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Eisenach

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Das Leben ist ein Lotteriespiel, bei dem man nie genau weiß, mit wem man zusammenkommt. Deshalb blieb ich während der Fahrt nach Eisenach bei Jörg, da er der Einzige im Zug war, den ich kannte. Wir wählten einen Waggon in der Mitte, weil mein Kumpel meinte, dass dort bei einem Unfall weniger passieren würde als vorne direkt hinter der Lokomotive. Dieses Sicherheitsdenken zeichnete Jörg aus, der mit Leib und Seele Eisenbahner werden wollte.

Der Sammeltransport hielt nur in größeren Städten, wo weitere Grundwehrdienstler zustiegen. Aussteigen durfte keiner. Im Abteil traf ich einen guten Bekannten, der in der gleichen Kreisliga Fußball spielte wie ich. Er saß mir gegenüber und beschwerte sich lautstark über das Getümmel auf den Gängen. Viele Rekruten nutzten die Aufenthalte, um sich mit Alkohol versorgen zu lassen. Durchs geöffnete Fenster baten sie Wartende auf den Bahnsteigen, Schnaps einzukaufen. Die meisten verzichteten sogar aufs Wechselgeld und gaben 20 Mark für eine Flasche Juwel, die offiziell für 14,50 Mark am Kiosk verkauft wurde. Das Geld saß locker, als gäbe es kein Leben mehr nach der Armeezeit. Bei dem feuchtfröhlichen Durcheinander fehlte mir die nötige Ruhe, in meinem Lieblingsroman von Alexandre Dumas zu schmökern. Da ich das Buch bereits mehrmals gelesen hatte, wurde es eine Art Talisman für mich. Obwohl eine Militärstreife im Zug patrouillierte, spielten sich in den meisten Abteilen chaotische Szenen ab. Der übermäßige Alkoholgenuss schien die Evolution umzukehren. Erwachsene Menschen torkelten herum wie Primaten. Zum Glück schliefen die Schnapsleichen bald ein, so dass Ruhe einkehrte. Irgendwann zog ich den „Graf von Monte Christo“ aus der Tasche und las die kurze Zusammenfassung auf der Innenseite des Buchumschlages. Weiter bin ich nicht gekommen, denn die Umrisse der Wartburg waren bereits durchs Fenster zu erkennen. Kurze Zeit später erreichte der Sonderzug den Eisenacher Bahnhof.

Auf dem abgesperrten Vorplatz sammelten wir uns, um zu Fuß in die Ernst-Thälmann-Straße zu laufen. Marschieren hätte bei den alkoholisierten Rekruten unmöglich ausgesehen. Inmitten einer orientierungslosen Herde trottete ich Jörg einfach hinterher. Uniformierte Schreihälse sorgten dafür, dass wir auf dem Bürgersteig blieben. Wer auf die Straße ausscherte, der sammelte die ersten Minuspunkte. Dennoch überholten wir Betrunkene, die sich auf dem Kopfsteinpflaster übergaben.

Im Schutze der Dunkelheit schafften es alle bis ins Grenzausbildungsregiment „Theodor Neubauer“. Das um 1930 angelegte Kasernengelände der ehemaligen Wehrmacht bildete ursprünglich die nördliche Grenze der Stadtausdehnung Eisenachs. Die Kasernen waren drei- und viergeschossige Zweckbauten mit Satteldach, die in traditioneller Bauweise errichtet wurden. In diesen kahlen, kalten Gebäuden sollte ich meine Ausbildung absolvieren. Hinterm Kontrolldurchlass (KDL) bogen wir links ab auf die Regimentsstraße. Dahinter lag rechts der Appellplatz, der sich mit Zivilisten füllte. Nur die Vorgesetzten trugen Uniformen. Ein kleiner, pummeliger Major schrie uns willkommen, stellte die Führung des Grenzausbildungsregimentes vor und übergab das Wort an den ranghöchsten Offizier in Eisenach. Der Regimentskommandeur erläuterte uns den Auftrag, ausgehend von der Bedrohung durch den Klassenfeind, die sozialistischen Errungenschaften zu schützen. Was er vom Vaterland, von der Waffenbrüderschaft mit der Sowjetarmee und den Bruderarmeen, vom politisch bewussten Soldaten, von Befehl und Gehorsam, von der sozialistischen Soldatenkameradschaft und vom Ansehen der Grenztruppen erzählte, war mir nicht neu, doch irgendwann hing einem das langweilige Gesülze zum Halse raus. Mir wurde langsam kalt und müde war ich auch, aber das Zeremoniell schien kein Ende zu nehmen. Zu guter Letzt erfolgte eine zentrale Anwesenheitskontrolle, bei der jedem einzelnen Rekruten eine Nummer zugeordnet wurde, die der künftigen Kompaniezugehörigkeit entsprach. Die Wege von Jörg und mir trennten sich. Auch den bekannten Fußballer verlor ich vorläufig aus meinen Augen.

