet.« Er sprach über die Bedeutung von Disziplin und Engagement. Schließlich war er am Ende angelangt. »Ich hoffe, euch etwas Stoff zum Nachdenken gegeben zu haben.«

Thomas Cody, der Schulsprecher, sprang auf und rief: »Schule! Ein dreifaches Hoch auf General Collinson!« Dreimal hallte stürmisches Beifallsgeschrei durch den Saal. Dann wurde der General von Mr. Howard zum anschließenden Tee mit den Lehrern und ihren Frauen aus dem Saal geleitet. Eine Reihe Schüler nach der anderen strömte aus der Aula in die Abendsonne hinaus.

Sonntagmorgen. Die Morgenmesse war eine halbe Stunde zuvor zu Ende gegangen.

Mr. Howard stand hinter dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, ihm gegenüber stand Richard Rokeby.

Mr. Howard atmete langsam und tief durch. Er war ganz ruhig, sagte er sich, und er hatte auch vor, es zu bleiben.

Am Vorabend hatte das noch anders ausgesehen. Der Schock über das Verhalten Richard Rokebys und die drei Stunden, die er damit zugebracht hatte, den erzürnten General zu beruhigen, hatten ihn in einen Zustand größter Wut versetzt, und wenn Richard Rokeby fünf Minuten nach der Abreise des Generals vor ihm gestanden hätte, dann wären ihm die schlimmsten Prügel seines Lebens sicher gewesen.

Inzwischen aber hatte er Zeit gehabt, sich zu beruhigen, und Gelegenheit, sich von seiner Frau daran erinnern zu lassen, dass Richard Rokeby streng genommen gegen keine Regel verstoßen hatte.

Er betrachtete den vor ihm stehenden Jungen: den geraden Rücken, das stolze Kinn, die markanten, gut geschnittenen Gesichtszüge und die kalten blauen Augen, die ihn mit einer fast an Verachtung grenzenden Gleichgültigkeit musterten. Er spürte, wie sich sein Körper verkrampfte.

Dieser Junge wird immer nur Ärger machen.

Aber er arbeitete nun schon seit zwanzig Jahren als Lehrer und hatte es im Lauf der Zeit mit vielen Unruhestiftern zu tun gehabt. Er wusste, wie man mit Richard Rokeby und seinesgleichen umging.

»Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?«, fragte er.

Die kalten Augen taxierten ihn frech. »Wie meinen Sie das, Sir?«

»Diesen schnoddrigen Ton kannst du dir sparen, Rokeby. Du weißt genau, was ich meine.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, Sir, hat der General gesagt, dass es jedem Jungen, der nicht an dem interessiert sei, was« – er legte eine Pause ein, als versuche er sich zu erinnern – »ein alter Knacker wie er zu sagen habe, freistehe zu gehen.

Ich war nicht im Entferntesten an dem interessiert, was er zu sagen hatte, also bin ich gegangen.«

Mr. Howard atmete schwer, versuchte aber, sich zu beherrschen. Ein Wutanfall war keine Lösung.

Rokebys Stimme war eine höchst provokante Mischung aus extremer Höflichkeit und einem Schuss Verachtung. Wie ein mit Salz bestäubter Schokoladenkuchen.

»Rokeby, du weißt so gut wie ich, dass der General das nicht so gemeint hat.«

»Warum hat er es dann gesagt, Sir?«

»Es spielt keine Rolle, warum er es gesagt hat! Tatsache ist, dass er es nicht so gemeint hat. Eine Tatsache, derer du dir völlig bewusst warst!«

Der Junge senkte ganz leicht den Blick. Mr. Howard musste innerlich lächeln. Ein erster Fortschritt.

Dann blickte er wieder hoch. »Wollen Sie damit sagen, dass er gelogen hat, Sir?«

»Nein, das will ich damit nicht sagen! Sei nicht so verdammt impertinent! Wie kannst du es wagen... « Er nahm sich zusammen. Er würde sich nicht provozieren lassen. »Rokeby, dein Verhalten gegenüber unserem vornehmen Gast war extrem beleidigend. Du bist ein Vertreter von Kirkston Abbey, ob dir das gefällt oder nicht, und du hast die Pflicht, dich auf eine Weise zu benehmen, die ein gutes Licht auf die Schule wirft. Der General hat uns gestern Abend mit einem sehr schlechten Eindruck von der Schule verlassen, einem Eindruck, für den du allein verantwortlich bist. Was hast du dazu zu sagen?«

»Nichts, Sir.«

Erneut spürte er Wut in sich aufsteigen. Er versuchte sie zu unterdrücken. »Schämst du dich denn gar nicht?«

