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Kapitel 5

Madeeha vergewisserte sich, dass Professor Moore in seinem Büro saß und schlich zum Aufzug. Im ersten Stock angekommen, nahm sie den Weg über eine Treppe, die bis in das Untergeschoss führte. Leise setzte sie einen Schritt vor den anderen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Wenn er jetzt auftaucht, wüsste ich gar nicht, was ich ihm erzählen soll. Sie schlich voran und näherte sich einem Bereich, von dem aus eine massive Tür zu erkennen war.

Kein Mensch weit und breit. Gibt es diese Leute vom Sicherheitsdienst hier überhaupt noch? Er erwähnt sie von Zeit zu Zeit, doch bekomme ich sie gar nicht zu Gesicht. Sie ging, so leise und schnell sie konnte, zurück. Im Aufzug, auf dem Weg nach oben, wurde sie aufgeregt. Wenn er in der Zwischenzeit in dem mir zugewiesenen Arbeitszimmer vorbeikam, bemerkte, dass ich nicht da war, oben vor dem Aufzug steht, auf mich wartet? Was sage ich dann? Der Fahrstuhl erreichte fast lautlos sein Ziel. Sie trat hinaus und stellte erleichtert fest, dass niemand zu sehen war. Sie huschte zurück ins Büro, nahm sich schnell Ablage und Rechnungen vor und lauschte. Ein Blick auf den Schreibtisch: Nein, er hat nicht versucht, mich zu erreichen. Sie atmete erleichtert auf. Warum wollte er verhindern, dass ich heute im Untergeschoss bin? Die Arbeit habe ich in einer halben Stunde erledigt. Warum soll ich so früh wieder nach Hause? Irgendetwas stimmt hier nicht. Sie stützte einen Ellbogen auf, fasste sich mit einer Hand ans Kinn und dachte nach. Dann widmete sie sich ihrer Arbeit. Als alles erledigt war, machte sie sich auf den Nachhauseweg.

Professor Lewis lehnte sich in dem gut gepolsterten Taxi zurück und lauschte der sanften Stimme des Navigationsgerätes. Der Fahrer stellte erst etwas leiser, dann schaltete er es aus.

„Kenne die Strecke, ist ein ziemlich hohes Gebäude, wenn mich nicht alles täuscht. Ich glaube, da bin ich schon mal hingefahren.“

Professor Lewis räusperte sich.

„Der Anrufer hat schon bezahlt, E-money-transfer, großzügiges Trinkgeld. Der kann öfter bei mir anrufen!“

Der Taxifahrer schob seine karierte Kappe in die Stirn und lachte jovial. Als er kein Echo erntete, blickte er nochmals in den Rückspiegel. Es sah ganz danach aus, dass sein Fahrgast kurzfristig eingeschlafen war. Als er wieder zu sich kam, war das Gebäude, in dem sein alter Bekannter, Professor Moore, arbeitete, schon in Sichtweite.

„Noch etwas früh, so mitten in der Nacht, wie?“

Der Taxifahrer war neugierig geworden, fragte er sich doch, was um alles in der Welt einen älteren Herrn dazu antrieb, sich um diese Uhrzeit zu einem derartigen Gebäude fahren zu lassen.

„Kann man so sehen.“

Professor Lewis gähnte demonstrativ. Der Fahrer sollte erst gar nicht auf die Idee kommen, dass er hier für ein Kurzinterview zur Verfügung stand.

Professor Moore sprach das Kürzel, das eine Kommunikationsverbindung zu Madeeha aufbaute. Sie nahm nicht ab.

„Sehr schön, auf dem Nachhauseweg.“

Er ging in den Nebenraum. Auf das Wort «open» hin, öffnete sich ein Kühlschrank. Er entnahm ihm eine Flasche Krimsekt. Dann bewegte er sich auf eine kleine Anrichte zu, über der er auf einem Regal zwei geeignete Gläser entdeckte. Als er wieder in seinem Büro war, meldete sich Frank.