Auf der Kompanie sahen alle Stuben gleich aus. Trotzdem durfte man sich keine aussuchen, denn die Zimmerbelegung stand vorher fest. Sogar die Betten hatte man mit kleinen Namensschildern versehen. Ich lag unten rechts, gleich neben der Tür und musste fortan immer das Licht an- und ausknipsen. Die neuen Kameraden, die alle älter waren als ich, kamen aus der Hauptstadt, aus Sachsen-Anhalt und dem Spreewald. Auf einer Stube wohnten sechs Mann, die eine Gruppe bildeten. Ein Zug bestand aus zwei Gruppen. Am ersten Abend blieb wenig Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen, weil der Unteroffizier vom Dienst (UvD) ständig ins Zimmer platzte, um verschiedene Anzugsordnungen zu befehlen. Die Anweisungen änderten sich im Viertelstundentakt, obwohl wir noch keine Uniformen hatten. Offensichtlich fehlte dem Vorgesetzten der militärische Durchblick und mir das nötige Verständnis für eine eventuelle Dialektik in seinen Überlegungen.

Schließlich marschierten wir in Zivilklamotten zum Speisesaal, der am Ankunftstag ausnahmsweise bis 22.00 Uhr geöffnet hatte. Die Schlange vor der Küchenluke war übersichtlich, denn viele Kameraden verzehrten den von daheim mitgebrachten Proviant. Ich zog das hiesige Abendbrot vor und bemerkte auf den ersten Blick, dass die Zusammensetzung der Mahlzeit dem Abiturlehrstoff in Biologie entsprach. Eine ausgewogene Mahlzeit sollte alle Nährstoffgruppen enthalten. Es gab Kohlenhydrate in Form von hellem Mischbrot. Das Fett stammte aus der Butter und ein Schmelzkäseriegel, umhüllt von goldenem Stanniolpapier, lieferte das Eiweiß. Dabei hätte die warme Milch ausgereicht, um uns mit den notwendigen Nährstoffen zu versorgen. Nach einer Katzenwäsche fiel ich müde ins Bett. Für Leute mit langen Haaren wurde es weit nach Mitternacht, weil beim Friseur ein Riesenandrang herrschte. Manche Rekruten rannten mehrmals zum Nachschneiden dorthin, da den Vorgesetzten die Schnittlänge missfiel. Meine Frisur war für die Ausbildung praktisch und pflegeleicht. Nur bei der Geburt hatte ich kürzere Haare.

Die offizielle Einkleidung fand am nächsten Morgen nach dem Frühstück statt. Übereifrige Offiziere trieben uns in ein undurchsichtiges Labyrinth, das sich Zentrale Bekleidungs- und Ausrüstungskammer nannte. Dort erhielten wir zuerst eine große Zeltplane, die alle Utensilien aufnehmen sollte. Die verantwortlichen Unteroffiziere wurden bei der Ausgabe von Soldaten unterstützt, die zu rotieren begannen, nachdem uns die Vorgesetzten mit bloßen Augen vermessen hatten. Für meine tatsächliche Konfektionsgröße interessierte sich niemand. Schuhe, Stiefel, Koppel und Stahlhelm flogen in hohem Bogen auf die Zeltbahn. Die Stiefelpaare waren der Ordnung halber mit derbem Bindfaden aneinander gebunden. Beim Anprobieren musste man höllisch aufpassen, um nicht zu stolpern. Ich kam sowieso nur schleppend voran, weil der drängelnde Kollege hinter mir ständig auf meiner Plane stand. Ein weißer Kreidestrich am Boden wies uns den Weg von einer zur nächsten Station. Überall roch es mehr oder weniger nach Waschpulver. Wahrscheinlich kam ein Teil der Klamotten direkt aus der chemischen Reinigung. Auf Grund der künstlich erzeugten Hektik fiel es mir schwer, überall das passende Wäschestück zu ergattern. Die Vorgesetzten achteten mehr auf die Vollzähligkeit der Klamotten. Eine Dienstuniform, eine Ausgangs- bzw. Paradeuniform und zwei Felddienstuniformen für Sommer und Winter nannte ich nun mein eigen. Um die alte Winter-Felddienst während der Ausbildung zu schonen, bekamen wir eine steingraue Watteuniform, die offiziell bereits ausrangiert war.

