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8. Kapitel
ОглавлениеMorgur verließ das Firmengelände durch den Hinterausgang. Dazu musste er an Druck- und Schneidmaschinen, an Druckern, Buchbindern, an Arbeiterinnen vorbei, die ihn allerdings kaum beachteten. Ganz anders war es, wenn er den normalen Weg zum Ausgang, an den Empfangsdamen vorbei, wählte. Dann beschlich ihn immer das Gefühl, dass sie ihm nachsahen, Köpfe zusammensteckten, über ihn tuschelten. Auch konnte es vorkommen, dass er auf diesem Weg, im Freien angekommen, auf andere Angestellte traf, die gerade lässig in ihre Sportwagen stiegen, während er den Fußweg zum Bus antrat. Oh, er kannte die Häme, mit denen sie ihn manchmal in aller Offenheit, manchmal hinter seinem Rücken, übergossen, da er auf den Bus angewiesen war. Nach drei gescheiterten Versuchen, den Führerschein zu erwerben, hatte er es aufgegeben. Einmal nahm ihn ein Kollege mit. Morgur erinnerte sich mit Grauen an diese Fahrt mit dem Angestellten, der unterwegs die Leistung seines Autos in höchsten Tönen pries und nach einiger Zeit beiläufig, mit fast verdächtigendem Unterton, fragte: ’Warum kommen Sie eigentlich nicht mit dem Auto?’ Der alte Heuchler. Dabei wusste er doch genau, warum.
Diesmal aber gelang es ihm, sich davonzustehlen. Das Gespräch mit dem Geschäftsführer hallte in ihm nach, bis er von sich steigerndem Grimm erfasst wurde: Alter Windbeutel! Es kam ihm vor, als betrachte der Chef das Personal wie Schachfiguren, die man je nach erhofftem Vorteil, nach strategischer Idee, nach Wohlgefallen oder Missfallen einfach hin und her schieben, versetzen oder umstoßen konnte. Diese lauernde Falschheit im Blick, hinter der sich kaltes Kalkül und scharfe Beobachtung verbarg…War das eine versteckte Drohung? Der muss heimlich in meinen Kabuff gegangen sein und meine Papiere durchwühlt haben. In der Mittagspause? Er dachte daran, wie er sich oft mit einigen Broten in einer Ecke der Kantine oder – besser noch – außerhalb, in einem stillen Winkel des Firmengeländes verdrückte. Er muss diese Zeit genutzt haben, um zu sehen, was ich mache, wieweit die von mir geführten Listen und Zahlen stimmen. Es scheint, er führt über alles Buch…Was sollte dieser versteckte Hinweis, den er unter falschem Lachen vorbrachte: ’Sie wissen ja, Herr Morgur, nichts im Leben ist sicher…’ Und dann sein Palaver um nötige Erhöhung der Produktivität, Reduzierung der Personalkosten, wobei sich ja am mehr oder weniger erkennbaren Willen zur Leistung die Spreu vom Weizen trenne. Und was sollte der Spruch am Ende: ’Wenn’s eng wird, nicht wahr, Herr Morgur, dann nimmt man auch mal einen Schwung Arbeit mit nach Hause…’ Wollte er mich provozieren, verunsichern, um zu sehen, wie ich reagiere? Wie kam er auf die Idee, gezielt nach meinen Excel-Kenntnissen zu fragen? Wo jeder im Haus weiß, dass mir da niemand etwas vormacht? Will er am Ende jemand anderen entlassen und mir mehr Arbeit aufbürden? Arbeit mit nach Hause nehmen? Während er noch auf den Bus wartete, trat er unruhig von einem Bein auf das andere. Wenn die Zeit erfasst wird, ich dafür bezahlt werde oder an anderer Stelle kürzertreten kann…, vielleicht gar keine schlechte Idee. Er stellte sich vor, wie er mit einem Packen Arbeit beladen, zu Hause einmarschieren würde. Dann hätte ich eine Ausflucht, ein Mittel um ihr zu entkommen…Ich könnte einfach damit in mein Zimmer verschwinden, , aus einem Kabuff in den anderen…Dagegen hätte sie bestimmt nichts einzuwenden…. Und wenn sie dann nach einem Vorwand sucht, um mich zu erniedrigen, dann deute ich auf meinen Schwung Arbeit und ziehe mich zurück, hänge ein Schild an die Tür: BITTE NICHT STÖREN, ARBEIT!
