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5. Kapitel

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Auf demselben Flur, gleich neben dem Aufgang zur Treppe, fand sich zu rechter Hand der Eingang zum Personalbüro. Herr Unterberger strich sich durch sein graumeliertes gewelltes Haar und versuchte sich zu konzentrieren:

„Moment e mohl. Sahn mer mohl…“

Er zückte seinen Filzstift und überprüfte die Urlaubsliste, die der Auszubildende ihm vorlegte. Dann hob er das Blatt in die Höhe, so als müsse er es erst im Licht der Sonne betrachten. Die mit Schreibmaschine und Lineal gezogene Umrandung war doch auf dieser Seite…, mal sehen. Nein, obwohl…, vielleicht 1 Millimeter?

Er holte sein Lineal aus der Schublade, legte an und maß ab. Er fühlte eine gewisse Gereiztheit in sich aufsteigen. Darüber befragt, hätte er wohl kaum zu sagen vermocht, woher sie stamme und auf wen oder was sie sich richte. Er beugte sich nach links und linste in den Nebenraum:

„Herr W a d l e?“

Der Auszubildende, der inzwischen an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt war, schrak auf und blickte nach links. Herr Unterberger winkte ihn herbei, bewegte sich dabei unruhig hin und her, wie er immer zu tun pflegte, wenn jene schwer zu steuernde Gereiztheit von ihm Besitz ergriff. Er zeigte auf das Blatt, gerade so als ob dieses ein Corpus Delicti sei. Dann wedelte er mit ihm hin und her:

So kann ich das nicht brauchen!“ Der Auszubildende lugte hervor, so wie eine Schildkröte ihren Kopf aus dem Panzer hervor schiebt. Kleinlaut fragte er: „Wieso?“ Herr Unterberger zeigte, zur Stütze seiner Anklage, auf das zuvor mitgelieferte Muster. Dann maß er erneut nach: „Die Linie hier…, hätte ich gern etwas tiefer. Und hier, etwas höher. Gerade so, wie hier auf dem Blatt!“ Der Auszubildende, der das Fadenscheinige des Vorwurfs klar erkannte, fühlte zugleich, dass eine Diskussion kaum weit führen würde. Er blickte in das Gesicht des Angestellten, der den Geist der Personalabteilung verkörperte. Einmal in der Woche war er meist einer der Ersten, die unten im Eingangsbereich eingetroffene Brezeln abgriffen und nach oben beförderten. Dann spendierte er auch schon mal die eine oder andere Brezel und trat als Vaterfigur auf. Sein Gesichtsausdruck glitt dann zuweilen ins Joviale, Leutselig-Betuliche ab. Nun aber zeigte er ein ganz anderes Gesicht, das eines Mannes, der langsam aber sicher fuchtig wurde. Der Auszubildende wich zurück, zeigte den ersten abgelieferten Entwurf, verglich ihn mit den Angaben Unterbergers und preschte nochmals vor: „Der erste Entwurf, den ich Ihnen gegeben habe, war genauso, wie Sie es jetzt haben wollen.“ Unterbergers Blick blitzte geradezu auf. Es fehlte nur noch, dass Funken sprühten. Er nahm das als Beweis guter Erstausführung vorgelegte Blatt unwirsch entgegen – „Moment e mohl“ – und wurde durch festes Klopfen an seiner Tür abgelenkt. „Wir sprechen dann später…“

Der Auszubildende zog sich zurück und bekam mit, wie der Leiter der Abteilung Einkauf, Herr Riesbacher, das Arbeitszimmer von Unterberger betrat. Riesbacher steckte, wie immer, in einem etwas eng bemessenen, penibel sauber gehaltenen und etwas antiquiert wirkenden Anzug. Etwas Unruhiges, Quirliges ging von ihm aus, so als sei er immer und überall, jederzeit gerade auf dem Sprung oder werde von einem Sprung abgehalten. Der Auszubildende hätte sich nicht gewundert, wenn in Riesbachers Körper tatsächlich eine Sprungfeder steckte.

„Herr Unterberger…, Folchendes: Stör’ ich?“

Die Frage schien nicht wirklich nach einer Antwort zu verlangen und klang beinahe eher so, als hoffe hier jemand auf Zustimmung zur Frage. Seine Füße bewegten sich unruhig hin und her. Herr Unterberger blickte auf und verneinte.

„Wenn Sie jetzt ’ja’ gesagt hätten, wäre ich trotzdem nicht gegangen!“

Herr Riesbacher hatte seine Stimme bewusst erhoben, wusste er doch um die Anwesenheit von zwei Mitarbeiterinnen im Nebenraum. Den Auszubildenden betrachtete er – rein kaufmännisch-rechnerisch – als zu vernachlässigende Größe. Seinen Satz schloss er mit Gelächter ab, das sich nur zur Hälfte freie Bahn brach und deshalb etwas krampfig wirkte. Herr Unterberger fühlte, wie die impertinente Bemerkung von Riesbacher – was glaubt der eigentlich?!? – seine schon leicht siedende Gereiztheit weiter aufheizte.