„Ich stehe unten. Kannst du aufmachen?“ „Warte ein paar Sekunden, dann geht die Tür auf. Bleibe in der Vorhalle, ich komme.“

Professor Moore spürte, wie seine Spannung anstieg. Wie gut, dass mir die Idee kam, Frank anzurufen. Er drückte auf einen Schalter, die Haupteingangstür öffnete sich. Während er zum Aufzug ging, kamen Erinnerungen an seinen Besucher an die Oberfläche seines Bewusstseins. Erlebnisse seiner Studienzeit tauchten wieder auf, Szenen von Begegnungen in Harvard und London. Auch wenn Frank schließlich eine andere Laufbahn einschlug, sich später besonders in Biophysik und Bionik einen Namen machte, so zählte er doch zu der fast schon aussterbenden Spezies von Menschen, die auf vielen Gebieten der Naturwissenschaft beschlagen waren und sich, von der Höhe umfassender Allgemeinbildung aus, zu breit gefächerten Themen kompetent äußern konnten.

Unten angekommen, erkannte er ihn schon von weitem. Professor Moore beschleunigte seinen Schritt. Als er sich einem sichtlich gealterten Mann gegenübersah, war er für kurze Zeit fast gerührt.

„Danke, dass du gekommen bist, Frank!“ Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern. „Mensch, lass dich ansehen: Wie lange ist es her, seit wir uns zuletzt trafen?“

„Sieben, acht Jahre?“

„Ich glaube länger. Hauptsache, wir sehen uns endlich wieder. Komm, lass uns erst einmal hochfahren.“

Oben angekommen, trat Professor Lewis an die breite Fensterfront und blickte hinaus in die Weite. Dann sah er sich im Raum um. Sein Gastgeber deutete auf einen schweren Ledersessel.

„Komm, nimm erst einmal Platz.“

Professor Lewis konnte es immer noch nicht ganz glauben. Nun saß er hier, mitten in der Nacht einem alten Bekannten, zu dem der Kontakt abgerissen war, in einem relativ dunklen Büroraum gegenüber, weil angeblich eine «Sensation» auf ihn wartete. Er sah sich nochmals um. Eine Weltpremiere? Erlaubte John sich einen üblen Scherz?

„Warte auf mich, bin gleich wieder da.“ Professor Lewis sah ihm nach. In Gedanken überflog er einen Kalender. Nein, John hat irgendwann im Winter Geburtstag, wenn ich mich recht erinnere, das kann nicht der Grund sein. Er hörte, wie sich dessen Schritte entfernten und wie er in einem unweit gelegenen Raum hantierte. Da kehrte er schon wieder zurück. John hielt eine Flasche Sekt und zwei Gläser in der Hand, kam näher und stellte sie in Reichweite auf einen kleinen Tisch. Dann entkorkte er und goss zielsicher in beide Gläser. Frank warf einen Blick auf das Etikett – Krimsekt? – dann auf John, der ihm noch eine Erklärung schuldig war.

„Ich habe vergessen zu fragen, ob du um diese Uhrzeit Sekt trinkst.“

„Selten, John…Nun rück schon heraus mit der Sprache. Was ist los, was gibt es zu feiern?“

„Lass uns erst einmal anstoßen. Du wirst ein Glas brauchen. Nachher gehen wir nach unten, das Rätsel wird sich lösen. Du wirst sehen, ich habe nicht übertrieben.“

Nun verriet schon John’s Stimme, dass er sich in Ausnahmestimmung befand. Franks Spannung und Gefühl der Irritation wuchs. „Auf dich, Frank, auf unser Wiedersehen, auf die freie Forschung!“

Sie stießen an und nahmen einen ersten Schluck.

„Auf die «freie Forschung» sagtest du?“ John schien es, als habe er aus Franks Stimme Argwohn herausgehört. Er führte sein Sektglas erneut an den Mund und trank es zügig fast leer. Frank bemerkte dies. Was war mit John los?

„Freie Forschung: Ganz frei ist sie ja nicht, zum Glück nicht. Der Gesetzgeber zieht ihr Grenzen. Meiner Ansicht nach sollten sie manchmal deutlich enger gezogen werden.“ John winkte ab.

„Ich weiß – darin kam ich mit dir ja nie auf eine Linie. Ich will dir wahrlich nicht zu nahetreten, aber das hat natürlich auch mit deiner, hm, wie soll ich sagen? «Weltanschauung» zu tun.“

John biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass Frank zu den selten gewordenen Wissenschaftlern zählte, die noch christlich orientiert waren. Zumindest war dies vor einem Jahrzehnt so. Vermutlich war es besser, das Thema gar nicht erst zur Sprache zu bringen. Der Einstieg war etwas missglückt.

