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12. Kapitel

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Herr Voragin schlug ein Bein über das andere, lehnte sich bequem zurück und vertiefte sich erneut in die ’Süddeutsche’. Nach einiger Zeit setzte er seine starke Brille ab und säuberte sie penibel. Wie schön, so ein Samstagvormittag. Endlich Zeit, um in Ruhe die Zeitung zu lesen. Im Hintergrund hörte man Musik von Mike Oldfield, Tubular Bells. Er setzte die Brille gerade wieder auf, als seine Frau das Wohnzimmer betrat. „Schon vom Markt zurück?“ „Ja, wenn man früher geht, ist es noch nicht so voll und man wird schneller fertig. Immer wieder herrlich diese Fülle an Obst und Gemüse, an Brot- und Käsesorten. Allein schon die Farben!“ Er stimmte beiläufig zu und vertiefte sich wieder in einen Artikel über moderne Pädagogik, für ihn als Pädagogen geradezu eine ’Pflichtlektüre’. Seine Frau hegte eine hohe Meinung von seinem akademischen Fachhochschul-Hintergrund, während sie ihre eigene, halbtags ausgeübte Profession ’Krankengymnastin’ zu bescheiden einschätzte. Daher übernahm sie an Samstagen die Einkäufe meist selbst, wusste sie doch, dass er sich dann gerne der Zeitungs- oder sonstiger Fachlektüre hingab, was er gerne mit ‘Fortbildung ist schon enorm wichtig!‘ zu kommentieren pflegte. Überdies war er der Auffassung, dass Frauen für solche Dinge wie Einkaufen einfach einen anderen, besseren Blick hätten, was weder mit ihrer Sozialisierung noch mit althergebrachten Vorurteilen erklärbar, vielmehr ein nachgewiesenes Faktum sei. Was sollte sie einer derartigen Argumentation entgegenhalten? Davon abgesehen ging sie gerne einkaufen, so dass es nicht zu Reibereien kam. Während sie nun noch die Frische des auf dem Markt angebotenen Gemüses pries, sich in Schilderungen herrlicher Obstsorten und anderen Schätzen der Natur hingab, war er schon wieder in seine Fachwelt abgetaucht. Wenn er sich dann, einem natürlichen Drange nach Verständigung folgend, in Kommentaren erging, die Vorzüge und Nachteile bestimmter pädagogischer Konzepte erläuterte, sprach er zuweilen für sie so unverständlich, dass sie oft nur noch mit ’ach, ja?’, ’ach, so!’ und ähnlichen Füllwörtern reagierte. Merkwürdig fand sie , dass ihn ihre Einsilbigkeit gar nicht zu stören schien. Vielmehr kam es ihr fast so vor, als wäre er gar nicht ernsthaft an ihrer Meinung interessiert. Sie konnte sich darauf keinen rechten Reim machen. Vielleicht war das einfach so mit Akademikern? Die Hauptlast der Erziehung musste ohnehin sie tragen. Nach einer Theorie, die er ihr gerne wortreich und unter verschiedenen Aspekten ihrer historisch-soziologischen Entwicklung erläuterte, waren Frauen hierfür einfach viel geeigneter, von Natur aus, wie er sich ausdrückte, ’einfach viel näher dran.’ Als Beleg für seine These brachte er vor, dass Männer schon von der Wahrnehmung her ganz anders veranlagt seien. Ihr Blick ginge – von Ausnahmen abgesehen – doch mehr ins Große und Ganze, weshalb es auch keine Frauen gegeben habe, die je ein großes philosophisches System geschaffen hätten. Dies sei mit der Einschränkung verbunden, dass dann Naheliegendes leicht übersehen werde und hier setze die Domäne der Frauen ein. Er spickte seine Erläuterungen noch mit Begriffen aus der Psychologie, die sie vollends aufs Glatteis führten. Wenn er von Ich, von Überich und Es, von Individuation, von Anima und Animus sprach, zog sie sich meist schnell und unter einem Vorwand in eine Ecke des Zimmers zurück und widmete sich Dingen, die ihr näher lagen, wie Lesen oder Seidenmalerei.

