Читать книгу Spuk für Anfänger - Paul Kavaliro - Страница 6
Diktat mal anders
Оглавление„Nein, ich darf heute nicht an Heidi denken!“, redet sich Peter immer wieder ein, als er am Morgen aufsteht. Heute ist ein wichtiger Tag, denn in der Schule hat er volles Programm: erst Mathe, dann Biologie mit einem angekündigten Test. Für den hätte er eigentlich noch mehr lernen müssen, zum Beispiel in der Zeit, in der er in der Bibliothek Zaubersprüche recherchiert hat. Aber jetzt ist es zu spät für Vorwürfe. Jetzt heißt es, mit Mut die Hürde zu nehmen. Und wenn er diese übersprungen hat, dann erwartet ihn die Krönung des heutigen Tages: ein Diktat beim strengen Lehrer Hauptmann. Was ergeben Biologie-Test plus Diktat? – Richtig, ein ziemlich flaues Gefühl im Magen.
Dieses trägt Peter jetzt zur Schule, vorbei an allen Nachbarn und vorbei an Kalle, der wieder von seiner Clique umringt vor der Schule steht. Bestimmt schert der sich kein bisschen um Tests und Diktate – was für ein sorgenfreies Leben!
Das findet Peter schon fast beneidenswert, aber nur fast. Denn auch wenn Peter kein Streber ist, egal sind ihm die Zensuren in der Schule nicht. Kurz denkt er doch noch an Heidi und dass er sich darauf freut, gemeinsam mit ihr den Zauberspruch von gestern auszuprobieren, damit er sie aus der Bibliothek befreien kann. Aber dann rasselt schon die Schulklingel und Peter schaltet die Gedanken an Heidi einfach aus.
Die erste Stunde beginnt: Mathe bei Frau Schuhmann. Sie hat sich heute viel vorgenommen: geometrische Projektionen. Dazu konstruiert sie komplizierte Grund- und Aufrisse von geometrischen Körpern an der Tafel. Ob das wohl gut geht? Peter ist sich nicht so sicher, denn Frau Schuhmann ist nicht gerade sehr geschickt, eigentlich ist sie schon fast chaotisch. Ständig fallen ihr die Kreide oder ihr Riesen-Lineal herunter. Aber sie lässt sich davon nicht stören, ist immer mit Feuereifer dabei. Wenn sie etwas erklärt, gerät sie manchmal so in Rage, dass sie mit dem Schwamm in der Hand gestikuliert und wild mit den Armen fuchtelt. Dabei entwischt ihr zuweilen der Schwamm und fliegt quer durch die Klasse. Das lockert den Mathe-Unterricht auf, auch wenn das nicht unbedingt Frau Schuhmanns Ziel ist.
Das Schauspiel beginnt. Frau Schuhmann greift ein großes Tafel-Lineal und ein Stück Kreide: „Als erstes zeichnen wir den Grundriss des Körpers, los macht mit!“ Peter wartet auf die erste Katastrophe. Die Schüler, die der Lehrerin am nächsten sitzen, ziehen schon vorsorglich die Köpfe ein, als Selbstschutz vor Frau Schuhmanns impulsivem Unterrichtsstil und den vielen Utensilien, die sie dabei in ihrer Umlaufbahn umkreisen.
In der Klasse schließen die Jungs schon vor der Stunde Wetten ab, nach wie vielen Sekunden sie das erste Mal die Kreide fallen lässt. An den enttäuschten Gesichtern kann man sehen, wessen Zeit verstrichen ist; den strahlenden Sieger erkennt man dann am ebenso strahlenden Lächeln. Die erste Linie an der Tafel ist gezeichnet – ging ja ganz gut. Jetzt muss sie das Lineal drehen und ... nichts passiert. Schwungvoll wird die zweite Linie gezeichnet, dann die dritte, dann immer weiter und – schwupp – dann fällt doch die Kreide runter. Doch was ist das? Sie fällt zu Boden, springt wieder hoch und zurück in Frau Schuhmanns Hand! Peter ist ganz baff. Wo hat sie denn diesen Trick her?
Frau Schuhmann hält inne. Überrascht schaut sie auf die springende Kreide und überlässt dabei ihr Tafel-Lineal seinem Schicksal. Krachend fällt es zu Boden. Aber, gerade so als ob es aus Gummi wäre, federt es zurück in ihre Hand, wie die Kreide vorhin. Jetzt schaut sie sich beide Gegenstände abwechselnd an. Doch offensichtlich reden die nicht mit ihr. Sie schüttelt ungläubig den Kopf, zeichnet weiter.
Der Rest der Zeichnung gelingt ohne Zwischenfälle. Dann ist die Stunde um und Frau Schuhmann ist genau so froh wie Peter, dass alles ohne größere Katastrophen geklappt hat. Sie verabschiedet die Schüler mit einem erleichterten Lächeln. Ob sie wohl insgeheim denkt, dass sie den Lehrerberuf an den Nagel hängen und mit ihrer Lineal-und-Kreide-Nummer im Fernsehen auftreten kann? Sarah Schuhmann – die Gebieterin über Lineal und Kreide. Halt! Peter träumt schon wieder, dabei braucht er all seine Konzentration für die zweite Stunde: Biologie mit Frau Biller und mit dem Test.