„Noch einen Schluck?“

Er wartete die Antwort nicht ab und füllte Franks Glas bis an den Rand.

„Arbeitest du hier oben, in diesem Stockwerk?“

„Ja, das heißt, auch. Nachher wirst du es sehen und verstehen. Du bist der Einzige, Frank,“ – er trank sein Glas hastig zu Ende – „zumindest zunächst, dem ich alles anvertraue.“

Frank verhielt den Atem und betrachtete möglichst unauffällig die Gesichtszüge seines Gegenübers. Bisher sprach John noch in Rätseln oder wie jemand, der unter Schlafentzug leidet.

„Du sagtest, wir gehen nach unten?“

„Ja, in einen Raum im Untergeschoss. Dort hat – seit einiger Zeit – kein Mensch mehr Zutritt.“

„Also fasse ich es erst einmal als Ehre auf. Du machst es spannend.“

Frank betrachtete erneut Johns Gesicht. Es wirkte auf ihn überspannt. Vielleicht war er einfach nur überarbeitet? Auch seine Stimme fiel ihm auf. Zuweilen hörte sie sich an, als sei sie aus dem Lot geraten. Professor Moore überprüfte den Pegelstand der Sektflasche. War es leichtfertig, Frank hierher zu bestellen? Ich habe doch die ganzen Jahre über den Mund gehalten. Andererseits, irgendwann muss es ja doch heraus. Ich werde es sowieso nicht lange geheim halten können, das würde ja auch gar keinen Sinn machen. Ob Frank noch einen Ton herausbringen wird? Und wenn er nicht Wort hält, sein Schweigen bricht?

„John? Geht es dir gut? Woran denkst du?“ Professor Moore stand auf.

„Möchtest du noch etwas essen, bevor wir nach unten gehen?“

„Du meinst, ich sollte mich vorher noch stärken? Ein Sandwich wäre nicht schlecht.“

Professor Moore entfernte sich. Sein Besucher hörte seine Schritte. Kurze Zeit später kam er mit einem großen Käsesandwich zurück.

„Danke, John. Ganz schön groß das Gebäude.“

Professor Lewis begann zu essen.

„Einige Stockwerke stehen momentan weitgehend leer. Ein Pharmazieunternehmen war früher einmal an dem Haus interessiert, aber dann zerschlugen sich die Verhandlungen, angeblich wegen zu alter Bausubstanz.“

Für einige Zeit trat Stille ein. Professor Lewis verdrückte sein vorzeitiges Frühstück. Dann gab Professor Moore das Signal und blickte seinen alten Bekannten bedeutungsschwer an. Seine Stimme klang monoton und angespannt:

„Bist du soweit? Komm, lass uns hinunterfahren.“

Ein Aufzug fuhr lautlos nach oben und hielt an. Eine Klangwelle breitete sich aus. Die beiden stiegen ein. Sekunden später waren sie am Ziel, die Tür öffnete sich, Professor Moore ging voran.

„Ganz schön dunkel hier unten.“

Professor Lewis sah sich nach beiden Seiten um.

„Warte, bin gleich wieder da.“

Professor Moore tastete sich an der Wand entlang und verschwand in einem kleinen Nebenraum.

Warum macht er kein Licht? Es dauerte eine Weile und Professor Lewis hörte Schritte. Als er in den Händen von John zwei brennende Fackeln sah, war er mehr als erstaunt.

„Ich dachte, ihr seid hier an die moderne Zivilisation angeschlossen. Funktioniert das Licht nicht? Was willst du mit FACKELN?“

Nun, da John sie in die Höhe hielt, konnte Frank sein von vielen Falten durchzogenes Gesicht besser erkennen.

„Alles klärt sich gleich auf.“

Er kam näher, blieb unmittelbar vor Frank stehen und blickte ihn durchdringend an. Auf einmal sprach er leiser, so als wolle er vermeiden, dass jemand zuhöre.

