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Kachler

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Martin hatte genug gehört. So schnell er konnte, bahnte er sich den Weg durch die dunkle Nacht zurück auf die Straße. Glücklicherweise war dort noch ein schwaches Licht zu erkennen, wo das verunglückte Fahrzeug lag. Vorsichtig und leise näherte Martin sich dem verbeulten Objekt, dessen linker Scheinwerfer beim Aufprall nicht zerstört worden war und nun nach unten in einen Pflanzenteppich hineinleuchtete. Sein gespenstisches Glimmen tauchte zusammen mit den entstehenden Schatten die Umgebung in ein unwirkliches Licht.

Als Martin das Wrack des Wagens fast erreicht hatte, hörte er, wie eine der Türen kraftvoll unter metallischem Kreischen geöffnet wurde. Heraus sprang eine menschliche Erscheinung, die sich den Arm hielt und nach kurzem Rundblick in die Dunkelheit davonhastete. Ihr folgte ein weiterer Schatten, welcher sich von der Straße erhob und dann ungelenk humpelnd das Weite suchte. „Gut – die beiden sind einigermaßen okay“, dachte Martin. Dann aber erspähte er im grünen Zwielicht eine weitere Gestalt, die sich einige Meter entfernt vom Fahrzeug auf dem Boden krümmte.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich sonst niemand in der Nähe aufhielt, war Martin blitzartig zur Stelle und beugte sich über den Verwundeten. Viel sehen konnte er nicht, es schien sich um einen sehr jungen Mann zu handeln, der sich stöhnend den Kopf hielt. Martin lief zum Wrack, zog geistesgegenwärtig sein Lederoberteil aus, benutzte es als Handschuh und riss mit einem Ruck den bereits gelockerten Scheinwerfer aus seiner Verankerung, um ihn auf den Verletzten zu richten. Nun konnte er erkennen, dass der recht schmächtige, vielleicht siebzehn Jahre alte Junge neben einer großen Platzwunde an der Stirn auch ein aufgerissenes Hosenbein hatte, aus welchem Blut sickerte. Ohne nachzudenken griff er nach seinem Sanpack, holte ein großes Pflaster zusammen mit etwas Desinfektionslösung heraus und versuchte, die Kopfwunde zu behandeln.

„Psst, halt still, Bursche! Wie soll ich dich sonst verarzten?“, stieß er ärgerlich hervor, als der Kopf des jungen Mannes bereits zum zweiten Mal zur Seite zuckte, nachdem die Flüssigkeit die Wunde berührt hatte. Schließlich gelang es ihm, das Pflaster darüberzukleben. Nun wandte er sich dem verletzten Bein zu. Ein großes Sterilo und zwei kräftig angezogene Verbände waren nötig, um die Blutung zu stillen. Wenigstens war es nicht gebrochen.

„Bist du sonst noch verletzt?“, fragte Martin den so Versorgten, der bisher noch kein Wort gesprochen, sondern nur laut geächzt hatte. Da erst bemerkte er, dass der Junge ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Angst betrachtete. „Schon gut, du siehst doch, dass ich helfen will!“, fügte er daher hinzu.

Jammernd begann sein Gegenüber nun erstmalig zu reden: „Nur am Kopf und Bein … aber Sie sind … Sie sind ein urgalanischer Kämpfer! Sie kommen um zu töten! Oder wollen Sie mich etwa zum Sklaven machen? Ich … ich … Lassen Sie mich gehen, bitte!“

Da war es wieder. Martin stand auf und knetete sich nachdenklich mit der linken Hand den Nacken. So funktionierte Gesellschaft hier: Einschüchterung, Angst, Beherrschung, Unterdrückung. Gerade eben hatte dieser Kerl noch über seine Mitmenschen und ihre Dummheit gespottet, sich so einen heißen Flitzer abjagen zu lassen, und zwei Minuten später lag er wimmernd auf der Straße und bettelte um Gnade. Zorn keimte in Martin auf – aber nicht auf den am Boden Liegenden, sondern irgendwie auf alles. Noch vor zwei Wochen hätte er diesem Kerl entweder seine Verachtung oder seine Überlegenheit demonstriert und ihn gefesselt als Beute vor sich hergetrieben, um ihn in Galdau jemandem gegen eine gute Mahlzeit und eine Jacke zu überlassen. Das Wissen darum, dass hierzulande so verfahren wurde, stieß ihm ebenso sauer auf wie die Tatsache, dass er als Uniformierter Teil dieses Systems gewesen war und genau dies einige Male getan hatte.