Auf unserem Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander, in dem sechs Leute ihre gefüllten Seesäcke vor dem Spind einfach fallen ließen. Dabei purzelten die Sachen kreuz und quer durch die Stube, dass niemand mehr wusste, welches Kleidungsstück einem gehörte. Um die Bezeichnungen der militärischen Ausrüstung zu trainieren, befahlen die Vorgesetzten verschiedene Anzugsordnungen und wir begannen mit der Modenschau. Raus aus den Klamotten, rein in die Klamotten. Auf diese Weise überprüften die Unteroffiziere nicht den Sitz, sondern die Vollständigkeit der Ausrüstung. Kleidung, die uns nicht passte, durfte innerhalb einer Woche umgetauscht werden. Es dauerte den ganzen Vormittag, die einzelnen Uniformteile zusammenzubasteln. Mit einem scharfen Taschenmesser wurden widerspenstige Knopflöcher vergrößert. Die Lederriemen der Hosenträger schmierte man mit Melkfett ein, um sie geschmeidig zu machen. Beim Anknüpfen der Schulterstücke half mir ein freundlicher Ausbilder, weil ich in die Rolle des begriffsstutzigen Rekruten schlüpfte. Ich stellte mich ungeschickt an, dass er an mir ein Exempel statuieren konnte. Das Dummstellen brachte durchaus Vorteile mit sich, man durfte es nur nicht übertreiben.

Während der Modenschau demonstrierte der Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst (GUvD) das ordnungsgemäße Einräumen der Schränke. Sportzeug, Pullover, Hemden, Unterwäsche und Kragenbinden gehörten auf Kante, Geldbörse und Wehrdienstausweis ins abschließbare Wertfach, Essbesteck und brauner Plastikbecher ins Lebensmittelfach mit dem Lüftungsschlitz auf der Rückseite, Schuhe und Stiefel ins Fach links unten, alle Uniformen auf Kleiderbügel sowie Teil 1 und 2 mit Schutzanzug, Gasmaske und Stahlhelm auf den Spind. Der UvD kontrollierte die Ordnung, indem er die Schränke so weit nach vorn kippte bis alle Klamotten heraus fielen. Dann zwangen wir uns in die normale Winterdienstuniform und marschierten zum ersten Mittagessen in Eisenach. Es gab langen Kohl, kurz gekocht, mit viel Kümmel.

Am Nachmittag ging es in Ausgangsuniform zum Regimentsfotografen, da man für den Wehrdienstausweis ein Passbild in Uniform brauchte. Der Gleichschritt hin und zurück erinnerte mich an die gemeinsame Abschiedsparty mit Jörg in unserer Bahnhofsgaststätte. Im Grenzausbildungsregiment Eisenach musste man ein Bein stramm durchdrücken und das andere mindestens 30 Zentimeter über den Erdboden anheben. Das nannte man marschieren.

Auf der Kompanie wurde die Modenschau fortgesetzt. Wir streiften die braunen Trainingsanzüge über und liefen zum Med-Punkt, wo uns Doktor Schnelltod die fällige Tetanusspritze verabreichte. Im Lazarett trafen wir zahlreiche Innendienstkranke, die ungeniert mit erschlichenen Attesten prahlten und uns demonstrativ auslachten. Ich wäre mir in der Rolle dieser Simulanten blöd vorgekommen.

