Читать книгу Spuk für Anfänger - Paul Kavaliro - Страница 4
Verflucht
ОглавлениеPeter hat sich mittlerweile auf dem Fußboden niedergelassen, denn seine Knie tragen ihn nicht mehr. „Bist du wirklich ein Geist, ein Gespenst?“ – „Ganz recht“, antwortet Heidi wie selbstverständlich. Und auch sonst verliert sie nicht viel Zeit, sondern fragt geradeheraus: „Willst du meine Geschichte hören?“ – „Ja, das will ich gerne“, antwortet Peter, der Spuk-Anfänger.
„Wo bleibt denn der Junge nur?“ Peters Mutter trommelt aufgeregt mit den Fingern gegen die Fensterscheibe, vor der sie schon seit einer Stunde steht und in das fahle Mondlicht hinausschaut. Vergeblich wartet sie darauf, dass sich draußen auf dem Weg Peters Silhouette abzeichnet. „Ach, der Junge hat eben noch etwas vor“, hat Peters Vater vor einer halben Stunde noch in unerschütterlicher Selbstsicherheit gesagt. „Morgen ist Samstag und damit Wochenende, da ist das nicht so schlimm!“
Inzwischen ist aber die Selbstsicherheit gewichen, denn auch ein wiederholter Anruf bei Peter hat ihn nur auf der Mobil-Mailbox landen lassen. Dass der Junge auch immer vergisst, sein Telefon zu laden! Und seine Frau versetzt dem letzten bisschen Selbstsicherheit mit einem energischen „Nun tu endlich was und sitz nicht nur herum, Arnold!“ den letzten Todesstoß.
Mit einem angespannten „Ja ja, ich fahr schon los“ wickelt sich Arnold Neumann in seine Jacke und geht zum Auto, um Peter zu suchen. „Karla, ruf du doch in der Zeit mal ...“, ruft er nach oben. – „... seine Freunde an.“ „Du sollst mir doch nicht immer alles vorschreiben“, rutscht Peters Mutter noch schnell ein Vorwurf heraus. Sie beißt sich auf die Lippen, doch zu spät – gesagt ist gesagt. Aber so ist das eben, wenn man Angst hat.
Angst hat Peter keine mehr. Sie ist einer angespannten Interessiertheit gewichen, mit der er Heidis Erzählung aus ihrem Gespensterleben folgt.
Alles fing damit an, dass sie noch als Kind von einem bösen Geist verzaubert wurde und fortan selbst als Gespenst wandeln musste. „Wann war denn das?“ – „Ach, ich weiß nicht so genau, sehr lange her, vielleicht in paar hundert Jahre.“ – „Aha, daher dein Gewand“, geht Peter ein Licht auf, warum Heidi nicht die neueste Mode trägt.
„Warum wurdest du denn überhaupt verzaubert?“ Das ist eine komische Geschichte. Eines Tages kam ein Wanderer an ihrem Elternhaus vorbei. Er bat um ein Lager für die nächsten 1, 2 Tage, denn er war die Woche über in großer Hast gelaufen. Er schien auf der Flucht vor etwas zu sein, machte aber nicht den Eindruck eines Schurken, sodass Heidis Eltern ihn einließen. Der Mann gab Heidi ein Buch und bat sie, sie solle es für ihn bis zu seiner Weiterreise aufbewahren und es gut verstecken, falls komische Dinge geschehen würden und Leute nach ihm fragten. Heidi wunderte sich nicht weiter, Wanderer kamen öfter des Weges. Doch sie konnte nicht widerstehen und schlug heimlich das Buch auf und las darin. Sie konnte in den seltsamen Sprüchen aber keine Bedeutung erkennen. So verbarg sie es weiter in einem Versteck. Der geheimnisvolle Mann schlief lange und tief und kam wieder zu Kräften. Danach machte er sich eilig auf die Weiterreise. Er dankte Heidi, dass sie das Buch für ihn bewacht hatte und bat zum Abschied: „Verrate mich nicht“.
Ein paar Tage später erschien eine bleiche Gestalt in einem düsteren Gewand. Er fragte nach dem Wanderer und dem Buch. Doch Heidi sagte, dass der schon weg sei. Sie wies dem Fragenden die falsche Richtung. Der kam zurück und fluchte, dass er die Spur des Wanderers verloren hätte. Die Gestalt war außer sich vor Wut. Sie sagte, dass sie ein Geist sei und dass sie Heidi bestrafen würde. Und so legte der Geist einen Fluch über Heidi: sie sollte ihre Tage selbst als Geist fristen, genau wie er selbst. „Seitdem bin ich so, wie ich bin.“
„Und jeder läuft vor dir weg?“, fragt Peter. „Meistens“, antwortet Heidi mit Enttäuschung in der Stimme. Na wenigstens ist Peter nicht vor ihr weggelaufen.
