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Kapitel 2

Dass jede friedliche Ruhe auch einmal vorüber ist, das ist ein Naturgesetz. Das trifft auf den täglichen Straßenverkehr genauso zu wie auf dein Eheleben oder das leidige Wetter. Und schon dreimal auf einen Kommissar von der Mordkommission, der vor lauter Ruhe schon an seiner Existenzberechtigung zweifelt und nach anfänglicher Verärgerung die Umstrukturierungspläne derer in München in Ansätzen zu verstehen beginnt.

»Funken Sie die Dr. Sieber an. Am Emmeramsplatz liegt eine tote Frau. Scheint kein Unfall zu sein! Sagen Sie ihr, ich bin mit dem Liebknecht unterwegs!«, orderte der Köstlbacher und war auch schon an seiner Sekretärin Edith Klein vorbei hinaus in den Flur verschwunden, um mit dem Lift runter zum Einsatzwagen zu eilen. Die Abteilungsleiterin legte großen Wert darauf, über Einsätze ihrer Beamten außer Haus informiert zu werden.

Sicher wäre er zu Fuß die beiden Stockwerke schneller unten gewesen, aber du kennst inzwischen den Köstlbacher. Treppauf tut’s die Pumpe nicht und treppab schmerzt das rechte Knie. Alles eigentlich viel zu früh für seine gerade mal 47 Jahre. Aber wenn du das nötige Schlachtgewicht auf die Waage bringst, spielt das Alter nur mehr eine untergeordnete Rolle, was die Kondition betrifft.

Trage einmal versuchsweise zwei große Gießkannen voll Wasser. Eine links und eine rechts. Und steige mit denen eine Treppe hinauf. Du kannst es auch mit einem vollen Kasten Bier versuchen. So kannst du am besten, zumindest ansatzweise, nachempfinden, was dem Köstlbacher seine Knie beim Treppensteigen aushalten müssen.

»Du hast am Telefon was von einer Toten am Emmeramsplatz gefaselt?«, fragte den Kommissar der Liebknecht, der schon hinterm Steuer des schwarzen Dienstaudis auf seinen Chef wartete.

»Ja! Direkt vor dem Evangelischen Krankenhaus!«, antwortete der Köstlbacher.

»Dort ist doch auch ein Notarzt stationiert. Konnte der nichts mehr machen?«, fragte der Liebknecht.

»Allem Anschein nach nein. Außerdem kann auch ein Notarzt eine Tote nicht wieder zum Leben erwecken!«, grummelte der Köstlbacher, weil er doch selber nichts wusste, außer dass er von Kollegen, die schon vor Ort waren, gerufen worden ist.

Dem Liebknecht war klar, wann es besser ist, den Mund zu halten. Zwar bestand kein Anlass, nicht mit dem Edmund weiter über den Grund zu sinnieren, der sie zum Emmeramsplatz führte, aber wenn der Edmund diesen brummigen Unterton in seiner Stimme anschlug, war es angebrachter, eine Konversation nicht erzwingen zu wollen. Eigentlich müsste sein Chef ja eher jubeln, weil alles darauf hindeutete, dass die Regensburger Mordkommission wieder etwas zu tun bekäme, was ihrem Aufgabenbereich entspricht. Aber so ist er eben, der Köstlbacher, immer anders, als man es von ihm erwartet. Für einen Kollegen, der diese Eigenheit kennt, kein wirkliches Problem. Für einen Straftäter, auf den es der Köstlbacher abgesehen hat, ein undurchschaubarer und damit gefährlicher Ermittler.

»Schau, schau! Der Kollege Jung ist schon da!«, sagte der Liebknecht erstaunt, als sie den Emmeramsplatz erreichten.

»Seltsam! Allein! Ganz ohne sein Team?«, kommentierte der Köstlbacher.

»Wer hat dich schon angefordert?«, fragte der Köstlbacher seinen Kollegen Kommissar Jung von der Spurensicherung.

Dabei streckte er ihm seine Hand entgegen, verzichtete aber auf begrüßende Worte.

Der Kommissar Liebknecht nickte dem Jung nur freundlich zu und ließ erst einmal seinen Blick in die Runde schweifen. Bei all den Fenstern, aus denen man hier herunterschauen konnte, da dürfte der Personenkreis, der Beobachtungen gemacht haben könnte, enorm groß werden.

»Niemand! Ich hielt nur zufällig gerade eine Fortbildung in der Klinik ab«, entgegnete der Beamte und schüttelte dem Köstlbacher seine Hand.

»Du? Eine Fortbildung? Willst du denen in der Klinik beibringen, wie man für die Polizei Spuren sichert, falls einmal einer in der Klinik ermordet wird?«, fragte der Köstlbacher mit einem fast zynischen Lächeln auf seinen Lippen.