„Wo ist Alina?“

Er löste sich mühsam von seiner Süddeutschen und blickte zerstreut auf: „Alina? Hm, ich glaube…, sie ist in ihrem Zimmer.“

„Ich sehe mal nach, was sie macht.“

Er klappte die Zeitung zu und drehte sich nach rechts:

„Meinst du? Ich denke, wir sollten nicht zu oft nach ihr sehen. Sie braucht auch ihren Freiraum. Das ist enorm wichtig. Sie ist ja schließlich kein Kind mehr.“

Ihr Blick fiel auf ein Foto ihrer Tochter, das auf einer kleinen Freifläche des Wohnzimmerschrankes stand. Seit der Arzt ihr sagte, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen könne, liebte sie Alina noch mehr. Wie schön sie auf dem Foto aussah. Auf dem Foto? Ach, nicht nur da, immer und überall. Sie betrachtete ihre herrlichen blonden Haare, ihr schmales Gesicht mit den großen blau-grauen Augen. Wie vernünftig sie für ihr Alter ist. Sie konnte sich kaum erinnern, dass sie ihnen jemals größere Sorgen bereitet hätte. Sicher, damals, ihre zarte Gesundheit, das war manchmal schon aufregend. Aber davon abgesehen? Auch in der Schule kam sie gut mit, zu jedem war sie freundlich, alle Nachbarn mochten sie. Nur gewann sie manchmal den Eindruck, dass Alina Geschwister fehlten. Zog sie sich in letzter Zeit nicht zu sehr auf ihr Zimmer zurück? Mit ihrem Mann wollte sie jetzt lieber nicht darüber sprechen. Er war schnell mit einem längeren Diskurs ’aus pädagogischer Sicht’ zur Hand. Andererseits: Alina las gerne und wenn sie so still und friedlich, in ein Buch vertieft, auf ihrem Zimmer saß, sah es nicht danach aus, dass Alina etwas fehlte. Oder vielleicht doch?

Ihr Mann war mittlerweile in ein Magazin ’Psychologie Heute’ vertieft und schüttelte den Kopf, wobei offen blieb, ob dies nun als Zustimmung oder Kritik zu interpretieren sei. Vor ihm, auf dem Glastisch, lagen Rowohlt-Monographien über ’Alfred Adler’, ’Johann Amos Comenius’ und ’Die Frankfurter Schule’. Für einen Moment beschlich sie der Gedanke, dass ihr mehr geholfen wäre, wenn er – anstatt sich in Fachlektüre zu vertiefen – die vom Markt hierher geschleppten, schweren Taschen zumindest in die Küche tragen würde. Aber sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Vermutlich hätte er auch hierfür wieder eine Theorie parat, nach der derlei Arbeiten eher dem Naturell einer Frau entsprachen. Und wie sollte sie seine Theorien entkräften? Wenn er etwa eine ’Klärung im herrschaftsfreien Diskurs’ in Aussicht stellte, war sie mit ihrem Latein am Ende, zumal sie gar kein Latein konnte. Vor längerer Zeit legte sie sich mehrmals mit ihm an, sah dann aber schnell ein, dass dies nur längere Diskussionen zur Folge haben würde, die in keinem Verhältnis zum Anlass standen. Einmal ganz davon abgesehen, dass sie ohnehin kaum zu Wort kam. Also schleppte sie auch diesmal die schweren Taschen und entschied auf dem Weg in die Küche, dass sie doch einmal bei Alina vorbeischauen würde. Vielleicht saß sie an den Hausaufgaben und brauchte Hilfe? Auf jeden Fall spürte sie den starken Wunsch, ihre Tochter zu sehen und zu begrüßen, ihr über das Haar zu streichen und sie an sich zu drücken.

