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Aller Abschied fällt schwer

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Auf dem Weg zur Penne kam mir täglich eine junge Frau mit einem Moped entgegen. Man konnte die Uhr nach ihr stellen, denn pünktlich um 7.00 Uhr brauste sie an mir vorbei und grüßte jedes Mal freundlich. Wie sich Corinna mit ihrer orangefarbenen Schwalbe in die Kurven legte, war sehenswert.

Ich kannte sie flüchtig, weil sie in der LPG Tierproduktion arbeitete, in der auch meine Eltern unseren Lebensunterhalt verdienten. Corinna gefiel mir mit ihrer mittelblonden Mähne und dem schelmischen Lächeln auf Anhieb. Sie hatte graugrüne Augen, einen begehrenden und zugleich begehrenswerten Blick sowie Kurven satt. Ihre weibliche Figur verlieh jeder Kleidung etwas Besonderes, das nicht nur meine Sinne, sondern auch mein Herz berührte. Wenn ich Corinna irgendwo sah, dann ging es mir gut.

Um an Informationen über diese Frau zu kommen, bemühte ich ihren jüngeren Bruder, der die Berufsschule in der Nachbarkreisstadt besuchte und ebenfalls mit dem Zug fuhr. Doch Ralf kapierte nicht, dass ich Gefallen an seiner Schwester gefunden hatte. Er war so verschlossen, dass ich kaum etwas aus ihm herausbekam. Deshalb musste ich mich selber kümmern.

Sehnsüchtig fieberte ich den wöchentlichen Trainingsstunden der Damen-Gymnastikgruppe unseres Dorfes entgegen und beobachtete Corinna, die sich elegant über den Mattenboden bewegte. Eine bessere Vorturnerin hätten sich die Feierabendsportlerinnen nicht wünschen können. Während der Festumzüge am 1. Mai und 7. Oktober stand ich am Straßenrand, um Corinna zu sehen, die stolz im Gleichschritt des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR marschierte. Die Lebensfreude, die von ihr ausging, wirkte ansteckend auf mich. Wenn ich Corinna mit meinen bisherigen Eroberungen vergleiche, müsste ich die jungen Frauen kränken. Um nicht missverstanden zu werden: Alle Mädels waren auf ihre Art liebenswert und ich bereue keine der Beziehungen. Jedoch steckte der Damennachwuchs wie ich in der pubertären Erkundungsphase. Corinna wirkte auf Grund ihrer gesammelten Lebenserfahrungen wesentlich reifer. Doch ich machte mir keine Hoffnungen, da sie fünf Jahre älter war und zwischenzeitlich auch verheiratet. Mit diesen Tatsachen wollte ich mich aber nicht abfinden. Auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit, meinen Schwarm wiederzusehen, wurde ich rasch fündig.

