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Die Ankunft

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Gelangweilt saß der Fischer am Pier, schwang seine Angel und schaute hinaus aufs Meer. Gähnend langsam tröpfelte die Zeit dahin, das Knurren seines Magens wurde allmählich unerträglich. Während er auf einen anbeißenden Fisch wartete, ließ er seine Gedanken schweifen. Einst hatten hier prachtvolle Schiffe gelegen, die Waren aus aller Welt herbeigebracht hatten. Reichtümer waren aus vielen Ländern hereingeströmt, und „Feste des Lichts“, wie die Stadt einst genannt worden war, war das Zentrum atalanischer Kultur gewesen. Nun aber war alles verfallen. Keine goldenen Abzeichen prangten mehr an den Piers der verschiedenen Hafenbecken, die prachtvollen Wachttürme an den Flanken des Seehafens waren bereits seit Jahrzehnten eingestürzt.

Verächtlich spuckte der Fischer ins Wasser. Was für eine Ironie! In Hülle und Fülle war das Leben einst mit Musikdarbietungen, poetischen Lesungen und Theatervorführungen durch die Stadt geschwappt. Eitel Sonnenschein hätte es bleiben können, doch dann hatte es begonnen. Was genau, hatte wohl niemand so richtig verstanden, nur als es fortgeschritten war, waren nach und nach die fröhlichen Klänge verschwunden. Mehr und mehr andere Mieter waren in die bunt geschmückten Kunstläden und Ausstellungsgebäude am Hafenkai gekommen, innerhalb weniger Jahre hatten sich hier eine Spelunke an die andere und ein Vergnügungslokal an das nächste gereiht. Man hatte immer mehr für benötigte Dinge bezahlen müssen, denn „von nichts kommt nichts“, so war bereits kleinen Kindern erzählt worden. Weniger und weniger hatte man für seine Yoros, die Währung dieser Zeit, bekommen. Und nun saß er hier im Hafen von Kippstadt, wie sie nun genannt wurde, und war dazu gezwungen, im einstigen Zentrum der Kultur und des Reichtums sein kärgliches Mahl aus dem Meer zu ziehen, wie es vor Tausenden von Jahren schon seine Vorfahren getan hatten.

Erneut warf er seine Angel aus und verfolgte, wie der Köder mit dem Haken und dem Schwimmer in hohem Bogen weit hinaus ins ehemalige Hafenbecken flog. Langsam senkte er sich hinab und landete platschend auf dem Wasser. Gerade wollte der Fischer seine Augen abwenden, als er plötzlich stutzte.

Etwas kam über das Meer. Klein, wackelig und behelfsmäßig aus dünnen Stämmen zusammengezimmert trieb es auf der Wasseroberfläche, die trotz des leichten Windes wie üblich kaum Wellen schlug. Ein kleines Segel, kaum einen Meter hoch, an einem kurzen, notdürftig befestigten Mast war der einzige Antrieb dieses winzigen Floßes. Und darauf saß ein einzelner, in eine verschlissene Kampfuniform gehüllter Mann.


Der Fischer erhob sich, kniff die Augen zusammen und musterte das Floß, bis es ein wenig näher an den ehemaligen Pier herangetrieben war. Dann fing er an zu lachen. Er lachte dermaßen, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und fast vom Pier gefallen wäre. Er lachte ein lautes, höhnisches, schadenfrohes Lachen, welches weithin hörbar von den Kaimauern widerhallte. Als er sich einige Zeit später wieder gefangen hatte, stieß er spöttisch und mit lauter Stimme hervor: „So also sieht der Stolz der siegreichen Armee von Urgalan aus! Darf ich mich vor Ihnen verneigen, Heerführer?“

Der Krieger auf dem Floß indes sah den Fischer an und verzog keine Miene. Das ging ja schneller als erwartet. Das, genau das war die Ursache für ziemlich alles, was er in seinem Leben erlebt hatte, bevor seine letzte Fahrt abrupt geendet hatte.

Der Westwind hatte sein Floß über das Meer zurück zu dem Hafen geführt, von welchem aus die Flotte vor einigen Tagen gestartet war. Es war zwischen den Wracks Hunderter Invasionsschiffe hindurchgeschlüpft, über denen ein unaussprechlich stilles Schweigen gelegen hatte. Was für ein Unterschied zu dem Gebrüll und dem vorzeitigen Siegestaumel der Armee, als deren Mitglied er aufgebrochen war, um eine „todsichere Aufgabe“ zu erledigen. Von blühenden Landschaften war die Rede gewesen, die man problemlos einnehmen könne, da von den dort lebenden Zwergen kein Widerstand zu erwarten sei. Wesentlich leichter als die Einnahme Atalans habe es werden sollen. Die entsandten Späher und Herolde hatten ohne Schwierigkeiten ihre Aufgabe verrichtet, rechtlich gesehen gehörte das Land bereits Kraton dem Edlen, Urgalans König.