„Ich habe festgestellt, dass sie weder Neonnoch Laserlicht mögen. So kam ich auf die Idee mit den Fackeln.“

Frank trat einen Schritt zurück. Er betrachtete Johns längliches und hageres Gesicht, sein zurückgekämmtes, etwas streng wirkendes Haar.

„SIE? Wen meinst du mit SIE?“

Nun spürte Frank, wie ihn zusehends eine starke Unruhe erfasste.

„Hier entlang, wir sind gleich da.“

Vor der Eingangstür zum Labor im Untergeschoss angekommen, schob John einen Chip in ein Abtastgerät. Seine Finger bewegten sich, als tippe er etwas ein. Sekunden später öffnete sich die Tür einen Spalt und schob sich langsam und nahezu lautlos zurück. Im Inneren war es dunkel. Frank verhielt den Atem. John ging langsam voraus und hielt die Fackeln nunmehr etwas tiefer. Frank versuchte vergeblich, etwas zu erkennen. Doch langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und die ungewohnte Lichtquelle. Auf einmal hörte er Laute und erschrak.

„Ich habe etwas gehört, du auch? Was ist das? Es hörte sich seltsam an! Sag doch etwas!“

John drehte sich um und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Wir sind gleich da. Sie haben bemerkt, dass jemand kommt.“

„SIE? Wer ist SIE, John?!“

John schien seine Frage zu überhören und ging schneller. Nun waren, noch in einiger Entfernung, Geräusche zu hören, die nach Bewegung klangen. Dann hörte Frank wieder ähnliche Laute wie zuvor. Er konnte sie nicht einordnen, seine Beklemmung wuchs.

„Hier, den Gang entlang.“

Wenn seine Stimme beruhigend klingen sollte, so erreichte er nicht sein Ziel. Am Ende des Ganges angekommen, ging John nach links. Nun schien es Frank, als habe er einige Gitterstäbe erkannt. Die Geräusche wurden lauter. Woran erinnern mich dieses Gescharre, diese seltsamen Laute?

„Schließe die Augen, wir sind gleich da. Ich sage dir, wann du sie wieder aufmachen kannst. Gib mir deine Hand.“

Frank schloss widerwillig die Augen. Am liebsten hätte er wieder den Rückzug angetreten. Was kommt jetzt? John nahm ihn an der Hand und zog ihn noch ein paar Schritte weiter.

„Was du gleich sehen wirst, hat – außer mir – noch nie ein Mensch gesehen: Du kannst… JETZT… die Augen aufmachen!“

John hielt nun beide Arme weit ausgestreckt, sodass der Schein der Fackeln einen ganzen Umkreis erhellte. Frank wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück, seine Augen waren weit geöffnet. Er war bleich geworden und schnappte nach Luft.

„Was sagst du nun? Siehst du, der Schein der Fackeln irritiert sie nicht.“

Frank war, als lege sich Entsetzen wie eine Schlange um seinen Hals. Er schaute starr geradeaus, danach nach beiden Seiten. Dann blickte er, wie gebannt, durch Stabreihen in Käfige, betrachtete Gestalten, die am Boden kauerten, starr in seine Richtung schauten und seinem Blick standhielten. Ein Schrei erstickte in seiner Kehle. Der seltsam starre, durchdringende und unheimlich wirkende Blick jener Wesen hielt ihn im Griff. Frank wandte seine Augen mit Mühe ab, richtete sie auf John und stammelte:

„WER oder WAS ist das, wer sind SIE?“

Er war nochmals zurückgewichen und bemühte sich, nicht in ihre Richtung zu sehen. Nun waren wieder jene seltsamen Laute zu hören, deren Bedeutung er nicht einschätzen konnte und die anders klangen als alles, was er zuvor jemals gehört hatte.

„Du brauchst keine Angst zu haben, sie sind ja hinter Gitter.“

„Ich habe dich etwas gefragt, John! Gib mir Antwort oder zeige mir sofort den Weg zum Ausgang!“

Ihm war, als habe sich ein unsichtbares Etwas auf seine Brust gelegt und nehme ihm langsam den Atem.

„Wer SIE sind? Ich weiß noch nicht, wie ich sie nennen soll: Es ist eine neue Art!“

Frank spürte, wie sie ihn wieder ansahen, er fühlte es nahezu körperlich. Es war als hingen sie an ihm mit ihren Blicken. Erwarteten, erhofften sie etwas von ihm?