Nach dem Abendbrot verabschiedeten wir uns endgültig vom Zivilleben. Jeder Soldat erhielt einen Karton, um seine Privatklamotten nach Hause zu schicken. Nun sahen nicht nur die Stuben gleich aus, sondern auch wir Rekruten in den neuen Uniformen. Am Ende dieses hektischen Tages hatte ich nur noch das Bedürfnis, schnell ins Bett zu kommen. Trotzdem nervte uns der UvD mit einem wissenschaftlich erprobten, minutiös geplanten Tagesdienstablaufplan, der ab dem nächsten Morgen praktiziert wurde. Ich lag auf der Pritsche, verfluchte den Kerl mit der roten Armbinde und fragte mich, welche Gründe er wohl gehabt hatte, die Unteroffizierslaufbahn einzuschlagen? War er ein Mensch, der aus politischer Notwendigkeit drei Jahre zur Fahne ging oder ein Intellektueller, bei dem ein zukünftiger Studienplatz als intensives Druckmittel eingesetzt wurde? Da der Mann weder überzeugt noch schlau wirkte, konnte es nur das Geld gewesen sein, das ihn zur Fahne brachte. Die vierte Möglichkeit, als Unteroffizier herauszufinden, was er im späteren Leben machen wollte, konnte ich an diesem Abend nicht mehr abwägen, denn der Schlaf übermannte mich.

Am Tag, nachdem uns der UvD mit dem Tagesdienstablaufplan eingeschüchtert hatte, machten die Vorgesetzten ernst. Bereits morgens um 6.00 Uhr ertönte der erste Pfiff aus einer Trillerpfeife auf dem Flur. Das nervige Weckkommando konnte man nicht verschlafen. Ich sprang unverzüglich aus dem Bett, knipste das grelle Licht im Zimmer an, warf die Zudecke zum Auslüften über den vorderen Bettgiebel und streifte das Sportzeug, bestehend aus der knallroten Turnhose mit aufgenähter Tasche, dem gelben, gerippten Turnhemd, dem braunen Trainingsanzug und den schwarzen Lederturnschuhen, über. Wer beim Aufstehen trödelte, handelte sich unnötige Strafrunden beim Frühsport ein, was nicht sein musste. Während sich die selbstbewussten Berliner noch mal im Bett umdrehten, rannte ich aufs Klo, weil ich statt „Kompanie raustreten zum Frühsport!“ fälschlicher Weise „Kompanie austreten zum Frühsport!“ verstanden hatte. Der Andrang auf der Toilette bestätigte mir, dass ich nicht der einzige Rekrut war, der diesem Irrtum unterlag. An der Morgengymnastik nahmen alle gesunden Soldaten teil, Innendienstkranke durften in dieser Zeit spazieren gehen. Die Invaliden standen in dunklen Ecken und rauchten. Im Vergleich zur militärischen Körperertüchtigung bei den Streitkräften der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) empfand ich die Morgengymnastik in Eisenach human. Die Angehörigen der ruhmreichen Sowjetarmee traf ich daheim oft kilometerweit von ihrer Kaserne entfernt, wo sie in Stiefeln, mit Uniformhose und freiem Oberkörper durch die Wälder rannten. Bei den Grenztruppen begnügte man sich mit gemütlichen Dauerläufen und gymnastischen Verrenkungen, die selbst Schwangere am Tag vor der Entbindung hinbekommen hätten. Im Anschluss an den Frühsport war eine Viertelstunde für den Toilettengang, die Körperpflege und das Anziehen der Uniform eingeplant. Jeder Armeeangehörige hatte sein Bett zu bauen und die Schrankordnung herzustellen. Danach folgte das so genannte Stuben- und Revierreinigen. Dazu ist das Kasernengelände in Außen- und Innenreviere aufgeteilt worden. Am frühen Morgen nach draußen zu gehen, die Straße zu fegen und den Müll aufzusammeln, kostete Überwindung. Trotzdem entschied ich mich immer fürs Außenrevier, wenn ich wählen durfte.

Um 7.10 Uhr marschierten wir unter „Spaniens Himmel“ zum Frühstück, wobei unsere Stiefel im Takt auf den Boden knallten. Das Echo, das von den Häuserwänden zurückhallte, brachte den einen oder anderen wieder aus dem Rhythmus. Wenn unser Gleichschritt misslang oder der Gesang nicht laut genug klang, drehten wir Ehrenrunden auf dem Appellplatz. Die Zeit für den Umweg fehlte beim Essen. Das Frühstück durfte zehn Minuten dauern, woraus locker mal fünf Minuten wurden, wenn wir zu lange vor der Ausgabe standen. Die Qualität des Essens war einfach und gut. Den Grenztruppen gewährte man den höchsten Verpflegungssatz innerhalb der militärischen Einheiten der DDR, um auf diese Weise die Moral in der Truppe aufrecht zu halten. Also hätte es täglich qualitativ hochwertige Mahlzeiten geben können. Dazu reichte es jedoch nicht, weil ständig Lebensmittel aus den Lagerräumen in Eisenach verschwanden. Angeblich ist gegen Alkohol getauscht worden. Es reichte aber für Weißbrot, Butter, Marmelade und Schmelzkäse zum Frühstück. An Sonn- und Feiertagen lag sogar ein Stück Kuchen vom Vortag auf dem Teller. Der Muckefuck, ein lauwarmer Malzkaffee, ersetzte den gewohnten Bohnenkaffee. Wir mussten uns zwar einschränken, aber verhungert ist keiner in Eisenach.