Ein wohliges Gefühl überkam ihn, eine geradezu wilde Vorfreude, die bald wieder einem Gefühl der Niedergeschlagenheit wich. Der Bus wollte einfach nicht kommen. Zu Fuß war es zu weit und nun lief er Gefahr, dass der ein oder andere Kollege in seinem protzigen Wagen vorbeifuhr, ihn sah, hämisch winkte oder gar anhielt…Sollte ich Windbeutler nochmals darauf ansprechen? Nein, nein. Am Ende deutet er das als schlechtes Gewissen. Der Bus tauchte endlich auf…
Als Morgur am selben Abend den Innenhof betrat, von dem aus eine Treppe zur Wohnungstür führte, war kein Laut zu hören. Das Haus war mehrstöckig. Seine Frau ließ einen Teil des von ihr geerbten Hauses einfach leer stehen. Ein Stockwerk war in verschieden große Wohnungen unterteilt und komplett vermietet. Es verstand sich bei ihr von selbst, dass sie ihn weder über Mieter noch Einkünfte unterrichtete. Ebenso wusste er nicht, was sie mit dem Geld machte. Ihm gab sie zwischen den Zeilen immer wieder das Gefühl, dass er eigentlich froh sein könne, dass sie ihn hier im Haus dulde. Auf einen Teil seines Gehaltes griff sie zu, ohne mit der Wimper zu zucken, verfügte sie doch über eine entsprechende Kontovollmacht, die er ihr einst, auf ihren Druck hin, ausstellte. Mittlerweile war er an diesen Zustand fast gewöhnt. Nur manchmal kam Wut in ihm hoch, die aber in ihrem Anblick schnell zurückwich. Es lag ein gewisses Etwas in ihrem Blick, gegen das er einfach nicht ankam. Und wenn sie dann seine Wehrlosigkeit spürte, merkte er, wie es sie einerseits mit Genugtuung und andererseits mit starkem Widerwillen erfüllte. Es kam ihm vor, als brauche sie ihn, damit sie an der für ihn empfundenen Geringschätzung wachsen könne. Wenn er aber dann, in dieser Gewissheit, irgendwo gebraucht zu sein, forscher auftreten wollte, wies sie ihn schnell und resolut in die Schranken und ruhte nicht, bis er gleichsam wieder klein genug war. Er öffnete die Haustür, lauschte ins Treppenhaus, betrat die erste Treppenstufe. Es roch, als habe hier jemand das ganze Treppenhaus gebohnert. Stufe um Stufe stieg er die knarrende Treppe empor.
In einer Hand hielt er eine schon ziemlich ausgebeulte Tasche, in der er immer seine Brote, manchmal auch zurechtgeschnittene Apfelstücke oder Joghurt mit sich schleppte. Davon verzehrte er manchmal enorme Mengen, was den Leuten in der Firma nicht entgangen war und erneut Kopfschütteln, Getuschel und Befremden auslöste. Aber wenn ihn dieser Heißhunger überkam, verlor er die Gewalt über sich und schlang alles in sich hinein. Es kam ihm zuweilen vor, als drücke sich darin ein anderer Hunger aus, den er nicht genauer bezeichnen konnte. Seiner Frau war sein Heißhunger ein willkommener neuer Stoff, mit dem sie ihre Vorwürfe nährte: ’Du müsstest dich einmal sehen. Irgendwann passt du nicht mehr in die Tür. Wie kann man nur so unbeherrscht sein!’ Aber ihm schien, dass ihre Entrüstung nicht ganz ehrlich war, dass sie insgeheim an seinem zunehmenden, sicher nicht sehr vorteilhaft aussehenden Gewicht, ihre klammheimliche Freude fand. So nahm auch ihre Verachtung zu und konnte sich umso ungehemmter ausdrücken.