Frau Biller ist schon etwas älter und bemüht sich genau wie Frau Schumann sehr darum, dass ihre Schüler etwas lernen. Aber das tut sie weniger mit Feuereifer, unter ständigem Gestikulieren oder mit Hilfe von fliegenden Tafelutensilien, sie fährt stattdessen mehr die harte Linie: öfter hält sie der Klasse eine Standpauke. Dieses Ritual wiederholt sich in gnadenlos kurzen Abständen. „Wer nichts lernt, wird auch nichts im Leben. Ohne Fleiß kein Preis.“ Das alles sind beliebte Slogans. Ist Peters Vater etwa auch bei ihr in die Schule gegangen? Es klingt manchmal so.
Auch erzählt sie dauernd die Geschichte, wie sie früher, als sowieso alles besser war, in der Schule ausgezeichnet wurde, weil sich keiner ihrer Lehrer daran erinnern konnte, dass sie jemals etwas vergessen hätte, kein Buch, kein Heft, nicht mal einen Bleistift. „Das ist schon eine reife Leistung!“, sagt sie dann am Ende ihrer Erzählung und sonnt sich in ihrer Selbstverehrung.
„So, liebe Kinder“, fragt sie wie eine Märchentante, „habt ihr auch alle fleißig gelernt?“ Sie schaut in die Runde. Gequältes Lächeln allerorten. „Wie siehts aus? Wollen wir uns an die Aufgaben machen?“ „Oh, was für eine Folter!“, denkt sich Peter. Jetzt wird sie gleich ihre gefürchteten Aufgabenzettel aus der Tasche ziehen. Bestimmt gibt es wieder 6 verschiedene Gruppen, damit auch ja keine Sitzreihe von einer anderen abschreiben kann – und alle natürlich sorgfältig ausgewogen, ohne Benachteiligungen für irgendjemanden, alles auf den Punkt vorbereitet.
„Ich habe keine Mühen gescheut und 6 verschiedene Aufgabengruppen vorbereitet.“ Peters dunkle Prophezeiungen erfüllen sich umgehend. „Alles ist ganz sorgfältig überlegt und ausgeglichen. Keiner kann sich beschweren. Ihr wisst, so etwas gibt es bei mir nicht.“ Es hätte auch keiner erwartet.
Gleich wird sie ihre Zettel aus der Aktentasche ziehen und austeilen. Dann kann Peter einen erste Prognose geben, was er alles weiß und was nicht.
Mit einem Lächeln, das absolute Überlegenheit ausstrahlt, geht sie zum Lehrertisch und zu ihrer Tasche. Diese Überlegenheit ist keine gewöhnliche, nein, es ist eine ganz besondere. Es ist eine Überlegenheit, wie sie nur aus absoluter Unfehlbarkeit erwachsen kann. Und Frau Biller hält sich für unfehlbar. Jetzt hat sie die Tasche erreicht, greift kühn hinein und … erstarrt zur Salzsäule.
Zehn Sekunden lang passiert gar nichts, außer, dass ihr die Farbe aus dem Gesicht weicht. Dann wühlt sie mit ihrer Hand in der Tasche herum und schaut derweil zur Klasse, mit einem Lächeln. Aber nein, dieses Lächeln ist nicht unfehlbar-überlegen, es ist beschwichtigend, ja schuldhaft. Es ist das Lächeln von jemandem, der bei einer bösen Tat ertappt wurde! „Vorhin waren die Zettel doch noch da!“, beteuert Frau Biller. „Ich weiß gar nicht, wo ...“ Da weicht das ertappte Lächeln aus ihrem Gesicht und das überlegene kehrt zurück. „Wer von euch hat die Aufgabenzettel geklaut?“, durchschneidet ihre Stimme den Raum. Ihre Augen funkeln. Es wirkt. Irgendwie fühlen sich jetzt alle in der Klasse schuldig, obwohl keiner Schuld hat. Die Minuten verrinnen. „Heraus mit der Sprache, wer hat die Aufgaben aus meiner Tasche genommen?“ – „Wie sinnlos“, denkt Peter, „das würde keiner wagen.“ Stimmt, denn die Strafe wären mindestens zehn Stunden Gardinenpredigt von Frau Biller. Das hält kein Schüler aus. Da lieber schreibt man drei Bio-Tests.
Fast ist die Stunde um und von den Aufgaben fehlt noch immer jede Spur. Frau Biller sieht ihre Felle davonschwimmen, denn sie hat den Schuldigen noch nicht gefasst. „Na wartet!“, sagt sie, „beim Hinausgehen kommt ihr alle an mir vorbei und zeigt eure Taschen vor. Ich kriege meine Aufgaben schon zurück!“ Die Durchsuchung beginnt. Peter ist ganz froh, denn so bleibt keine Zeit für einen Test und die Offenbarung seiner Lücken.
