Читать книгу Ich hatte einen Schießbefehl - Paul Küch - Страница 7
Frühjahr 1983
ОглавлениеSamstag, 19. März 1983. Wir fahren von Weidenbach in Richtung Staatsgrenze. Die malerische Landschaft im Eichsfeld mit Zäunen und Minen? Für mich unvorstellbar. Stattdessen denke ich an Corinna und meine Eltern, denen ich keine Schande bereiten will. Das ist leichter gesagt als getan. Schließlich bin ich mit einem Schießbefehl, einer Kalaschnikow und zwei Magazinen mit je 30 Stahlkernpatronen unterwegs, „um Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten“. Der Befehl schockiert, wenn man ihn zum ersten Mal bei der Vergatterung hört. Das Kopfsteinpflaster am Ortsausgang von Weidenbach schüttelt mich ordentlich durch.
Der Weg in den Grenzabschnitt heute
Eine verschlossene Schranke am Waldrand verhindert das Passieren fremder Fahrzeuge. Da wir spät dran sind, bleibt der rot-weiße Schlagbaum nach unserer Durchfahrt oben. Wenn der Kompaniechef das erfährt, gibt es Ärger für unseren Zug. Der Oberst kann die Schranke aus seinem kleinen Toilettenfenster im Buckelbau sehen.
Unser Lkw rast mit einer Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern den schmalen, holprigen Waldweg entlang. Hoffentlich kommt uns kein Fahrzeug entgegen. Vorbei an der Burgruine Altenstein erreichen wir Asbach. Das hört sich nach feinem, altem Weinbrand an. Doch hier liegt nicht der Geist des Weines, sondern ein provokationsgefährdeter Abschnitt. Was damit gemeint ist, werde ich bald erfahren.
Der Lkw stoppt am Ortseingang. Mein Postenführer ist längst herunter geklettert und auf dem Weg zum Grenzsignalzaun (GSZ), während ich wie versteinert auf der Ladefläche verharre.
„Achtzig, absitzen!“, das Kommando gilt mir, einem 19-jährigen Soldaten der Grenztruppen der DDR, der sofort über die hintere Ladeklappe springt und unsanft auf dem Hosenboden landet. Meine Postentasche liegt direkt neben mir im Dreck. Eine dampfende, dunkelbraune Brühe rinnt aus der Tasche, die unsere Verpflegung für die bevorstehende Schicht enthält. Zum Glück ist nur eine Thermosflasche zu Bruch gegangen. Mein Postenführer schüttelt verständnislos den Kopf. Er schaut ausdruckslos und soll mir damit ein Vorbild sein. Das Postenpaar der Frühschicht übergibt den Bereich Asbach ohne Anzeichen einer Grenzverletzung. Die Vorgänger klettern auf den Lkw, der weiter nach Sickenberg braust. Mit einem Ast verwische ich alle Fußabdrücke auf den 2 m-Kontrollstreifen und verschließe das Tor im Grenzsignalzaun von innen. Über das Grenzmeldenetz (GMN) formuliert der Gefreite den Entschluss, zum Beobachtungsturm (BT) Asbach zu wechseln. Dorthin gelangen wir über die bestgesicherte Straße der Republik, den Kolonnenweg, der hier parallel zum Grenzzaun 1 verläuft. Hinter diesem über drei Meter hohen Monstrum aus Streckmetall erkenne ich eine schwarz-rot-goldene Grenzsäule. Das silberne Blechschild mit dem Emblem der DDR kann man nicht sehen, weil es auf der Rückseite montiert ist, die nach Westen zeigt. Dahinter steht ein weißer Pfahl mit rotem Kopf, der einem Streichholz ähnelt. Auf der gegenüberliegenden Straße ist eine Fußstreife vom Bundesgrenzschutz (BGS) unterwegs. Noch nie war ich so nah am Klassenfeind. Im Gegensatz zu uns tragen die Beamten saubere Uniformen, die ihnen wie angegossen passen. Die beiden Männer beobachten uns neugierig durchs Fernglas, als wären wir Außerirdische. Mein Postenführer nimmt die Streife demonstrativ ins Visier seiner Kalaschnikow. Die Geste ist unmissverständlich. Für einen Moment zweifle ich am Verstand meines Vorgesetzten. Wir sind hier nicht im Kindergarten, sondern an der Grenze zwischen zwei Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen. Bereits die kleinste Provokation kann den Dritten Weltkrieg auslösen. Doch dazu kommt es an diesem Nachmittag nicht. Die Streife vom BGS verabschiedet sich mit Scheibenwischer und Stinkefinger. Diese abfälligen Handbewegungen gelten meinem Vorgesetzten, der schadenfroh lacht. Ich weiß nicht, ob ich das ganze Theater acht Stunden lang aushalte und gehe den Kolonnenweg entlang. Die hellgrauen Betonplatten nehmen kein Ende. Tänzelnd versuche ich, den rechteckigen Löchern auszuweichen. Mit meiner normalen Schrittlänge klappt das nicht, denn jede Platte besitzt vier Reihen mit jeweils sieben Stolperfallen.
Von meinem Postenführer erhalte ich Asbach als Beobachtungssektor zugewiesen und verstehe nur Bahnhof. Obwohl der Feind im Westen steht, soll ich nach Osten schauen? Befehl ist Befehl. Gehorsam blicke ich hinüber zum Ort, der wie ausgestorben wirkt. Wenn ich hier wohnen müsste, würde ich mich auch nicht auf die Straße trauen. Die Fassaden betteln nach Farbe. Das Mittelgrau der Fachwerkhäuser scheint auf das Wetter abgefärbt zu haben, denn dunkelgraue Wolken ziehen auf. Ein einziges Grau in Grau bestimmt das Bild wie vielerorts im Lande. In meinem Heimatdorf hing wenigstens ein rotes Banner mit der Aufschrift „Schöner unsere Städte und Gemeinden - mach mit!“ vor dem Büro des Bürgermeisters. Die republikweite Masseninitiative hat es offensichtlich nicht bis nach Asbach geschafft. Das melodische Plätschern des Alten Hainsbaches wird von lautem Hundegebell aus Richtung Sickenberg übertönt. Einige Hunde winseln kläglich. Wahrscheinlich haben die Tiere nur Hunger und Durst. Als Hundeführer hätte ich ihnen gern die Postenbrote überlassen, aber mein Vorgesetzter ermahnt mich zur Eile, weil wir uns von oben auf dem Turm melden müssen. Der BT Asbach erhebt sich wie ein grauer Koloss vor meinen Augen. Er passt genauso wenig in diese Landschaft wie die beiden Zäune. Für Vögel gibt es keine Barrieren, sie fliegen von Ost nach West. Vielleicht kehren sie sogar zurück. Mir bleibt keine Zeit für die Natur und keine Zeit zum Nachdenken. Wo bin ich nur gelandet?
Blick aus dem Westen auf Asbach