»Nein, Sir.«

»Rokeby, General Collinson hat für dieses Land gekämpft. Er ist ein sehr tapferer Mann, und er hat es nicht verdient, mit einem solchen Mangel an Respekt behandelt zu werden, wie du ihn gestern Nachmittag an den Tag gelegt hast.«

Richard Rokeby erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wenn Sie das sagen, Sir.«

Nein, er würde nicht die Beherrschung verlieren. Er war fest entschlossen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Aber der Blick des Jungen setzte ihm allmählich zu, dieser Blick, der sagte: »Ich verachte dich. Ich verachte alles, wofür du stehst.« Diese Impertinenz ging einfach zu weit! Man musste dem Jungen deutlich vor Augen führen, dass sein Verhalten völlig inakzeptabel war.

Er hatte es sich zur Regel gemacht, niemals Schläge unter die Gürtellinie auszuteilen, aber bekanntlich gab es ja zu jeder Regel eine Ausnahme.

»Rokeby, zahllose Männer sind ums Leben gekommen, als sie dieses Land verteidigten! Zehntausende sind in der Schlacht gefallen. Und weitere tausende, Gott hab sie selig, mussten in jenen Lagern ihr Leben lassen. Stell dir vor, dein Vater wäre einer von ihnen gewesen!«

»Mein Vater?« Ein leichter Riss in der Fassade. Eine Spur echter Überraschung.

»Ja! Dein Vater! An einem jener Orte! Als Gefangener jener Monster! Geschlagen, gequält, Gott weiß welchen Demütigungen und Gewaltakten ausgesetzt, vom Hunger ganz zu schweigen! Wie würdest du in diesem Fall über Männer wie den General denken? Wärst du dann auch noch so verdammt unverschämt zu ihm?«

Die kalten Augen weiteten sich. Der Junge öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Dann ließ er den Kopf sinken und starrte auf den Boden.

Mr. Howard beobachtete seine Reaktion mit einem unguten Gefühl. Er empfand eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Befriedigung.

»Na, was sagst du nun?«

Rokeby blickte noch immer zu Boden.

»Na?«

Langsam hob der Junge den Kopf. Mr. Howard wollte gerade den Rest seiner Strafpredigt loswerden, aber als er Rokebys Gesichtsausdruck sah, blieben ihm die Worte im Hals stecken.

In den Augen des Jungen brannte eine Wut, die aus seinen Pupillen hervorzubrechen schien, um Mr. Howard zu durchbohren.

Die Stimme, die seine Frage beantwortete, hatte nichts Gelassenes mehr. Jede Spur von Beherrschtheit war aus ihr gewichen.

»SIE WOLLEN WISSEN, WIE ICH MICH DANN FÜHLEN WÜRDE? ICH WÜRDE MICH ÜBER SEIN LEIDEN FREUEN! ICH WÜRDE MICH ÜBER SEINEN TOD FREUEN! ICH WÜRDE JEDEM FÜR SEINEN TOD VERANTWORTLICHEN DEUTSCHEN EINE MEDAILLE VERLEIHEN!!«

Einen Moment lang zuckte sein Körper, als würden ihn die heftigen Emotionen, die in ihm wüteten, gleich in Stücke reißen, aber genauso schnell, wie der Junge die Beherrschung verloren hatte, fand er sie auch wieder, und sein Körper beruhigte sich. Seine Augen, die plötzlich wieder kühl und klar wirkten, richteten sich auf sein Gegenüber.

Mr. Howard musste gegen den Drang ankämpfen, einen Schritt zurückzuweichen. Wieder schoss ihm dieser Gedanke durch den Kopf. Dieser Junge wird immer nur Ärger machen. Nun aber wurde er von einem neuen Gedanken überschattet. Einem noch düstereren, beunruhigenderen Gedanken. Dieser Junge ist gefährlich.

Mr. Howard vergaß den Rest seiner Strafpredigt. Er vergaß auch, von Rokeby eine Entschuldigung zu verlangen. Er vergaß alles außer seinem Wunsch, dieses Gespräch zu beenden.

»Rokeby, du wirst dem General einen Entschuldigungsbrief schreiben und ihn morgen früh meiner Sekretärin vorlegen. Und du wirst dich gegenüber keinem Gast dieser Schule je wieder so unverschämt benehmen. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Sir. Natürlich, Sir.«

»Das ist alles. Du kannst gehen.«

Als Richard Rokeby den Raum verließ, sah Mr. Howard ihm nach, und während er tief Luft holte, merkte er, dass sein Herz wie wild schlug.