Mein lahmes Moped, das ich mir vom Jugendweihegeld kaufte, hatte ich mit Wertausgleich gegen ein Motorrad vom Typ MZ TS 150 eingetauscht, das nicht anspringen wollte. Trotz neuer Zündkerze gab das Motorrad keinen Laut von sich. Wütend warf ich das Werkzeug durch die Gegend bis unsere Garage einem Schlachtfeld glich. Ich muss zugeben, dass ich von dem technischen Kram keine Ahnung hatte. Auch mein Sinn fürs Praktische ließ leider zu wünschen übrig. Aber ich erkannte wenigstens, dass ich fachmännische Hilfe brauchte, um mein Problem zu lösen. Da nur wenige, ausgewählte Haushalte im Dorf über einen Telefonanschluss verfügten, radelte ich zum LPG-Büro. Von dort aus wollte ich eine Werkstatt anrufen, um einen Reparaturtermin zu vereinbaren. Als ich schüchtern den Raum betrat, verflog der ganze Ärger mit dem Motorrad. Meine Traumfrau, die auf eine Optima-Schreibmaschine einhämmerte, grüßte freundlich, ohne das Tippen zu unterbrechen. Hinter ihrem rechten Ohr klemmte ein spitzer Bleistift, was mir Respekt einflößte. In diesem Moment vergaß ich sämtliche Komplimente, die ich mir mühsam ausgedacht hatte. Ich war so nervös, dass ich erst nach einigen Augenblicken den Mut fand, sie anzusprechen. Mit rotem Kopf schilderte ich das technische Problem und bat die Sekretärin um Unterstützung. Corinna unterbrach ihre Arbeit und musterte mich von oben bis unten. Wenn ich das geahnt hätte, wäre mein Blaumann in der Garage geblieben. Wer im Dorf nicht mit Arbeitssachen oder Trainingsanzug umherlief, der hatte Geburtstag oder es war Feiertag. Corinna verschränkte beide Arme, sah mitleidig zu mir rüber und bemerkte, „dass der Teufel manchmal direkt im Detail stecken würde“. Ich hielt die vortreffliche Fehlerdiagnose der Tippse für blanken Wahnsinn und sah sie mit einer Mischung aus Anerkennung, Staunen und Zuneigung an. Corinna blätterte im Telefonbuch, wählte die Nummer der Werkstatt und reichte mir den Hörer. Aufgeregt griff ich daneben und spürte ihre warme, weiche Hand, die ich nicht mehr loslassen wollte. Mein Telefonat geriet völlig zur Nebensache, als sie sich lässig zurücklehnte und die Arme hinterm Kopf verschränkte. Verlegen schielte ich auf ihr pralles Dekollete, das die Rüschenbluse in Altrosa ausfüllte. In diesem Moment wurde mir klar, dass Corinna mehr verdient hatte als meine heimliche Bewunderung. Diese Frau hätte man mit Küssen überschütten müssen in jeder Sekunde des Tages und warum sollte ich das nicht tun.

Wenn der LPG-Vorsitzende nicht ins Zimmer geplatzt wäre, hätte ich wahrscheinlich die Beherrschung verloren. Stattdessen bedankte ich mich höflich und verließ das Büro in der Hoffnung, dass ich der freundlichen Sekretärin in Erinnerung bleiben würde.


Der Autor mit seiner MZ TS 150

Ein anderes Mal traf ich Corinna im Dorfkonsum, wo sie in der Mittagspause regelmäßig einkaufte. Sie trug ein braunes Stoffkleid, welches vorne durchgehend zu knöpfen war. Die an beiden Enden offene Knopfleiste gestattete tiefe Einblicke. Ich hätte beinahe vergessen, die Konsummarken zu verlangen, die meine Mutter sammelte. Corinna stand vor dem Feinkostregal, sah einmal nach links, einmal nach rechts und wieder nach links. Scheinbar unbeobachtet, griff sie gezielt nach dem Mostrich aus Bautzen. Es blieb jedoch nicht bei einer Büchse. Sie hortete emsig, denn ich zählte 36 Stück in ihrem Einkaufskorb. Wofür brauchte man soviel Senf? Während ich noch überlegte, fand der Hamsterkauf bereits die ersten Nachahmer. Alle Kundinnen, die Corinna beobachtet hatten, griffen eilig zum Mostrich. Es entbrannte ein regelrechter Kampf um die verbliebenen Büchsen im Regal. Die Leute tuschelten, dass demnächst ein Senfmangel im Handel bevorstände. Ich staunte über das auffällige Kaufverhalten, das meine Traumfrau mit ihrer Hamsteraktion auslöste. Als sie die Ware an der Kasse bezahlte, ging ich zurück und packte sicherheitshalber zwei Büchsen Senf in meinen Einkaufskorb. Man konnte ja nie wissen, wann es wieder neuen Mostrich gab. Ich hätte gerne mehr genommen, aber das Feinkostregal war leergefegt.