Bis zum Morgenappell wurde das Stuben- und Revierreinigen abgeschlossen, bei dem die Wasch- und Sanitärräume den Schwerpunkt bildeten. Die Nahrungsaufnahme hatte die Verdauung der Rekruten in Gang gebracht, so dass der Revierdienst nur mit Schutzmaske aufs Klo konnte. Deshalb bemühte ich mich, bei der Einteilung ein Außenrevier zu erwischen. Beim Organisieren von Toilettenpapier erfuhr ich, dass jedem Soldaten laut Dienstvorschrift täglich genau 60 Zentimeter graues, raues Klopapier zustanden, die auch den letzten Hintern rot kriegen sollten. Aus diesem Grunde klappte der Nachschub reibungslos.

Pünktlich um 8.00 Uhr fand vorm Kompaniegebäude der Morgenappell statt, auf dem zuerst die Anzugsordnung überprüft wurde. Auffällige Soldaten mussten wegtreten, um die oberflächliche Rasur, die fehlende Sauberkeit der Kragenbinde oder den mangelhaften Stiefelputz zu verbessern. Selbst wenn das Äußere aller Rekruten der Dienstvorschrift entsprach, pickten die Vorgesetzten ein Opfer heraus, das vor der versammelten Kompanie gemaßregelt wurde. Dann verkündete der Offizier vom Dienst (OvD) den Tagesplan, der sich aus Gefechtsausbildung, Grenzausbildung und dem Politunterricht zusammensetzte. Grundlagen des Gefechts waren Taktik-, Schieß-, Schutz-, Exerzier- und Sanitätsausbildung sowie militärische Körpererziehung und Topografie. Für Kraftfahrer gab es eine Spezialisierung zum Militärkraftfahrer. Ich hatte mich für einen Hundeführerlehrgang eingetragen, der jedoch erst nach der Grundausbildung in Hildburghausen stattfinden sollte.

Die Sturmbahn, eine Anlage mit genormten Hindernissen aus Kriechstrecke, Sprunggraben, Klettertau, Eskaladierwand, Tunnel und Giebelwandfenster, bereitete mir nicht nur Schwierigkeiten wegen der Wasserpfützen. Mich beschlich ein beklemmendes Gefühl, wenn ich durch die engen Betonröhren des dunklen Tunnels kroch, in denen immer Regenwasser stand. Einmal rutschte ich versehentlich aus, knickte um und zog mir eine schmerzhafte Mittelfußprellung zu. Der Militärarzt, der berufsbedingt jeden Soldaten in Eisenach für einen vorsätzlichen Simulanten hielt, sprach von einer Glanzleistung. Trotzdem brauchte ich drei Tage lang nicht mehr auf die gehasste Sturmbahn.

Die langweilige Innenausbildung empfand ich wie Unterrichtsfächer, die mir nicht lagen. Da die Schulungsräume überheizt waren und die Fenster geschlossen blieben, zog ich in einer der ersten Politstunden meine Uniformjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Als der Oberleutnant hinterm Pult aufstand, um seinen Argumenten durch körperliche Präsenz Nachdruck zu verleihen, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Anfängliches Erstaunen wich blankem Entsetzen. Jeder Rekrut sah, wie sich das Gesicht des Vorgesetzten zur Faust ballte. Auf dem Gipfel seiner Entrüstung fragte er, ob ich mir eine Erkältung wünschte. Aber genau die wollte ich unbedingt vermeiden. Nachdem sich der Offizier wieder hingesetzt hatte, glaubte ich schon, dass er sein Pulver an Temperament verschossen hätte, doch weit gefehlt. Der Oberleutnant holte tief Luft und startete neue Hasstiraden gegen meine Person. Ich musste mir die Jacke anziehen und durfte den Rest der Stunde stehen, um meinen Kameraden als abschreckendes Beispiel zu dienen. Für das unerlaubte Ablegen von Uniformteilen in Tateinheit mit Wehrkraftzersetzung erhielt ich zwei Wochen Urlaubs- und Ausgangssperre. Diese Strafe hätten sich die Vorgesetzten allerdings sparen können, weil wir Rekruten bis zur Vereidigung sowieso nicht aus der Kaserne durften.