Nach einer Minute klopfte es an der Tür, und seine Frau trat ein. »Wie ist es gelaufen?«

Er schüttelte den Kopf. »Mit dem Jungen stimmt etwas nicht. Vielleicht muss ich sogar an seinen Vater schreiben und ihn bitten, seinen Sohn von der Schule zu nehmen.«

»Warum? Clive, was ist passiert?«

Er sagte es ihr. »Wie konnte er das über seinen Vater sagen?«

»Geh nicht zu hart mit ihm ins Gericht«, antwortete sie sanft. »Du kennst doch seine Geschichte.«

»Das ist keine Entschuldigung. Wie konnte er sich nur so äußern!«

»Das ist nicht fair, Clive. Du weißt nicht, was du sagen würdest, wenn du in seiner Situation wärst.«

Er schüttelte den Kopf. »Glaub mir, Lizzie, mit dem Jungen stimmt was nicht. Er hat etwas Böses in sich. Etwas Gefährliches.«

»Er ist doch bloß ein Junge, Clive. Ein einsamer vierzehnjähriger Junge.«

»Einsam?!« Er blickte sie erstaunt an. »Das trifft es ja wohl kaum! Um Himmels willen, schließlich ist er derjenige, der alle anderen an der Schule behandelt, als wären sie Aussätzige!«

»Das heißt nicht, dass er nicht trotzdem einsam ist. Tief in seinem Innersten. Jeder Mensch braucht jemanden, Clive.«

Er lachte spöttisch. »Sogar Richard Rokeby?«

»Sogar Richard Rokeby. Man kann nicht wie ein Einsiedlerkrebs durchs Leben gehen. Wer das versucht, stirbt innerlich.«

Er wollte ihre Worte gerade mit einer Handbewegung abtun, als er in ihr geliebtes Gesicht sah und einen Moment lang versuchte, sich ein Leben ohne sie vorzustellen. Aber es gelang ihm nicht wirklich. Ein Leben ohne sie wäre kein Leben mehr, sondern nur noch ein Dahinvegetieren. Diese Erkenntnis beunruhigte ihn so sehr, dass er sofort die Arme um seine Frau legen und sie an sich ziehen musste. »Eins weiß ich ganz sicher«, sagte er leise. »Wenn ich dich nicht hätte, würde ich tatsächlich innerlich sterben. Ich könnte mein Leben ohne dich nicht weiterführen.«

In der Stille seines Arbeitszimmers küssten sie sich zärtlich.

Richard Rokeby saß in einem verwaisten Klassenzimmer und starrte vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen. Seine Aufmerksamkeit war auf eine Leinwand gerichtet, die hinter seinen Augen hing.

Auf dieser Leinwand war nur ein einziges Bild zu sehen, das Bild seines Vaters, eines gesunden, wohlhabenden Mannes, der mit sich und der Welt im Reinen war. Er konzentrierte sich auf dieses Bild, das ihm so grell wie eine Sonne entgegenleuchtete.

Und während er das tat, spürte er den Hass wie Eiseskälte aus der Tiefe seines Magens durch seinen ganzen Körper strömen. Wie ein Gift betäubte er alle anderen, komplizierteren Emotionen, in welchen Winkeln sie auch lauern mochten, und spülte sie fort.

Den Blick starr geradeaus gerichtet, atmete er langsam und tief durch. Er spürte, wie sein inneres Gleichgewicht zurückkehrte. Der Moment der Schwäche war vorüber. Er hatte sich wieder im Griff.

Er stand auf und trat auf den Gang hinaus. Wie immer bewegte er sich lässig und selbstsicher, den Kopf hoch erhoben, die Schultern gestrafft, den Blick geradeaus gerichtet.

Er kam zu den Kreuzgängen. Mehrere Gruppen von Jungen hatten sich dort versammelt und warteten auf die Glocke, die sie zum Mittagessen rufen würde. Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie sich unterhielten oder einander spielerisch anrempelten. Als Rokeby auftauchte, drehten sich alle um und starrten ihn an. Von allen Seiten wurde er mit Fragen und höhnischen Bemerkungen bombardiert: »Was ist passiert, Rokeby, was hat er mit dir gemacht? Wetten, dass er eine Tracht Prügel bezogen hat? Die hat er auch verdient, der hochnäsige kleine Arsch!« Er würdigte sie keines Blickes.

Langsam schlenderte er Richtung Abbey House weiter. Eine selbstbewusste Gestalt, arrogant, beherrscht, ihrer selbst sicher.

Und, wie immer, allein.

Das Wunschspiel

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