Genau 14 Tage vor meiner Einberufung sah ich Corinna bei einer Disko, wo sie in einem grünen Strickpulli und hautengen Bluejeans den Saal rockte. Der Anblick dieser Geheimwaffe bestätigte meinen Entschluss, endlich anzugreifen. Aber beim Tanzen geht es bekanntlich darum, der Mensch zu sein, der man gerne sein möchte. Leider wusste ich noch nicht, wer ich sein wollte und das Auseinandertanzen lag mir überhaupt nicht. Die Frau auf diesem Wege zu erobern, fiel aus. Ich tanzte lieber zusammen oder rockte bei „Hiroshima“ von Wishful Thinking kniend auf dem Fußboden. Dabei konnte man keinem auf die Schuhe treten. Einen Kompromiss bildete die langsame Runde, die häufig als seichtes Vorspiel am Ende der Veranstaltung gespielt wurde. Im Dunkeln hätte niemand einen Fehltritt bemerkt. Wenn ich schon nicht alt genug war, musste ich wenigstens für mein Alter perfekt wirken. In einer Pause habe ich mir beim Diskjockey mein Lieblingslied, „Am Fenster“ von City, gewünscht, das er sowieso zum Abschluss spielen wollte. Als ich die ersten Geigenklänge aus den Lautsprecherboxen auf der Bühne hörte, forderte ich Corinna zum Tanzen auf. Sie lächelte verschmitzt und folgte mir unsicher aufs Parkett. Die neugierigen Blicke ihrer staunenden Freundinnen ignorierte ich. Beim Tanzen bewegten wir uns kaum von der Stelle. Während ich still ihre Nähe genoss, plapperte Corinna munter drauflos wie das Frauen so an sich haben. Da ich nur die Hälfte der Nettigkeiten verstand, schmiegte ich mich noch enger an sie heran. Für diesen Augenblick hatte ich den ganzen Aufwand betrieben und wurde nicht enttäuscht. Irgendwann küsste ich Corinna flüchtig auf den Mund. Sie erwiderte meinen Kuss und ich küsste länger. Das klebrige, rote Zeug auf ihren weichen Lippen reichte für zwei. Unsere kleinen, heimlichen Zärtlichkeiten bestärkten mein Verlangen, dass dieser gemeinsame Abend kein Ende nehmen sollte. Nach der Disko brachte ich Corinna bis vor die Haustür und fragte zur Ablenkung nach dem vielen Senf, worauf eine einfache Erklärung für den Hamsterkauf folgte. Die Mutter von Corinna, die Verkaufsstellenleiterin im Konsum des Nachbarortes war, hatte vergessen, Senf zu bestellen. Die kluge Geschäftsfrau beauftragte ihre Tochter, den Senf im Nachbarort zu kaufen, um einem Mangel im eigenen Laden vorzubeugen. Der Senf, der mir als Vorwand diente, spielte längst keine Rolle mehr.

Ich küsste und umarmte Corinna. Natürlich begehrte ich diese Frau, die energisch versuchte, mich abzuwimmeln. Warum nur bemühte sich Corinna, mir zu widerstehen? War ich tatsächlich zu jung für sie? Sie blieb hartnäckig und rückte den Haustürschlüssel nicht heraus. Allein die Kälte dieser Oktobernacht wäre ein guter Grund gewesen, mich aus reiner Nächstenliebe mit nach oben zu nehmen. Kurz vorm Morgengrauen gab sie endlich nach und zeigte mir ihre Einraumwohnung, die direkt unterm Dach des Mehrfamilienhauses lag. Verrückt nach Liebe landeten wir auf der gemütlichen Klappcouch, wo ich eine solch bedingungslose Hingabe und Leidenschaft spürte wie ich sie bisher nicht kannte. In dieser Nacht hörte Corinna endlich auf ihr Herz anstatt auf den normalen Menschenverstand. Noch Tage später atmete ich ihren unwiderstehlichen Duft an meinem Körper. Die Frau ging mir förmlich unter die Haut. Leider war sie zu dieser Zeit mit einem Armeeangehörigen liiert, der gegen das Oder-Hochwasser kämpfte. Von einer wissbegierigen Nachbarin erfuhr ich, dass wir uns die Klinke in die Hand gaben.

Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass Corinna eine Nummer zu groß für mich war. Liebevoll erzog sie ihre kleine Tochter Meike. Pflichtbewusst arbeitete sie als Sekretärin im LPG-Büro. Während der Urlaubszeit half sie auf dem Feld oder im Stall. In ihrer praktisch eingerichteten Mansarde herrschten Ordnung und Sauberkeit. Corinna konnte waschen, kochen und backen. Sie mochte Rockmusik aus England, romantische Liebesfilme und verschiedene Literaturklassiker. Mir imponierte, dass sie die Bücher in ihrem Regal tatsächlich gelesen hatte. Was sich Corinna auch in den Kopf setzte, sie zog es konsequent durch und vergeudete dabei keinen Augenblick. Damit legte sie hohe Maßstäbe an sich selbst. Von dieser Frau konnte ich mir eine ordentliche Scheibe abschneiden, denn sie wusste, worauf es im Leben ankam. Obwohl ich mir keine Hoffnung auf eine feste Beziehung mit ihr machen durfte, schwor ich mir damals, die oder keine. Nach meinem Abschiedsspiel vorm Grundwehrdienst gab es nicht nur das Siegerbier in der Umkleidekabine. Mein Torwartkollege Norbert brachte selbstgemachten Pflaumenschnaps mit. Der Obstlikör schmeckte lecker und verursachte anfangs kein Kopfweh, doch nach einer gewissen Zeit drehte sich alles vor meinen Augen. Zwei Mitspieler brachten mich nach Hause, wo ich meinen Rausch ausschlief. Als mich Norbert am Abend zur Abschiedsparty abholte, hätte ich lieber weiter geschlafen, aber meine Freunde erwarteten mich in der Bahnhofsgaststätte. Auf dem Weg dorthin kam ich mächtig ins Schwanken. Allein hätte ich die Strecke sicher nicht geschafft. Vorm Dorfkonsum begegnete uns eine Nachbarin, die ihren Hund Scharik ausführte. Dieser merkwürdige Name entstammte dem treuen Gefährten von Janek aus der polnischen Fernsehserie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“. Ich muss mächtig getorkelt sein, weil mich der vertraute Schäferhund in diesem Zustand nicht erkannte. Auf gleicher Höhe angekommen, sprang Scharik an mir hoch und biss mir in den linken Unterarm. Vor Schreck war ich sofort wieder nüchtern. Zum Glück trug ich meine Jeansjacke unterm Anorak, so dass Fleisch und Knochen wenig abbekamen.


Mannschaftsfoto vorm Abschiedsspiel

Trotz dieses Missgeschickes wurde es ein geselliger Abend für alle Beteiligten. Die Wirtsleute Emmi und Heiner hatten den Billardtisch zu einer festlichen Tafel umgestaltet. Heiner schützte den grünen Filz mit einer exakt angepassten Holzplatte und Emmi deckte ein weißes Tischtuch darüber. Ich mochte das freundliche Ehepaar mit den kleinen Macken. Emmi sah heimlich Westfernsehen. Wenn Heiner sie dabei überraschte, schaltete er sofort auf einen Ostsender um. Das aktive Mitglied der Kampfgruppe befürchtete, dass sich Emmi im Dorf verplappern könnte. Dabei guckten viele Einwohner ARD und ZDF, aber nur wenige sprachen darüber.

Den Abschied feierte ich gemeinsam mit Jörg, weil wir beide zur Ausbildung nach Eisenach mussten. Mein Mitstreiter, der ein Jahr älter war, wohnte direkt neben der Gaststätte. Wie unser Land im Großen bildeten wir an diesem Abend eine geschlossene Gesellschaft im Kleinen, was ein Schild am separaten Eingang zum Billardraum dokumentierte. Im anderen Teil der Gaststätte lief der normale Kneipenbetrieb weiter. Emmi und Heiner hatten eine Menge Arbeit. Zur Einstimmung auf den Grundwehrdienst übten wir das Marschieren. Anstelle einer Waffe schulterte jeder einen Billardqueue. Der Gleichschritt stellte für Jörg kein Problem dar, nur ich verlor plötzlich das Gleichgewicht und rammte den Tresen. Das Päckchenbauen beendete unser vormilitärisches Treiben. In Anlehnung an das Fertigmachen zur Nachtruhe bei der Armee wurden die Klamotten fein geordnet auf einem Hocker zusammengelegt. Wir übten mit der Kampfgruppenuniform und der langen Baumwollunterwäsche vom Gastwirt. Leider verstand Jörg die Aufgabe falsch. Er zog sich vor allen Anwesenden splitternackt aus, was einigen seiner Mitschülerinnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Schwankend versuchte er, die viel zu große Unterwäsche überzustreifen. Da er mit beiden Beinen in ein Hosenbein stieg, bekam mein Freund mächtig Schlagseite. Beim Versuch, sich abzustützen, verlor er das Gleichgewicht und landete mit den Händen auf den Tellern seiner Nachbarinnen. Zwei angebissene Zigeunersteaks, ein Teil der goldgelben Pommes sowie die Sättigungsbeilage landeten auf der Tischdecke. Fettige, rotbraune Flecken zierten das weiße Tuch und die lange Unterwäsche von Heiner. Während der Wirt sich den Ärger nicht anmerken ließ, starrten die Mädels ihren Mitschüler Jörg entsetzt an. Der Rest der Feier fehlt in meinem Gedächtnis.