Das Mittagessen unterbrach den Ausbildungstag. Während der Außenausbildung auf dem Wartenberg wurde in der Feldküche gekocht. Ich suchte mir ein warmes Plätzchen an der Gulaschkanone und dachte beim Essen an die frisch zubereiteten Eintöpfe daheim. Die Suppen meiner Mutter schmeckten lecker, weil alles drin war, was wir im Garten ernteten. In Eisenach musste ich deutliche Abstriche machen. Meistens schwamm nur wenig Gemüse im Henkeltopf, weil der Rest verkocht war. Die Gerüchte von überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdaten beim Dosenfutter ignorierte ich. Daneben mochte ich jede Form von Eierteigwaren. Ich fand die Nudeln mit Gulasch und Rot- oder Weißkohl durchaus schmackhaft. Da nicht alle Rekruten so dachten, herrschte kein Andrang, wenn ich Nachschlag verlangte. Eine zusätzliche Portion verlängerte automatisch die Mittagspause. Leider mangelte es an frischem Obst und Gemüse. Nur grüne Äpfel standen kistenweise herum, an denen ich mich reichlich bediente.

Der Übungsplatz auf dem Wartenberg wurde rund um die Uhr bewacht, weil dort immer etwas los war. Mir fallen spontan einige ausrangierte Panzer ein, an denen wir die Nahbekämpfung trainierten. Nachdem uns die rostigen Wracks überrollt hatten, sprangen wir beim Fahren von hinten auf und machten sie mit Übungshandgranaten unschädlich. Die Auseinandersetzungen mit den unverwüstlichen Eisenschweinen bildeten nicht den Hauptgrund für die oft mühseligen Märsche zum Wartenberg. Meistens praktizierten wir Grenzausbildung, um das taktisch richtige Verhalten im Grenzdienst zu schulen. Dabei lernten wir den Aufbau der Grenzsicherungsanlagen anhand einer Übungsgrenze kennen. Die Lehrgrenze auf dem Wartenberg war natürlich kein originalgetreuer Nachbau der echten Grenze, denn man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass die teils maroden Hindernisse einen Anfang und ein Ende besaßen. Es war offensichtlich, dass die Sperranlagen so angelegt wurden, dass eine Flucht von Osten nach Westen verhindert werden sollte. Das stand in krassem Gegensatz zur Argumentation der Offiziere, die von der ständigen Bedrohung durch die BRD sprachen. Der Hauptfeldwebel, auch Spieß genannt, beendete mit dem Abendappell um 17.00 Uhr den Ausbildungstag. Die „Mutter der Kompanie“ kümmerte sich um Ausrüstung, Bekleidung, Essen, Post und Urlaub. Ihm unterstanden der UvD, der GUvD als Laufburschen sowie der Schreiber als eine Art Sekretär. Unser Spieß war Fähnrich und gleichzeitig Parteisekretär der Kompanie.

Im Anschluss an den Appell verteilte der Schreiber die Post. Das ununterbrochene Zusammensein mit meinen Leidensgenossen erzeugte in mir den Wunsch, dieser ständigen Zwangsgemeinschaft wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen. Deshalb las ich die Briefe, die einen für wenige Augenblicke ins zivile Leben versetzten, meistens draußen unter freiem Himmel. Trostlos empfand ich die Tage ohne Post. Zur Ablenkung las ich Corinnas alte Briefe und bildete mir dabei ein, dass es sich um aktuelle Grüße handelte.

Es folgte ein Waffenreinigen, das in meinen Augen eine reine Beschäftigungstherapie war. Sicher fuhren wir regelmäßig auf den Böller, um unsere Schießkünste zu trainieren. Aber wir putzten die Flinten auch an den Tagen, an denen wir sie nicht benutzten. Trotz meines Respekts vor Waffen lernte ich schnell, mit der Kalaschnikow umzugehen. Nach nur wenigen Übungen konnte ich die Flinte blind in alle Einzelteile zerlegen und wieder zusammensetzen. Diese Fertigkeit machte aus mir keinesfalls einen Waffennarr. Ganz im Gegenteil.