„Vergiss dein Licht niemals, besonders dann nicht, wenn Furcht, Scham, Wut oder Kummer ihren Tribut fordern.“ Amas Stimme hallte in seinem Geist wieder und erinnerte ihn daran, dass er jederzeit selbst entscheiden konnte, welchem Weg er folgen wollte. So richtete er seinen Blick nach innen. Ja, dort war es und darin herrschte Friede. Er brauchte ihn nur anzunehmen.

„Bursche, wenn ich etwas in dieser Art vorhätte, würde ich weder mein Sanpack an dich verschwenden, noch mir die Mühe machen, mit dir zu reden“, ließ Martin seine Stimme vernehmen. „Schluss mit dem Gejammere!“ Nachdem er sich sein Oberteil wieder übergestreift hatte, ergänzte er etwas sanfter: „Mein Auftrag ist ein vollkommen anderer. – Vielleicht sagst du mir erstmal deinen Namen.“

„Ich … ich bin Daniel“, stotterte der Junge verblüfft im Licht des Scheinwerferkegels. Außer der Platzwunde und dem verletzten Bein hatte er allerhand Abschürfungen und Schrammen, seine Kleidung war zerschunden. „Aber Sie, Sie sind doch …“

„Gut, Daniel. Ich würde dich gern um etwas bitten: Hör mit dem Gesieze auf. Wir sind hier in freier Wildbahn und müssen uns beide durchschlagen. Da passt das nicht.“

Daniels Verblüffung wurde immer größer. Warum war dieser bärenstarke Kerl mitten in der Nacht aus der Deckung gekommen, wenn er weder etwas aus dem Wagen klauen noch ihm schaden wollte? Und wenn er Soldat war, was faselte er da von einem „anderen Auftrag“ und „freier Wildbahn“? Wo waren seine Kameraden? Es gab keine einzeln durch die Lande ziehenden Kämpen in offizieller urgalanischer Uniform. Nun ja, offenbar wollte er ihm wirklich nichts tun. Und so begann er: „Wie heißen S… äh, wie heißt du denn?“

„Mein Name ist Martin“, erwiderte der Angesprochene ruhig. „Und ich möchte jetzt gern von dir wissen: Was ist vorhin passiert, wie viele Typen waren in deiner Meute und sind hier noch weitere von deiner Sorte?“

Daniel hatte immer noch etwas Angst und beruhigte sich nur langsam. Er wischte sich einmal vorsichtig über das großflächige Stirnpflaster, verzog schmerzhaft das Gesicht und begann dann zu berichten: „Wir nennen uns die Kachler und waren zu dritt in diesem Wagen, den wir vorhin den Brandhörnern abgenommen haben. Die brutzelten sich auf ihrem Hinterhof gerade irgendwas Gejagtes, als wir losrannten und damit davondüsen konnten. Das war ihre einzige Mühle, sie konnten uns also nicht folgen.“ Ein Grinsen huschte über Daniels zerkratztes Gesicht. „Es war das erste Mal in drei Monaten, dass wir ihnen eine Niederlage beibringen konnten. Die Gesichter hättest du sehen sollen, als …“

„Das interessiert mich nicht“, fuhr Martin ihn an, um dann etwas ruhiger weiterzusprechen: „Nur ab dem Moment, bevor es hier geknallt hat.“

Daniel zuckte zusammen. „In Ordnung … also, wenn wir uns mal ein Auto ziehen können, hämmern wir damit immer volle Möhre über die alte Bahn hier, bevor wir es gegen ordentlich was zu mampfen oder so eintauschen. Daher haben wir ja auch unseren Namen. Sowas macht tierisch Bock. Na ja, und Frank hat’s dann halt ein bisschen übertrieben. Ich hing grad aus dem Fenster hinten, als die Karre ’nen Mordssatz machte. Hab direkt gecheckt, das geht nicht gut, aber da war’s schon zu spät, ich flog durch die Luft und bin hier aufgeschlagen. Den Rest kennst du.“

„Kenne ich nicht“, sagte Martin. „Wo sind denn dieser Frank und dein anderer Kumpel hin, wenn ihr eine Bande seid?“

Daniel sah mit einem Mal sehr resigniert aus. Nach einer Pause antwortete er leise: „Die sind vermutlich abgehauen …“

„Tolle Meutenfreunde“, meinte Martin, drehte sich zum Wagen und ging darauf zu. Ihm war nämlich eingefallen, dass Autos normalerweise einen Verbandskasten mit sich führten, der sich entweder unter einem Sitz oder im Kofferraum befand. Wenn er schon sein Sanpack angebrochen hatte, konnte er es daraus vielleicht wieder auffüllen oder den Kasten gleich ganz mitnehmen. Nachdem er durch die aufgebogene Fahrzeugtür unter die Vordersitze des halb auf der Seite liegenden Wracks geschaut und nichts gefunden hatte, versuchte er, die stark verzogene Kofferraumklappe zu öffnen. Als ihm dies auf herkömmlichem Wege nicht gelang, packte er ein hervorstehendes Teil mit beiden Händen und riss mit einem gewaltigen Ruck das verbeulte Stück Blech zur Seite. Aus dem Kofferraum heraus polterten zwei Teile: ein leerer Blechkanister, der nur geringfügig eingedellt war, und der ersehnte kleine Verbandskasten aus Kunststoff. Seine Hülle war zwar an einigen Stellen gebrochen, aber der Inhalt schien noch vollständig intakt zu sein.