War er, der Speerschleuderer und Keulenkämpfer Martin Darian Kalder, wirklich der Einzige gewesen, der die leisen Zweifel an diesem Vorhaben nicht aus seinem Sinn hatte verbannen können? Auf Schiffen waren Hunderte ebenso ungehobelte und grobschlächtige Kerle, wie er einst selbst einer gewesen war, gen Westen gezogen. Sie hatten geprahlt, um den Titel des Stärksten gewetteifert, sich betrunken und sich den Wanst vollgeschlagen. Auf seinem Schiff war er allein damit gewesen, auf der kurzen nächtlichen Überfahrt an der Reling zu stehen, nach den Sternen aufzusehen und sich zu fragen, wohin das alles führe. Solch eine Zurschaustellung von Rohheit wegen eines kleinen Landes mit mittelmäßigem Holzertrag, von dem die Alten berichtet hatten!

Nachdem sie das fremde Ufer erreicht hatten, hatten sich alle Krieger der üblichen ekelhaften Protzerei des Heerführers gegenüber Gegnern anschließen müssen. Sie hatten Lärm gemacht, dass einem die Ohren wehtaten. Dabei hatten dort nur Zwerge am Ufer gestanden. Was für eine niederträchtige Aktion, zweihundertzweiundsiebzig Schiffe gegen diese „Feinde“ zu entsenden! Selbst ein Angriff auf die wenigen schwachen Widerstandsnester in Atalan wäre ehrenhafter gewesen als eine derartige Barbarei. Wie erstaunlich, dass die Zwerge zu Tausenden gekommen waren und laut verkündet hatten, nicht klein beigeben zu wollen! Ein einziger seiner Tritte hätte fünf von ihnen zerschmettern können. Sie hatten immense Furchtlosigkeit bewiesen.

Daraufhin war etwas vollkommen Unerwartetes geschehen. Gellende Schreckensschreie hatten sich hinter ihm erhoben, und während er herumgefahren war, war ihr Schiff bereits dabei gewesen, sich zwanzig Meter weit senkrecht in die Luft zu erheben und sich zu überschlagen. Er war fortgeschleudert worden und durch eine unglaublich riesige Welle hindurchgetaucht. Vermutlich hatte ihn danach eine Ohnmacht ereilt, denn als er wieder zu sich gekommen war, hatte er in flachem Wasser schwer verletzt am fremden Strand gelegen. Zwei Zwerginnen waren gekommen und er hatte befürchtet, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Stattdessen war er in einer ihm unbekannten Weise versorgt worden und hatte sich binnen weniger Tage regeneriert. Während dieser Zeit hatten ihm die beiden die Augen geöffnet. Er hatte zugehört, in sein Inneres gesehen und erkannt, wodurch seine Zweifel die ganze Zeit genährt worden waren.

Die Zwerginnen waren sehr um das Wohl des Baumwaldes bemüht gewesen, aus dessen Bruchstämmen er das Floß notdürftig zusammengeschustert hatte. Sie hatten die Bäume sogar gefragt, ob sie das Holz verwenden dürften. Zuerst war er darüber verwundert gewesen, dann aber hatte er gelernt, in sich hineinzufühlen, und verstanden, warum sie dies und anderes taten. Er hatte auch begriffen, warum in Urgalan geschah, was dort geschah. Nun war er auf dem Floß nach einigen Tagen Irrfahrt auf dem Meer wieder zurückgekehrt, um seine Botschaft zu überbringen, selbst wenn es seinen Tod bedeuten würde.

Mit leichtem Knarren des Mastes trieb das Floß am Pier vorbei. Martin lächelte in sich hinein. Wozu sollte er sich mit dem Spott dieses Fischers abgeben? Jedes solche Gespräch wäre unfruchtbar gewesen und hätte die Art von Handlungen genährt, aufgrund derer Urgalan „groß geworden“ war. Diese sogenannte Größe bedeutete aber letztlich nur Unterjochung Anderer und beinhaltete den Zwang, noch größer zu werden. „Was nicht wächst, stirbt“ – nach diesem Motto handelten der König und nahezu alle Menschen in Urgalan. Zu sterben war nicht wünschenswert, die meisten fürchteten sich zumindest unterschwellig davor, daher wurde dieses Prinzip im Kleinen wie im Großen gelebt. Alle hatten sie vergessen, dass Wachstum nichts mit Wegnehmen zu tun hatte, dass nichts ewig wachsen konnte und dass das Sterben ebenso wie das Lieben zum Leben dazugehörte. Dies war der Kern seiner Botschaft. Mit Dankbarkeit und Frieden im Herzen dachte er an die beiden Zwerginnen zurück.

Sein Floß stieß gegen den Hafenkai. Endlich konnte er es verlassen, um wieder fest auf seinen eigenen Beinen zu stehen.

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