Um 18.00 Uhr ging es mit „Auf, auf zum Kampf“ in den Speisesaal. Beim Abendessen wurde der Malzkaffee gegen geschmacklosen Hängolintee getauscht, der angeblich mit Potenz hemmenden Substanzen versetzt war. Trotz des übersichtlichen Angebotes von Brot, Wurst und Käse konnte man sich satt essen, denn helles Mischbrot, fette Jagdwurst und Schmelzkäse gab es im Überfluss. Berufsunteroffiziere, Fähnriche und Offiziere speisten in der benachbarten Kantine, wo uns der Zutritt verwehrt war, weil wir nicht sehen durften, was auf den Tellern der Vorgesetzten lag.

Nach dem Abendbrot erfolgte ein weiteres Stuben- und Revierreinigen. Während sich meine Kollegen um die Innenreviere stritten, versuchte ich, auch bei dieser Übung nach draußen zu kommen. Beim Säubern der Regimentstraße entgegen der Windrichtung hatte man wenigstens seine Ruhe. Außerdem tat mir die frische Luft gut. Pfiff der Wind von Osten nach Westen, fegte ich befehlsgemäß von West nach Ost. Das Laub flog zurück und man wiederholte die Übung. Anfangs ärgerte ich mich maßlos über solche Schikanen, doch später entdeckte ich einen durchaus positiven Aspekt: Die Zeit verging und allein das zählte in meinen Augen.

Um 19.30 Uhr trieb uns der UvD zur Pflichtsendung „Aktuelle Kamera“ in den Fernsehraum. Personenkult und Planübererfüllung standen im Mittelpunkt der Tagesschau des Ostens. Meistens nickte ich zwischendurch ein, was nicht nur an den langweiligen, täglich wiederkehrenden Phrasen lag. Wer sich minutenlang das Verlesen aller Ämter und Funktionen unserer Staats- und Parteigrößen anhören musste, den überfiel zwangsläufig die Müdigkeit. Hinzu kam, dass Abkürzungen wie UdSSR, DDR, NVA und SED grundsätzlich ausgesprochen wurden. Wenn der Sportteil lief, hatte ich bereits die Augen zu.

Ab 20.00 Uhr begann die Putz- und Flickstunde mit dem Zweck, die lädierten Uniformen aufzupeppen. Den Umgang mit Nadel und Faden lernte ich bei meiner Mutter. Ich konnte Löcher stopfen und flicken, Knöpfe annähen und Nähte schließen.

Gemäß Tagesdienstablaufplan wurde sogar die Freizeit befohlen. Von 20.30 Uhr bis 21.30 Uhr durften wir uns gesellschaftlich, kulturell und sportlich betätigen sowie persönlich weiterbilden. In der knappen Stunde beantwortete ich meine Post, wobei es mir selten gelang, das Positive überwiegen zu lassen. Der militärische Drill überforderte mich, so dass meine Briefe mit dem Frust endeten, der sich im Laufe des Ausbildungstages angesammelt hatte.

Um 21.30 Uhr standen wir vor den geöffneten Spinden und erwarteten einen Stubendurchgang, der unangenehme Folgen haben konnte. Die Schrankordnung und die Laune des kontrollierenden Offiziers entschieden über den Beginn der Nachtruhe. Jedes Wäschestück musste im dafür vorgesehenen Fach liegen. Um die Fächer sauber zu halten, wurden sie mit einzelnen Blättern der Tageszeitung „Junge Welt“, dem Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend (FDJ), ausgelegt, weil die Breite von 30 Zentimetern genau den Abmessungen im Soldatenspind entsprach. Die Fächer für Lebensmittel und Schuhe wurden mindestens einmal die Woche feucht ausgewischt. Nägel oder Haken durften nicht eingeschlagen werden. Jeder Schrank wurde mit dem Namensschild und einem Vorhängeschloss versehen. Wenn alles seine militärische Ordnung hatte, durften wir ins Bett. Punkt 22.00 Uhr pfiff der UvD auf dem Flur zur Nachtruhe.

Wem diese Schilderung langweilig vorkam, dem versichere ich, dass jeder Ausbildungstag in Eisenach so eintönig verlief.

Ich hatte einen Schießbefehl

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