„Eine neue Art? Was sagst du da, John?!“

„Ich glaube, du hast mich gut verstanden, hast richtig gehört: Es war ein verdammt langer Weg. Wenn ich die Studienzeit hinzurechne, fast ein Vierteljahrhundert. Ich habe nie aufgegeben, trotz aller Rückschläge. Vielleicht hast du einen Vorschlag, wie ich diese Art nennen könnte? ICH bin ihr Schöpfer! Weißt du, was das bedeutet?“

„Die ART?“

Frank hatte ihn auf einmal an der Schulter gepackt und das Wort laut herausgeschleudert. Sogleich hörte er, wie die Kreaturen in den Käfigen darauf reagierten. Es hörte sich an, als fühlten sie sich gestört und würden gereizt. Klang dies eben nach Zähneknirschen?

„Du ahnst längst, was du vor dir hast. Bis jetzt sind es zwölf. Ich bin noch unschlüssig, wie ich sie taufen soll:

«MENSCH-TIER» oder «TIER-MENSCH» oder «HYBRIS ONE»? Du kannst doch Altgriechisch, Latein und – meines Wissens – auch etwas Althebräisch: Vielleicht hast du eine Idee?“

Frank bebte innerlich, sein Magen zog sich zusammen, ihm wurde speiübel. Der furchtbare Verdacht, der nach dem ersten Anblick schon in ihm aufgestiegen war und den er zunächst nicht wahrhaben wollte, John bestätigte ihn soeben in Kurzformeln.

„Schaue ruhig hin, sie müssen sich ohnehin daran gewöhnen. Es ist faszinierend, nicht wahr? Ich stehe manchmal stundenlang vor ihnen, mitten in der Nacht und sehe sie einfach nur an: Bald glaube ich «Tiere» zu sehen, doch irgendwie schauen aus ihren – soll ich «Gesichtern» sagen? – scheinbar «Menschen» hervor. Dann wieder meine ich «Menschengesichter» zu sehen, aus denen «Tiere» hervorschauen. Sie können ja nicht sprechen, geben nur diese unheimlichen Laute von sich. Kein Tier äußert sich so, aber eben auch kein Mensch. Manchmal scheint es mir, als würde eines von ihnen sagen wollen:

«Ich bin doch ein halber Mensch: WARUM kann ich nicht sprechen?»

Dann wiederum kommt es mir vor, als flüsterten sie:

«Ich bin ein Tier, warum muss ich auch MENSCH sein?» – oder: «Ich bin ein Mensch, warum muss ich auch ein TIER in mir tragen?»“

„HÖR AUF, JOHN, HÖR AUF!!!“

Frank, von nacktem Entsetzen durchdrungen, hielt sich die Ohren zu. Hoffentlich hat er die Tür nicht verriegelt. Ohne ihn komme ich hier vielleicht nicht mehr heraus.

„Beruhige dich, du wirst dich an sie gewöhnen.“

„Das ist nicht dein Ernst, John, sag mir, dass das nicht stimmt! MENSCH-TIER, TIERMENSCH: Das ist nicht möglich! Ich weiß, dass ihr früher derartige Forschungen angestellt habt, ihr und viele andere Labore.

Aber es war ja nur bis zu einem Frühstadium legal, maximal sechs Wochen, wenn ich mich recht erinnere und – soweit ich weiß – führte es nie weit. Ich war immer ganz strikt dagegen, das weißt du. Wie konntest du auf die Idee kommen, ausgerechnet mir… Wenn das wirklich stimmt, dann ist das ILLEGAL!“

„Ich weiß. Aber manchmal kommt man nicht umhin, ein Gesetz zu umgehen oder auch zu brechen, wenn der Fortschritt der Menschheit auf dem Spiel steht.“

„Der «Fortschritt der Menschheit»? Das glaubst du selbst nicht! Das habt ihr einfach so deklariert, ich kann mich noch erinnern: Angeblich trieb euch die Hoffnung an, einst alle unheilbaren Krankheiten zu kurieren. Aber gib es zu, das war nur ein Vorwand! Welche unheilbare Krankheit habt ihr denn kuriert? Du hast dich strafbar gemacht. Wenn das herauskommt, wirst du inhaftiert!“

Frank schaute fassungslos nach rechts. Einige der grauenhaften Kreaturen waren deutlich kleiner als andere. Ihre Gliedmaßen waren ausgeprägt, ihr Nacken war stark. Es schien, als habe der Organismus sich zwischen aufrechter Haltung und auf-allen-Vieren nicht recht zu entscheiden gewusst.