„Um was geht’s?“

„Jetzt lachen-se doch auch mal, Herrn Unterberger! Net immer so ernst. Folchendes…“

Während er seine Stimme anhob, lauschte er mit einem Ohr in den Nebenraum. Wie erwartet, hörte er nun zu seiner Genugtuung ein gedämpftes Lachen der Damen, die Unterberger zuarbeiteten. Diesen lag daran, dass ihr Lachen seitens Unterbergers keinesfalls so gedeutet werden könne, als machten sie sich etwa über ihn lustig. Ihr Gelächter klang daher auch eher so, als wolle jemand zum Ausdruck bringen, wie gut hier das Arbeitsklima sei, wenn sogar während der Arbeit gelacht werde. Riesbacher hatte aber für solche Feinheiten kein Ohr. Seine Sache war die klar zu berechnende, streng zu kalkulierende Welt der Ver- und Einkaufspreise, der Preise pro Stück oder Ries, der kaufmännischen Bilanzen, der buchhalterischen Grundsätze, der doppelten Buchführung. Nicht ohne Stolz führte er gelegentlich an, dass er ja bei der IHK in Ludwigshafen seinerzeit eine Fortbildung absolviert und mit sehr gut bestandener Prüfung abgeschlossen habe, die in gehobenen kaufmännischen Fachkreisen Ansehen genieße. Nun wandte er sich Unterberger auch in der Körpersprache zu, sprach gedämpfter. Das Fußvolk von nebenan sollte gar nicht erst auf die falsche Idee kommen, als lasse hier jemand die Zügel schleifen und stelle eine Atmosphäre plumper Vertraulichkeit her.

„Folchendes, Herr Unterberger. Eine Fraache…Wie viele Urlaubstage hab ich eigentlich noch?“

Unterberger hatte diese simple Frage nicht erwartet. Erleichtert sah er sich um und begleitete dies mit zunächst seltsamen Lauten, derer er sich offensichtlich nicht bewusst war und deren Bedeutung sich nicht auf Anhieb erschloss :

„Perúmpumpum…Ich kann’s net saache, so aus em Stegreif. Einen Moment...“

Er schaute sich auf dem Schreibtisch um, öffnete eine Schranktür und blickte dann in den Nebenraum…Nun erklang eine gereizte, argwöhnisch klingende Stimme:

„H e r r W a d l e?!“

Er hatte die Buchstaben bewusst in die Länge gezogen, rechnete er doch damit, dass der Auszubildende vermutlich in Gedanken oder in eine seine Aufmerksamkeit ganz auf sich ziehende Arbeit vertieft war.

„Ja?“

„Kommen Sie mal bitte.“

Der Auszubildende erhob sich und trat in den Bereich unmittelbar vor dem Nebenzimmer. Herr Riesbacher musterte ihn mit einem Blick, den er so ähnlich auch aufsetzte, wenn eine neue Großlieferung Papier eintraf, die peinlich genau auf Übereinstimmung mit der Bestellung zu prüfen war. Dabei zog er die Stirne etwas in die Höhe, wie jemand, der zu lange gelesen hat und blinzelte.

„Sie hatten doch vorher die Urlaubsliste?“

„Ja, hab ich Ihnen zurückgegeben.“

Herr Unterberger blickte ihn ungläubig an und zog ein Gesicht, als sei nun ein Meineidiger gleich einer Unwahrheit zu überführen. Bevor er etwas entgegnen konnte, preschte Riesbacher nach vorn:

„Richtich, richtich, da isse ja.“

Er hatte die Liste hinter einem Ordner entdeckt. Unterberger spürte, wie sich seine Gereiztheit einem neuen Höhepunkt näherte.

„Ja, so kann ich das nicht brauchen!“ Der Gesichtsausdruck des Auszubildenden glich in bemerkenswerter Weise einem Fragezeichen. Unterberger legte nach: „Wenn Sie mir die Liste zurückgeben, dürfen Sie sich nicht einfach hinter den Ordner legen.“ „Hab ich auch nicht. Den Ordner haben Sie nachher erst hervorgeholt. Der stand vorher gar nicht da.“

Unterberger kochte und schnaubte. Riesbacher, der aus irgendeinem unbekannten Grund guter Dinge war, schaltete sich quirlig ein:

„Herr Unterberger, das ist ja schon bedenklich. Sie werden doch nicht langsam vergesslich werden, so wie unser…, Sie wissen, wen ich meine.“

Jetzt stellt er sich auch noch auf die Seite des Auszubildenden! Unterberger tobte innerlich. Na, warte, das zahle ich dir heim!

Der Sohn des Verderbens

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