Sie klopfte an und wartete, bis ihre Tochter ’herein!’ sagte. Die Idee mit dem Anklopfen ging auch auf ihren Mann zurück, der ihr dafür vor Jahren den genauen Zeitpunkt angab. Er dozierte in diesem Zusammenhang über ’die Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender unter besonderer Berücksichtigung der Sozialisation in einer Kleinfamilie’ und versäumte nicht, sie auf Pädagogen hinzuweisen, die sein Denken maßgeblich beeinflusst hätten. Also klopfte sie an, obwohl sie nicht klar erkennen konnte, wieweit sich dies auf die Persönlichkeitsentwicklung Alinas auswirkte. Sie trat ein und blickte ihre Tochter voller Wohlwollen an. Nun bist du schon dreizehn, mein Augenstern. Alina schrieb gerade einen Brief an eine Austauschschülerin aus Dänemark, die letztes Jahr zu Besuch gekommen war. Sie legte den Brief zur Seite, stand auf und umschlang ihre Mutter. Diese sah nach unten, strich Alina über das Haar. Sie ist etwas klein für ihr Alter…

„Was machst du, Schatz?“

Alina wirkte froh und munter. Sie zeigte zu ihrem kleinen Schreibtisch.

„Ich schreibe gerade einen Brief.“

„An Sofie?“

„Ja. Sie kann schon so gut Deutsch. Es ist gar kein Problem.“

„Schön, dass ihr euch noch Briefe schreibt. Wo doch heute alle nur noch E-mails schreiben.“

Alina wurde hellhörig.

„Ja, sie mag es auf diese Art. Es ist irgendwie spannender, zu warten, bis endlich ein Brief kommt. Aber, da wollte ich dir gerade erzählen. Weißt du was?“

„Was denn?“

Sie bückte sich ein wenig, da sie ihre Tochter deutlich überragte.

„Sofie bekam ein Notebook geschenkt und fragte mich auf einmal, ob sie mir, ab und zu, auch E-mails schicken kann. Ein Notebook wäre mir lieber als ein Smartphone. Du weißt ja, dass ich damals mein Handy verloren habe. Bei einem Notebook ist auch das Display viel größer. Da kann ich viel besser lesen.“

Ihre Mutter grübelte. Sie hatten doch schon einen Computer. Als habe Alina ihre Gedanken erraten, sagte sie:

„Auf Papis Computer geht es nicht.“

„Warum nicht?“

„Er nutzt ihn selbst so oft und außerdem…“

Sie blickte ihre Mutter treuherzig an.

„Nun?“

„Er will bestimmt nicht, dass ich seinen Computer durcheinander bringe.“

Sie setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete ihre Tochter. Wie blass ihre Haut war…Manchmal sah sie ein wenig aus wie eine kostbare Porzellanpuppe.

„Und, hast du mit ihm darüber gesprochen?“

Alina strahlte und streckte einen Finger in die Höhe.

„Ja und weißt du was?“

Sie machte es spannend.

„Sag schon.“

„Er sagt, er kauft mir eines!“

„Ach!“

Alina umschlang ihre Mutter aufs Neue, legte ihren Kopf an ihren Arm. Was für ein Glück haben wir mit unserer Tochter. Doch Computer…, Internet…, man hörte da ja so einiges. Es ist doch nicht ganz ungefährlich…

„Was sagte er noch?“

Alina besann sich.

„Hm, es war kompliziert. Ich meine…, er hat viel gesagt, aber ich weiß gar nicht mehr was…“

Ihre Mutter lachte.

„Also ist er dafür. Ich spreche mal mit ihm.“

Alina hüpfte vor Vorfreude.

„Dann kann ich Sofie schreiben und es dauert gar nicht lange, bis sie meine Post hat!“

„Und umgekehrt auch.“

„Ja! Dann ist es, als ob sie näher wohnen würde.“

Ihre Mutter wurde gerührt. Wenn du wüsstest, wie gerne ich dir ein Geschwisterchen geschenkt hätte. Sie bemühte sich, jetzt nicht traurig zu werden. Ja, es war bestimmt eine gute Sache. So konnte Alina mit ihrer Freundin regen Kontakt halten. Obwohl sie weit weg wohnte, schien es, dass sie sich mit ihr am besten verstand. Schließlich hatten sie sich beide schon besucht. Ab und zu telefonierten sie sogar. Sie blickte in das strahlende Gesicht ihrer Tochter: An mir soll es nicht scheitern.

Der Sohn des Verderbens

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