»Wo denkst du hin? Die Fortbildung ist nur für Notärzte! Ich versuche denen klar zu machen, dass sie wertvolle Spuren verwischen, wenn sie sich mit ein/zwei Sanitätern vor Ort wie die sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen aufführen. Allerdings will man davon nichts wissen. Menschenleben retten sei vorrangig!«, antwortete der Jung.

»Ist ja auch nachvollziehbar!«, meinte der Köstlbacher.

»Notärzte sind keine Kriminaler. Die machen ihre Arbeit nicht mit dem Verdacht im Hinterkopf, dass ein Gewaltverbrechen vorliegen könnte. Wir suchen Täter! Und die Notärzte wollen, wie du schon richtig gesagt hast, nur Leben retten!«

»Wenn’s noch was zu retten gibt, dann schon! Aber oft sind die Opfer ja schon unübersehbar tot«, entgegnete der Jung.

»Und wie steht’s mit der da?«, fragte der Köstlbacher und deutete dabei auf die Frau, die unweit vom Eingang ins Evangelische Krankenhaus durch eine Decke abgeschirmt vor neugierigen Blicken auf dem Bürgersteig lag. Neben ihr ein ramponierter DINA4 Aktenordner.

»Hat ein hässliches Loch in der Brust. Sieht mir nach einem großen Kaliber aus! Vermutlich dauerte es nur eine Schrecksekunde, bis sie tot war«, fasste der Jung ultrakurz zusammen und hob die Decke an, damit sein ­Kollege die Sauerei sehen konnte.

Der Köstlbacher zuckte bei dem Anblick unmerklich zusammen.

»Großkaliber! Müssten den Schuss nicht jede Menge Passanten gehört haben?«, fragte der hinzugetretene Kommissar Liebknecht.

»Und falls mit einem Schalldämpfer geschossen worden ist? Außerdem, schau mal da hinüber!«

Keine 20 Meter von der Leiche entfernt, stand ein Baustellen-Generator. Momentan nicht in Betrieb!

»Wenn der mit seinem lautstarken Kompressor den angekoppelten Presslufthammer in Bewegung setzt, dürfte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen und selbst ein Schuss wäre nur schwer als solcher zu identifizieren«, meinte der Kollege Jung.

»Wurde da zur Tatzeit gearbeitet?«, wollte der Köstlbacher wissen.

»Vermutlich ja. Die Männer schienen von allem nichts mitbekommen zu haben. Ich musste sie in eine Zwangspause schicken, um hier überhaupt halbwegs störungsfrei arbeiten zu können!«, sagte der Spurensicherer.

»Was meinst du, Gewehr oder Faustfeuerwaffe?«, fragte der Köstlbacher.

»Das ist schwer zu sagen«, wich der Kollege Jung aus, weil er sich nicht sicher war. Der Aktenordner, den die Tote vor sich haltend getragen hatte, war von der Kugel durchschlagen worden. Vermutlich der Grund, warum die Energie der Kugel nicht mehr ausreichte, den Körper zu durchschlagen. Aber von daher auf die Art der Waffe zu schließen? Das sollten andere tun.

»Also Gerichtsmedizin?«, fragte der Köstlbacher.

»Unbedingt!«, antwortete der Jung. »Du fragst mich gar nicht, wer die Tote ist?«, fügte der Jung noch erstaunt hinzu.

»Nicht nötig! Ich kenne die Tote!«, antwortete der Köstlbacher.

Du kannst dir vorstellen, wie verblüfft der Kommissar Jung bei diesen Worten dreingeschaut hat. Auch dem Kommissar Liebknecht hat es einen Ruck gegeben. Ohne abzuwarten, was sein Chef für einen Namen nennen würde, hob er die Decke noch einmal an, da ihm vorher durch den breiten Rücken seines Chefs der Blick auf die Tote versperrt war.

Mehr als zwei Sekunden waren es nicht, die der Liebknecht die Decke oben ließ. Blitzschnell drehte er sich wieder weg. Du kennst dem Liebknecht sein Problem ja! Auch nach jetzt schon über zehn Jahren bei der Kripo kann er immer noch kein Blut sehen, ohne dass es ihm den Magen umdreht.

»Linh?«, fragte der Liebknecht mit einer Hand vor dem Mund, falls die Übelkeit überraschend doch noch hochsteigen sollte. »Tran Thi Linh?«

Der Köstlbacher nickte nur.

Möchte man meinen, die beiden hätten nun den Kommissar Jung aufgeklärt. Möchte man meinen! Stattdessen haben beide nur in sich gekehrt auf die zugedeckte Leiche gestarrt. Das hat den Jung gewurmt, weil er sich ausgegrenzt gefühlt hat. Dabei hatte keiner der zwei Kriminaler im Sinn, den Spurensicherer bewusst auszugrenzen. Sie hingen nur im Moment ihren Gedanken nach.