„Eines Tages gelang es uns, das Frühstadium eines Wesens zu erzeugen, das genetisch aus Ratte, Schwein, Kampfhund zusammengesetzt war. Eine originelle Kombination, nicht wahr? Natürlich nicht zu gleichen Prozentzahlen. Ich nannte das Resultat «Chimäre». Das klang nach humanistischer Bildung.“

Frank legte sich eine Hand auf den Mund, seine Übelkeit wuchs. In den Räumlichkeiten des Untergeschosses herrschte überdies stickige Luft. Professor Moore wirkte beinahe abwesend, als er weitersprach:

„Wir haben zunächst in einem größeren Team gearbeitet, alles hochspezialisierte Leute. Später habe ich einige aussortiert, als sich für mich langsam ein zum Ziel führender Weg abzuzeichnen begann.

Am Anfang haben wir uns strikt an gesetzliche Vorgaben gehalten. Irgendwann haben wir eine Woche hinzugegeben…Doch als ich genug Kenntnisse gesammelt hatte, bin ich zum Schein ausgestiegen. Ich tat so, als würde ich diese Forschung einstellen. Die Gruppe löste sich auf. Was ist, so sagte ich mir, wenn einer von ihnen nicht den Mund halten kann? Außerdem wollte ich – wie ein Bergsteiger, den der Ehrgeiz packt, als Erstes einen Achttausendergipfel zu ersteigen – der Erste sein.

Hier unten ist alles schalldicht. Die Geräte sind teuer, z.B. der Quantencomputer, mit dem wir unsere Molekül-, unsere Genmodelle berechnet und dreidimensional dargestellt haben. So fiel keinem auf, dass der Zugangsweg zu diesem Raum hier bewacht wird, obgleich ich den Aufwand hierfür inzwischen reduziert habe. Besucher kommen nur in die oberen Etagen. Dort arbeiten wir an harmlosen Dingen, Untersuchungen an Viren- und Bakterienstämmen, auch in Zusammenhang mit Pflanzen, alles legal. Aber, wie du weißt, haben in letzter Zeit radikale Genforschungsgegner von sich reden gemacht. Ich will hier keinen Ärger, muss vorsichtig sein. Also, zunächst war es mir auch unheimlich, als sie ein gewisses Entwicklungsstadium überstanden und nicht abstarben. Aber dann wollte ich unbedingt sehen, wie es weitergeht.“

John steckte die Fackeln in Eisenringe, die an der Wand angebracht waren. Nun trat er näher und sah Frank eindringlich an.

„Ich will dir nicht zu nahtreten. Ich achte jede Überzeugung oder Religion als Ausdruck freier Selbstbestimmung, aber, wie heißt es noch gleich in der Bibel:

«Er schuf ein jegliches nach seiner Art»?

Du wirst die Stelle besser kennen als ich, aber diese hier“, er deutete zu den Käfigen, „habe ICH geschaffen: Eine Art, die es vorher nie gab! Selbst wenn ich diese BIBEL für eine HEILIGE SCHRIFT halten würde: Was bedeutet uns heute noch der Glaube an einen «Schöpfer»? ICH BIN jedenfalls ein Schöpfer! Ich muss nur noch einen passenden Namen für sie finden: «Sie bei ihrem Namen nennen». So heißt es doch in diesem Buch, das manche immer noch für «das Buch der Bücher» halten, nicht wahr?“

Frank hatte seinem alten Bekannten mit steigerndem Entsetzen zugehört.

„Wie lange schläfst du nicht mehr richtig, John?“

Professor Lewis hörte Geräusche aus einem der Käfige. Er drehte sich um, doch von erneutem Grauen befallen, wandte er seinen Blick wieder ab.