Aber ist das nicht trotzdem ein verrückter Tag? Erst Frau Schuhmann und ihre Kunststücke, dann Frau Biller und ihr historisches Vorkommnis, dass sie etwas nicht dabei hat. Was kommt noch alles? Peter würde sich nicht wundern, wenn an Stelle von Hauptmann plötzlich ein Frosch auf dem Lehrertisch sitzen würde.
Aber zu früh gefreut: Herr Hauptmann ist schon da, in seiner gewohnten Gestalt. Seine Miene drückt volle Konzentration aus und lässt jede freudbetonte Schülerregung verstummen. Seine dichten schwarzen Haare hat er mit dem Kamm in einen strengen, akkuraten Scheitel gezwungen. Er ist von großer Statur und flößt allein dadurch den größten Faxenmachern in der Klasse Respekt ein. Überhaupt ist sein Name Programm: er ist der Boss, er sagt, was man zu tun und was man zu lassen hat. Abweichungen? Die sind undenkbar, denn er ist der Hauptmann, er regiert, keiner sonst: denn das Lernen wie das ganze Leben brauchen Ernsthaftigkeit.
Ist Hauptmann ein böser Mensch? Nein, eigentlich nicht, vielleicht ist er im Geheimen, in seiner im Panzerschrank eingeschlossenen Seele sogar nett? Peter weiß es nicht und eigentlich mag er es auch nicht herausfinden. Strenge Lehrer lässt man lieber in Ruhe. Und dass im Deutschunterricht nicht der rechte Frohsinn aufkommt, so wie in Mathe, wenn Frau Schuhmann beim Gestikulieren Gegenstände durch die Klasse feuert, damit hat sich Peter schon lange abgefunden.
„Heute schreiben wir ein Diktat“, beginnt Hauptmann die Stunde ohne Umschweife. Stimmt, ein Mann großer Worte ist er nicht. Er erklärt oder bestimmt etwas, beides kurz und knapp. „In der Kürze liegt die Würze“, ist sein Spruch, den er aber nur an besonderen Tagen bringt, denn der ist als Reim zu nahe am Humor gebaut. Humor und Hauptmann fangen zwar beide mit H an, aber das ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Manchmal denkt sich Peter, dass Gerd Hauptmann bestimmt allergisch gegen Humor ist.
„Schlagt die Diktathefte auf!“, reißt der nächste Befehl des Klassen-Hauptmanns Peter aus seinen Träumer-Gedanken. „Ich habe euch wie immer einen vernünftigen Text herausgesucht, den ihr bitte ohne Fehler zu Papier bringt.“ Das soll bestimmt der letzte Motivationsschub für die unmotivierten Schüler sein, die sonst zu viele Fehler machen, denkt sich Peter. So ein Blödsinn, als ob man sich das heraussuchen könnte.
Genüsslich nimmt Hauptmann ein paar zusammengeheftete Blätter zur Hand. Auf ihnen ist das Diktat abgedruckt. Würdevoll blättert er das Deckblatt um, sodass alle die Überschrift sehen können: Die Räuberbande. Wie sie ihren Lehrer kennen, wird das die einzige Hilfestellung des heutigen Tages sein. Beflissen fangen die strebsamsten Schüler bereits an, die Überschrift zu notieren.
Hauptmann räuspert sich und fängt an zu diktieren: „Die Rrrrrrr.“ Er räuspert sich. Dann spricht er wieder: „Die Rrrrrrr.“ Jetzt hustet er ein lautes, verzweifeltes Hustengewitter, um seine Sprachblockade aus dem Hals zu fegen. Noch einmal, in Ruhe: „Die Rrrrrrr“ Nein, er wird seine Sprachstörung nicht los. Vielleicht hilft es, wenn er den Rest des Textes vorliest? Er probiert es, aber kein Wort außer ein paar gequälten „Rrrrrrr“ kommt über seine Lippen.
Peter glaubt nicht, was er da hört. Er schreibt es auf, schließlich ist das hier ein Diktat. Einer der Schüler hält es nicht mehr aus und prustet los. Jetzt gibt es kein Halten mehr – die Spannung entlädt sich in einem lauten Schülerlachen. Alle lachen mit, ungläubig zunächst, aber sie lachen. Lachen – in Deutsch, bei Hauptmann! Das hat noch keiner je erlebt, in 20 Jahren Schuldienst nicht! Hauptmann ist außer sich, sagt aber kein Wort – kein Rrrrrrr und auch kein richtiges. Eilig sammelt er die Diktate ein und stürzt aus der Klasse, so als ob er vor einer wahrhaftigen Räuberbande flieht.
Was für eine Blamage – der Lehrer eine Lachnummer und alle Schüler mit einer 1 im Diktat, denn so ein paar Rrrrrrrrs richtig hinzuschreiben, das kriegt jeder hin.