Am nächsten Morgen war das Aufwachen umso schöner. Gemeinsam mit Corinna und Meike genoss ich meinen vorläufig letzten Sonntag in ziviler Freiheit. Ich gab mich äußerlich gelassen, aber diese Lockerheit war nur gespielt. Seitdem ich meinen Einberufungsbefehl in der Tasche hatte, zerriss es mir das Herz, wenn ich an Abschied dachte. Ich wollte nicht fort, denn ich befürchtete den Verlust von menschlicher Wärme und Geborgenheit. Abseits von persönlichen Verpflichtungen, Planerfüllung und Vorbildwirkung hatten wir eine wohltuende Nische gefunden, in der der Altersunterschied zwischen Corinna und mir keine Rolle spielte. Dort waren wir gleichberechtigte Menschen mit Träumen und Wünschen und keine sozialistischen Persönlichkeiten. Insofern bildeten die beiden Wochen vor meiner Einberufung die glücklichste Zeit meines Lebens, die Lust auf mehr machte. Von der großen Liebe hatte ich keine Ahnung, weil ich dieses Gefühl bisher nicht kannte. Noch nicht. Ich war zu jung, um zu begreifen, dass ich bereits liebte. Wahrscheinlich überforderte mich dieses Eingeständnis, mit dem ich mich konkret auf einen Menschen festlegte. Dabei hatte ich die Liebe des Menschen, den ich am meisten mochte, längst angenommen.

Am 3. November 1982 brach eine neue Zeitrechnung für mich an, 542 Tage Grundwehrdienst lagen vor mir. Die Kälte des Herbstes stand in krassem Gegensatz zu meinem Abschied von Corinna. Ein langer Kuss beschrieb alles, was wir in diesem Augenblick füreinander empfanden. Immer wieder riss ich mich los und kam zurück, um Corinna noch fester zu umarmen. Schließlich kehrte ich nicht mehr um.

Mein Vater fuhr Jörg und mich zum Bahnhof in die Kreisstadt, dem so genannten Gestellungspunkt. Dort trafen sich alle Rekruten des Kreises zur Abfahrt nach Eisenach. Ich hatte keinen Alkohol eingepackt, wollte ich doch mit einem klarem Kopf im Grenzausbildungsregiment ankommen. Meine Haare waren kurz, dass ich in der Ausbildung nicht sofort aneckte. Wenn ich mit meinem Vater allein im Auto gewesen wäre, hätte ich ihn wieder gefragt, wie viele Menschen er im Krieg erschossen hatte, um sich zu verteidigen. Die Antwort blieb er mir schuldig. Vor Aufregung brachte ich kein Wort heraus. Mein Leidensgenosse hinter mir blieb ebenfalls still. Er machte Blasen mit seinem Kaugummi, was den nervösen Fahrer sichtlich störte. Regelmäßig schaute er in den Rückspiegel. Mir war klar, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Der Vulkan neben mir brodelte. Es schien eine Frage der Zeit, wann er ausbrechen würde. Mit einem Glückspfennig schob ich die Haut über die Halbmonde meiner Fingernägel zurück und wünschte mir nichts sehnlicher als eine Autopanne, um den Zug nach Eisenach zu verpassen. Aber unser 408er Moskwitsch, Baujahr 1970, lief zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. „Diese Russenkarren sind unverwüstlich“, prahlte unser LPG-Vorsitzender immer und der musste es wissen. Schließlich transportierte er mit einem alten Mossi riesige Findlinge vom benachbarten Acker in seinen Steingarten.