„Und dann, wenn du für diese monströse «Art» einen Namen gefunden hast, was willst du als Nächstes tun? Sie dir vielleicht patentieren lassen?“

Der höhnische Unterton war nicht zu überhören. Doch Professor Moore schien er entgangen zu sein. Er sah vor sich hin.

„Patentieren…, eine gute Idee. Aber noch ist es nicht so weit. Es darf ja niemand davon wissen. Was soll ich tun, Frank, was würdest du tun? Irgendwann muss die Wahrheit ans Licht.“

„Alles kommt irgendwann ans Licht.“

Sein Gegenüber verzog das Gesicht.

„Sei mir nicht böse, Frank, aber das klang eben nach einem Spruch aus einem verstaubten Andachtsbuch.“

Für einen Moment schwieg Frank pikiert, dann nahm er seinen Faden wieder auf.

„Wenn du jetzt damit an die Öffentlichkeit gehst, wanderst du ins Gefängnis. Vielleicht leben sie ja nicht mehr lange, und das Problem löst sich von selbst.“

„Glaube ich nicht. Sie sind erstaunlich robust. Natürlich habe ich auch alles durch Fotos, 3-D-Videos dokumentiert. Am Anfang habe ich viel experimentiert, auch mit ihrer Nahrung. Mittlerweile weiß ich, dass sie fast alles essen: Nahrung, wie wir sie zu uns nehmen, aber auch Tierfutter, interessant, nicht wahr?“

„Du kannst sie nicht in Käfigen halten, das ist“

Professor Moore unterbrach ihn.

„Meintest du «menschenunwürdig»? Es sind aber keine Menschen, vergiss das nicht.“

„Aber auch keine Tiere.“

„Wir neigen ja dazu, immer eine Möglichkeit auszuschließen. Wenn A gleich A ist, dann ist A nicht gleich B, «Aristoteles» lässt grüßen: Aber sie sind beides, auf einmal! Früher hieß es einmal, der Mensch sei die «Krone der Schöpfung». Wer sagt, dass du in diesem Moment nicht vor der neuen Krone der Schöpfung stehst? Vielleicht vereinen sie die Vorteile menschlicher Art und tierischer Arten, wer weiß? Tiere waren und sind uns in mancher Beziehung schon immer um einiges voraus, zum Bespiel: Instinkte, Witterung. Vergleiche das Verhalten von Tieren und Menschen und du wirst überdies sehen, dass Tiere, im Schnitt, nicht annähernd so boshaft sind.“

„John, lass uns nach oben gehen, ich halte es hier nicht mehr aus.“

Frank sah noch einmal zu den grauenerregenden Kreaturen. Eine von ihnen stemmte sich auf ihre vorderen Gliedmaßen und fixierte ihn aus kalt wirkenden grau-blauen Augen. „Hörst du ihr Knurren, diese seltsamen Laute? Was hörst du heraus: Trauer, Wut, Klage oder alles zusammen? Sieh mal, wie straff ihre Sehnen gespannt sind. Und dann wieder dieser Ausdruck im Gesicht, wenn ich das mal so nennen darf. «Schnauze» würde irgendwie unfein klingen. Die da drüben, im Käfig ganz links, hast du noch gar nicht gesehen.“

John zog ihn mit sich. Frank spürte einen geradezu heftigen Widerwillen in sich aufsteigen. Zugleich fühlte er, wie diese entsetzlichen Mischwesen eine Faszination auf ihn ausübten.

„Sieh nur, hier in der Ecke, sie sind noch recht klein.“

John nahm eine der Fackeln wieder an sich und näherte sie den Gitterstäben an. Der Schein ihres Lichtes erhellte den eng umgrenzten Raum. Die Kreaturen blickten auf. Ihre Blicke wanderten von einem zum anderen. Es war deutlich zu erkennen, dass etwas in ihnen vorging. Auf einmal machte die größere der beiden einen Satz, umklammerte mit ihren starken vorderen Gliedmaßen einen Gitterstab und stieß einen Zischlaut aus. Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und erstmals kam nun auch ihre grässlich gefärbte Zunge zum Vorschein.

„John, ich will hier raus, lass uns nach oben gehen, schnell!“

Frank zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, presste es gegen seinen Mund, atmete tief durch und versuchte, aufkommender, starker Übelkeit Herr zu werden. John ging ihm zum Ausgang voraus.

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