„Und als Geist kannst du überall hindurchgehen?“, fragt Peter weiter. „Naja, fast.“ Heidi kann in Häusern durch Regale wandeln, auch durch Wände oder andere Hindernisse. Sie kann sich sogar eine Weile unsichtbar machen, damit sie keiner findet. Aber sie kann dabei den Umkreis ihres früheren Elternhauses nicht verlassen. Der Zauber hat sie in ihren Bann geschlagen und hält sie fest, wie eine unsichtbare eiserne Kette.
„Und was hast du die ganze Zeit über gemacht, die vielen hundert Jahre bis heute?“ Peters Neugier bekommt Flügel. Heidi erzählt, wie sie heimlich den Leuten bei der Arbeit geholfen hat, die später in ihr Haus gezogen sind, nachdem ihre Eltern nicht mehr da waren. Aber bald kam das den Leuten nicht mehr geheuer vor. Sie zogen wieder aus, das Haus verfiel, wurde abgerissen und ein neues gebaut.
Neue Leute kamen. Sie waren reich, aber kaltherzig. Heidi spielte ihnen Streiche, spukte nachts und zweigte etwas Essen in der Küche ab, das sie den Bettlern an der Tür gab. Die Leute entließen mehrmals das Personal, denn sie glaubten ihren Geschichten nicht, dass nachts ein Geist erschien, der etwas zu essen stibitzte und verteilte. Irgendwann verließen die Herrschaften das Haus.
Danach wurde eine Gastwirtschaft eingerichtet, sie hieß „Zum Poltergeist“. Hier konnte sich Heidi so richtig austoben. Je mehr sie spukte, um so mehr Gäste kamen. Sie waren auf der Suche nach Gruselgeschichten und wollten am besten selbst welche erleben. Heidi machte sich unsichtbar, zog Stuhlbeine weg, sodass die Opfer unter dem schallenden Gelächter der anderen Gäste mit dem Allerwertesten auf dem Boden landeten. Aber das war noch harmlos. Öfter trieb sie das Vieh der Wirtsleute mitten durch die Gaststube. Das nannte sie dann „Die wilde Jagd“. Was für eine lustige Zeit!
Peters Vater ist unterdessen gar nicht lustig zumute. Immer noch sucht er nach seinem Jungen. Überall ist er schon gewesen: auf dem Marktplatz, auf dem Fußballplatz, an der Schule. „Tja, dann muss ich wohl doch zur Polizei“, meldet sich seine resignierte innere Stimme. Doch bevor er sich zum Revier aufmacht, fallen ihm Peters Leselust und die Bibliothek ein. Scharf wendet er sein Auto und schlägt die neue Richtung ein. Bald ist er da. Er entdeckt das brennende Licht und es stimmt ihn hoffnungsvoll.
„Und warum steht heute hier kein Restaurant, sondern eine Bibliothek?“, bohrt Peter weiter. Heidi erzählt ihm vom Krieg und der Zerstörung. Später haben die Leute die Stadt wieder aufgebaut und hierhin kam eben die Bibliothek. Das war ein noch viel größerer Segen für Heidi als die Gastwirtschaft, denn jetzt konnte sie nach Herzenslust lesen: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften. „Etwa auch Computerzeitschriften?“ – „Na klar.“ Auch ein Geist muss auf der Höhe bleiben. Sonst wüsste Heidi ja gar nicht, was ein Computer ist.
Peters Blick schweift ab, durch die Fenster nach draußen. Er bemerkt einen Schatten. Schleicht da jemand um die Bibliothek? Was, wenn er hier zu so später Stunde erwischt wird? Da lieber macht er sich aus dem Staube. Peter und Heidi verabreden sich eilig für den Montag, da ist die Bibliothek wieder geöffnet. Schnell löscht Peter das Licht, öffnet ein Fenster und steigt hinaus. Heidi schließt es hinter ihm wieder. Gerade noch kann er ihr kurz zuwinken und sieht, wie sie den Finger auf die Lippen legt. „Pssst!“, heißt das, „verrate mich nicht!“ Peter nickt hastig, er hat verstanden. Da hört er schon ein vorwurfsvolles „Da bist du ja endlich!“ Es ist sein Vater. „Ich, ich war eingeschlossen, weil Frau Keuner wohl früher als sonst gegangen ist.“ Peter versucht, seiner Stimme Festigkeit zu geben. „Naja“, sagt sein Vater, „Lesen bildet. Dann komm mal mit.“
Und erleichtert steigen beide ins Auto und fahren nach Hause. Herr Neumann ist froh, dass er seinen Peter wiederhat und dass er seiner Frau den verlorengegangen Sohn präsentieren kann, um sie zu besänftigen. Das gibt Pluspunkte und tut dem Familienfrieden gut. Peter gehen ganz andere Sachen durch den Kopf. „Verrückt, die Geschichte von Heidi und ihrem Gespensterleben“, denkt Peter, als er durch das Autoglas nach draußen blickt. „Was hast du denn die ganze Zeit gelesen?“, fragt sein Vater. „Ach, so dies und das.“
Die Nacht hat sich inzwischen wie ein Mantel über die Stadt gelegt und genau so wird auch Peter einen Mantel der Verschwiegenheit über seine Erlebnisse von heute breiten.