Der Motor vom Moskwitsch dröhnte in den unteren Gängen fast so laut wie ein Traktor. Ein Autoradio auf voller Lautstärke hätte es nicht geschafft, dieses Geräusch zu übertönen. Wir besaßen ein solches Gerät nicht im Fahrzeug, weil sich mein Vater auf den Verkehr konzentrieren musste. Er hielt sich konsequent an die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung. Manchmal rollten wir im Leerlauf die Berge hinunter oder schlichen untertourig im höchsten Gang. Kurz vorm Abwürgen des Motors schaltete er herunter. Dabei umklammerte er in Zehn vor Zwei-Stellung das Lenkrad wie im Lehrbuch. Wenn der Vati am Steuer saß, wusste ich nie so richtig, ob ich die Augen öffnen oder besser schließen sollte. Doch zum Meckern fehlte mir die Lust. Ich gebe zu, dass wir uns nicht immer verstanden haben. Aber ich zweifelte nie daran, dass ich mich auf meinen Vater verlassen konnte. Wenn ich ihn brauchte, war er für mich da. Selbstverständlich mochte ich den Griesgram über alles, doch in den letzten Tagen fanden wir nur selten eine gemeinsame Sprache. Dieser Zustand machte mir Angst. Über der Stille lag eine seltsame Spannung. Wir schwiegen nicht miteinander, sondern gegeneinander. In Gedanken ließ ich die beiden Wochen mit Corinna Revue passieren und bereute keinen Augenblick. Plötzlich überwand mein Vater seine Zurückhaltung und sprach von einer Episode in meinem Leben, woraus ich schlussfolgerte, dass er gegen diese Beziehung war. Wahrscheinlich hatte ihn meine Mutter damit beauftragt. Ich fühlte mich vor den Kopf gestoßen und so verstrichen weitere Minuten, in denen keiner etwas sagte. Der Ratschlag meiner Eltern missfiel mir, obwohl ich Verständnis dafür hatte. In der Vergangenheit mussten sie sich oft neue Namen einprägen. Ob Kirsten oder Jana aktuell waren, wussten meine Eltern nie. Ihnen fehlte die Kontinuität in meinen Beziehungen. Wie sollte ich ihnen glaubhaft vermitteln, dass Corinna die Richtige für mich war? Die Fahrt in die Kreisstadt reichte dafür nicht aus. Da ich beim Abschied keinen Streit wollte, enthielt ich mich der Stimme. Jörg saß schmunzelnd auf dem Rücksitz. Selbst er hatte bemerkt, dass mir Corinna gut tat. Von diesem Glück musste ich den Vati überzeugen, denn ich brauchte einen Fürsprecher in der Familie. Mein alter Herr stand auf meiner Seite, seit ich ihn eines Tages beim heimlichen Rauchen erwischte. Meine Mutter schickte mich ins Dorf, um ihn zu suchen. Mir war klar, dass er sich in einer unserer beiden Gaststätten aufhalten würde. Neugierig betrat ich die Bahnhofskneipe und erblickte meinen Vater, der am halbvollen Stammtisch saß und genüsslich an einer Jägerstolz-Zigarre zog. Nicht zu fassen, dachte ich mir und bekam einen Schreck. Sein knallrotes Gesicht signalisierte mir, dass er den glimmenden Stummel am liebsten verschluckt hätte. Mein alter Herr fühlte sich ertappt. Verunsichert nahm ich neben ihm Platz. Obwohl der stinkende Stumpen im Aschenbecher landete, musste ich husten von dem ganzen Qualm. Der Vati spendierte eine Fassbrause und bat mich, seinen Rückfall ins ungesunde Laster daheim zu verschweigen. Schließlich galt er seit Jahren als Nichtraucher in der Familie. Meine Verschwiegenheit belohnte er großzügig mit vielen Freiheiten.

Mein Vater ist ein großartiger Mensch gewesen, mit dem ich gern die Zeit verbrachte. Er war immer dabei, wenn Höhepunkte in meinem Leben anstanden und vermittelte mir die nötige Sicherheit, die Aufgaben erfolgreich zu meistern. Leider habe ich ihm nie gesagt, dass ich mich in seiner Obhut geborgen fühlte.