»Kann mich vielleicht einer von euch aufklären?«, unterbrach der Jung die seiner Meinung nach zu lange Schweigeminute.

»Meine Frau hat bei Linh schon öfter etwas zum Ändern hingebracht«, begann der Köstlbacher.

»Wie, zum Ändern?«, fragte der Kollege Jung, der nicht verstand, was der Köstlbacher zum Ausdruck bringen wollte.

»Blusen, Hosen, Kleider, was man eben so alles zu einer Änderungsschneiderin bringt!«, erläuterte der Köstlbacher näher.

»Und woher kennst du sie?«, fragte der Jung den Liebknecht.

»Weil ich schon öfter mal dafür herhalten musste, auf dem Weg die geänderten Teile bei ihr abzuholen«, antwortete der Liebknecht, führte aber nicht näher aus, was er mit ›auf dem Weg‹ meinte. Klar, dass es auf Dienstfahrten geschehen ist. Aber das musste er dem Jung ja nicht auf die Nase binden. Dass er außerdem vor kaum mehr als vier Wochen versucht hat, mit dieser Tran Thi Linh anzubandeln, das behielt er lieber für sich.

»Aha!«, kommentierte der Kommissar Jung nur, weil er nun zwar wusste, dass die Kollegen Köstlbacher und Liebknecht die Tote kannten, aber mehr nicht. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, hier etwas verschwiegen zu bekommen.

Der Köstlbacher, der durchaus bemerkte, dass der Kollege Jung gern mehr gewusst hätte, winkte ab und sagte:

»Was heißt schon ›kennen‹! Kennst du die Blondine, die in der Kantine in der Bajuwarenstraße mittags an der Kasse sitzt? Du siehst sie oft! Aber kennst du sie?«

»Ich verstehe!«, antwortete der Kommissar Jung. So gesehen hatte der Köstlbacher natürlich recht. »Ich dachte nur …«

»Was? Dass ich den Mörder kenne, weil das Opfer mir schon einmal eine Hose kürzer gemacht hat?«

Der Köstlbacher war ganz offensichtlich verärgert. Der Jung hatte dafür zu sorgen, dass an einem Tatort alle Spuren richtig erkannt, katalogisiert und fotografiert würden. Und natürlich hatte er für einen Bericht Sorge zu tragen, der dem Köstlbacher umgehend zur Verfügung stehen sollte. Und anstatt sein Spusi-Team herzubeordern, löcherte ihn der Wichtigtuer mit Fragen.

Der Jung wollte keinen Streit und wechselte das Thema:

»Meine Kollegen müssten eigentlich schon da sein. Informiert sind sie auf alle ­Fälle!«

Bei diesen Worten verschwand der Ärger, der sich im Köstlbacher auszubreiten begonnen hat, schlagartig wieder. Er hatte den Jung zu Unrecht mangelnde Professionalität unterstellt.

»Entschuldigung!«, brummte der Köstlbacher. »Schick mir deinen Bericht zu, wenn du hier fertig bist!«

»Wir werden uns beeilen!«, sagte der Jung und beugte sich über die Tote. Seine drei Mitarbeiter waren soeben in ihren weißen Overalls gekommen, nickten dem Köstlbacher freundlich zu und begannen routinemäßig ihr Programm abzuspulen.

»Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«, fragte der Liebknecht den Köstlbacher, weil er so seinen Chef noch nicht allzu oft erlebt hatte.

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass mit dieser Tran Thi Linh viel Ärger auf uns zukommen wird!«, antwortete der Köstlbacher ausweichend.

»Wie kommst du da drauf?«, fragte er.

»Ist nur so ein Bauchgefühl!«, antwortete der Köstlbacher. In Wahrheit wusste er selbst nicht so recht, was seine Verstimmung so spontan ausgelöst hatte. War es die dem Jung unterstellte Unprofessionalität oder war es der Anblick der ihm bekannten Toten? Oder spielte da ganz etwas anderes eine Rolle? Vielleicht die Befürchtung, seine eigene Familie könnte wieder einmal in einen Fall hineingezogen werden? Passiert war das ja schon. Und nicht nur einmal!

Und jedes Mal war es ein Desaster!

Erst jetzt fiel dem Köstlbacher auf, dass einige Polizeibeamte das Terrain rund um die Tote vorbildlich abgesperrt hatten.

»Dein Werk?«, fragte er, weil er glaubte, der Liebknecht hätte das erledigt, während er mit dem Jung gesprochen hat.

»Da musst du dich schon bei dem Jung bedanken. Der hat sehr umsichtig reagiert, bis wir hier aufgekreuzt sind!«

Jetzt war endlich wieder Arbeit nach seinem Geschmack da. Und dann dieser Einstieg! ›Vielleicht sollte ich mich vom aktiven Dienst zurückziehen!‹, dachte der Köstlbacher insgeheim.

Scherbentanz

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