Mit den Teilen in den Händen kehrte Martin zum nunmehr bewundernd dreinblickenden Daniel zurück. Dieser hatte sich zum Sitz aufgerichtet und stammelte: „Donnerwetter! Schade, dass du ein Soldat bist … solche Kräfte könnten wir gut gebrauchen …“

„Wir? Wen meinst du mit ‚wir‘? Etwa deine Kumpel, die dich hier verrecken lassen hätten? Bursche, wach auf, das Thema hat sich erledigt! Kein Rumgeheize mehr mit fremden Karren, du bist auf dich gestellt und wirst hoffentlich nicht mehr so ausgesprochen dämlich sein, deine Ressourcen so zu verschwenden!“ Nun war Martin doch aufgebracht und musste sich wieder etwas zügeln. „Sag mir lieber, ob ihr noch mehr brauchbares Zeug an Bord hattet.“

„Im Handschuhfach könnten noch ein paar Dosen liegen“, hauchte Daniel eingeschüchtert mit gesenktem Blick.

„Okay, ich seh mal nach“, erwiderte Martin ruhiger. Und tatsächlich, nach einer Weile kehrte er mit vier Dosen zurück. „Ist da auch ein Öffner dabei?“

Zum ersten Mal zeigte Daniels Gesicht ein richtiges Lächeln. „Manchmal ist es gut, der Depp zu sein, der meist nicht fahren darf, aber alles reparieren können soll“, sagte er und wollte etwas aus seiner Hosentasche herausholen. Mit einem Aufschrei fiel er wieder zurück auf den Boden. Diese Bewegung war offensichtlich sehr schmerzhaft für ihn gewesen. Martin ging zu ihm und zog vorsichtig ein zusammengeklapptes Mehrfachwerkzeug aus seiner Tasche. Seine Augen begannen zu leuchten. Dieses Ding war nicht mit Gold aufzuwiegen, wenn man sich ohne Ausrüstung durch ein gesetzloses Land schlagen musste!

„Hab ich mir doch gleich gedacht, dass du auch nur ein Dieb bist“, erklang es gedämpft von unten.

Statt darauf einzugehen, legte Martin seine Hände unter Daniels Kopf und Rücken und richtete ihn vorsichtig wieder zum Sitz auf. Dann sah er ihm direkt in seine nun wieder furchtsamen Augen und sprach sanft: „Mein Junge, es tut mir leid, dass du so etwas denkst. Ich verstehe dich, du hast nichts anderes kennengelernt. Dafür wird es jetzt langsam Zeit.“

Daniel glaubte, er habe sich verhört. Redete so ein Krieger der Königlichen Urgalanischen Armee, selbst wenn er offensichtlich allein durch die Lande streifte? Er selbst war ein Atalane, sein Leben war für einen Urgalanen keinen Pfifferling wert. Dieser Kerl jedoch behandelte ihn, als wäre er sein Onkel oder sowas … Jetzt hielt er ihm auch noch eine von den Dosen hin!

„Wünsche ein angenehmes Nachtmahl … oder Frühstück“, fuhr Martin nun fort. Recht hatte er, denn im Osten zeigte sich allmählich der Silberstreif des ersten Tageslichts. „Bevor wir hier aber zu schmausen beginnen, sollten wir vielleicht von der Straße heruntergehen. Vielleicht kommen ja doch noch ein paar von diesen Brandhörnern vorbei, um euch zu jagen. Kannst du aufstehen?“

Nein, das konnte Daniel nicht. Also ergriff Martin ihn unter Schultern und Knien und hob ihn hoch.

Daniel schrie auf, Pein raste von seinem Bein aus durch seinen Körper und auch die pochenden Kopfschmerzen wurden wieder stärker. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er alle Kräfte dafür benötigte, weitere Schmerzensschreie zu unterdrücken, wurde er schließlich auf dem Boden unter einem Obstbaum abgelegt und fiel keuchend in sich zusammen. Nichtsdestoweniger musste er noch ertragen, dass ihm Martin etwas später im Halbdunkel den Verband wechselte.

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