Wir hatten nur wenige Gemeinsamkeiten. Mein alter Herr war kein Mannschaftssportler wie ich, sondern ein verbissener Einzelkämpfer, der ehrgeizig Kraftsport betrieb und sich beim Angeln entspannte. Ich fuhr mit zum See, weil ich von ihm lernen wollte. Anfangs konnte ich nie meine große Klappe halten und fragte ständig, ob ich denn schon still sein müsse, um die Fische nicht zu verscheuchen. Wir hatten nicht einmal richtige Angelgeräte. Mein Vater brachte mir bei, wie man mit einem scharfen Taschenmesser eine ordentliche Rute vom Baum abschnitt. Dabei mahnte er ständig, mit dem Messer vom Körper weg zu schneiden. Während ich diese Prozedur früher als Erziehung empfand, rechne ich sie heute zur Familientradition, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Mein Vater vermittelte mir Erfahrungen, die von seinem Papa stammten und diese Tradition hätte ich gerne fortgesetzt.

Wenn ich meinen alten Herrn darum bat, spannende Geschichten von früher zu erzählen, schilderte er detailliert, wie er im Jahre 1936 das Reichssportjugendabzeichen ablegte. Fragte ich ihn direkt nach seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg, dann verstummte er. Er redete nicht gern vom Überlebenskampf 1944 in der Wüste Nordafrikas. Wie viele andere zwang man ihn in den Krieg, obwohl er jede Form von Ungerechtigkeit verabscheute. Mein Vater sprach von Angst und nie vom Mut, diese Angst zu besiegen. Daher sehe ich in seinem Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nach Kriegsende eine konsequente und mutige Entscheidung. Ich erinnere mich noch gut an seinen Wutanfall, als er mich beim Lesen des verbotenen Buches „Mein Kampf“ erwischte, das er unter seinen akkurat zusammengenommenen Socken im sicheren Versteck wähnte. Mein Vater wollte mich vor dieser größenwahnsinnigen Lektüre schützen, die für das Verständnis des deutschen Faschismus so wichtig ist. Für seinen Einsatz in Afrika hätte er sich niemals gerühmt, denn er war nur ein einfacher Militärkraftfahrer, der gesund nach Hause kommen wollte. Wenn die Reifen seines Jeeps in der Wüste qualmten, musste er anhalten und dagegen pinkeln, um den Gummi abzukühlen. Nannte er das etwa Kampf?

Meine Gedanken wurden in diesem Moment so ungerecht und verletzend, dass ich mich selbst vor ihnen fürchtete. Mein alter Herr war gewiss kein Held, aber ein Vorbild, das ich unbedingt bei unseren internen Wettkämpfen schlagen wollte, die da lauteten: Wer fing den ersten und den letzten Fisch und wer hatte am Ende die meisten geangelt? Einmal gewann ich alle drei Disziplinen, obwohl ich nur einen einzigen Fisch fing. Mein Vater redete den ganzen Tag kein Wort mehr mit mir. Manchmal sind wir richtige Rivalen gewesen, weil ich alles besser machen wollte als er. Warum gönnte mir mein Vater, der selbst nichts anbrennen ließ, das Glück mit Corinna nicht? Hielt er diese Frau für ein Flittchen, das kleine Jungs verführte oder war er einfach nur neidisch auf seinen Sohn? Das Gerede meiner Eltern vom großen Altersunterschied konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, denn Corinna und ich harmonierten bestens. Hatte ich ihnen bisher alles recht machen können, missfiel mir der Gedanke an ständigen Gehorsam. Irgendwie musste ich mich doch abnabeln. Ich wollte Corinna um jeden Preis, dessen war ich mir sicher. Schließlich kann man nicht alles über den Haufen werfen, wenn es unbequem wird oder den Eltern nicht in den Kram passt. Mein Vater schwieg. Vorwurfsvoll blickte ich ihn beim Aussteigen an und merkte, dass mein Vorbild zu bröckeln begann. Mir fehlten das Verständnis und die Toleranz, die er mir selbst stets vermittelte. Obwohl der Sonderzug nach Thüringen reichlich Verspätung hatte, verabschiedete sich mein alter Herr hastig von uns. Eine herzliche Umarmung verwehrte er mir. Wortlos fuhr er auf und davon.

Ich hatte einen Schießbefehl

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