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Galdauer Land

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Martin sann immer noch über die Begegnung in der Kneipe nach, als er auf der breiten, aber zu einem Großteil überwucherten Straße gen Südosten weiterzog. Er hatte nach einigen Stunden Marsch in Richtung seines Heimatlandes die Umgebung Kippstadts hinter sich gelassen und befand sich nun in einem ehemals fruchtbaren Gebiet Atalans. Hier war es wenigstens ruhig und man musste nicht ständig mit Überfällen rechnen. Die früher gut ausgebaute, mehrspurige Straße, auf der moderne, schnelle Fahrzeuge entlanggebraust waren, war nunmehr von Löchern durchzogen und an den Rändern mit Büschen bewachsen. Auch die Fahrbahndecke selbst zeigte mehr grünen Kräuterbewuchs als das Grauschwarz des früheren Asphaltbelags. Schrott und Wrackteile lagen herum und säumten die Ränder. Dahinter lagen ehemalige Obstplantagen, die nun verwilderten und Tieren oder Landstreichern Heim und Nahrung boten.

Martin schüttelte den Kopf. Was für eine Schande! Hier verrotteten möglicherweise in jedem Sommer Tonnen essbarer Früchte, während sich in der Stadt zig Meuten um die wenige vorhandene Nahrung prügelten. Aus Angst verließen sie die Stadt nur, wenn sie mussten – Angst davor, dass sie von anderen Banden aufgerieben wurden oder dass bei ihrer Rückkehr bereits eine andere Meute ihr Gebiet beanspruchte. Was war nur aus diesem Land geworden?

Natürlich hatte Oskar noch Vorräte unter einer losen Diele in seinem Hinterzimmer gehabt. Dieser Bursche wusste, wie man überlebte. Selbst die zwielichtigen Gestalten, die sich meist in seinen Räumlichkeiten herumtrieben, wussten einen Anlaufpunkt wie die Kneipe zu schätzen und waren bereit, auf welche Weise auch immer für das zu bezahlen, was man dort bekam.

Nach einem guten Mittagbrot hatte sich Martin also mit einer Tasche und ein wenig Proviant wieder in Richtung Urgalan aufgemacht. Dafür hatte er allerdings auch etwas hergeben müssen: einen Teil der Notausrüstung jedes Kämpfers, das Texpack, womit man Schäden an Kleidung oder auch Schuhen selbst reparieren konnte. Nur sein Sanpack war ihm noch geblieben, auch wenn das Pflastermaterial durch seinen unfreiwilligen Aufenthalt im Wasser des Meeres womöglich unbrauchbar geworden war. Obwohl er gut vorankam, dauerte Martin angesichts der sinkenden Sonne die Reise viel zu lange. An diesem Tag würde er Galdau nicht mehr erreichen und war vermutlich dazu gezwungen, die Nacht abseits der Straße in einem der alten Plantagengebiete zu verbringen. Nun, dies hatte auch Vorteile – zu dieser Zeit des Jahres gab es möglicherweise bereits verlassene Apfelbäume mit Früchten daran, so dass er ein Frühstück und weiteren tragbaren Proviant bekommen konnte.

Martin hielt einen Moment inne und fühlte in sich hinein. Ja, das Licht war noch dort. Die bedrückende, triste Umgebung schlug einem aufs Gemüt. Wer überall nur Zerstörung zu sehen bekam, konnte vergessen, wie reich er innerlich war. Er wollte nicht, dass so etwas passierte. Dazu war ihm das neu Gelernte viel zu wertvoll. Wie viel mehr stimmte es mit seinem inneren Empfinden überein als der Inhalt seines bisherigen Lebens …

Die Sonne versank hinter dem bewachsenen Seitenstreifen. Es begann, dunkler und kühler zu werden. Nicht eine Menschenseele war Martin seit dem Verlassen Kippstadts begegnet. Lediglich ein Luchs oder Marder lief von Zeit zu Zeit über die verwüstete Straße, oder ein Rabe kreiste darüber. Es war Zeit geworden, sich einen Schlafplatz zu suchen. Also bahnte sich Martin einen Durchgang durch das Gestrüpp am Straßenrand auf das dahinterliegende Feld. Dort wuchsen Disteln, Brennnesseln und andere Kräuter zusammen mit halbhohen Büschen zwischen der ehemaligen Plantagenbepflanzung, deren Anordnung in diesem Durcheinander nur noch mit einiger Fantasie zu erkennen war. Er erblickte Zwetschgenbäume, die jedoch ihre Kraft in die Ausbildung von Wassertrieben gesteckt hatten und nicht mehr trugen. Alte Kirschbäume mit längst verfaulten Früchten zeichneten sich gegen den dunkler werdenden Abendhimmel ab und verweigerten ihm die Hoffnung auf etwas Obst am nächsten Morgen. Martin seufzte. Zwerg müsste man sein, dann hätte man die Bäume um Unterstützung bitten können, wie ihm die beiden winzigen Frauen erzählt hatten. So aber musste er sich freuen, dass es nicht regnete und kaum windig war.

Bevor er die Augen schloss, dachte er noch einmal an den vergangenen Tag zurück. Die Sache mit der Karnola ließ ihm keine Ruhe. Ein solches Verhalten kannte er von den Geheimagentinnen des urgalanischen Königshauses nicht. Wenn sie sich jemandem zu erkennen gaben, erfuhr man entweder rasch den Grund oder war danach tot. Diese schwarze Dame jedoch war einfach nach dem üblichen Einschüchterungsritual verschwunden und hatte selbst Oskar, einen Atalanen, am Leben gelassen. Vielleicht hatten sich in den Wochen seit der Abreise seiner Einheit aus Urlich, Urgalans Hauptstadt, mehr Dinge verändert, als er dachte. Nun, an diesem Tag würde er es nicht mehr herausbekommen. Er drehte sich auf die Seite und war bald eingeschlafen.

Ruckartig fuhr er aus dem Schlummer. Was war denn das gewesen? Dunkel war es noch, der Himmel bewölkt, der Mond verhüllt. Wie spät mochte es sein? Gerade wollte Martin sich wieder hinlegen, als er erneut ein lautes Geräusch hörte: die Hupe eines schweren Wagens. Nun drang auch Motorgeräusch an sein Ohr, ein hohes Brüllen. Jemand fuhr das Fahrzeug in einem niedrigen Gang mit hoher Geschwindigkeit. Schon war auch das Rumpeln zu vernehmen, welches es auf der überwucherten Straße verursachte, dazu schrilles Lachen und Johlen. Das konnte nur eins bedeuten: Eine der Meuten hatte einer anderen ihr Statussymbol abgeluchst und veranstaltete nun eine Art Siegesfeier.

Martin schüttelte den Kopf. So eine Vergeudung wertvoller Ressourcen in diesem armen Landstrich … Vor wenigen Jahrzehnten war dies Gebiet hier wohlhabend gewesen und viele solcher Vehikel waren auf der sogenannten Autobahn von Galdau nach Kippstadt, damals noch Feste des Lichts, gefahren. Fluggeräte waren nördlich der Stadt gestartet und gelandet, hatten weite Strecken zurückgelegt und Atalanen in Gebiete gebracht, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Eisenbahnen hatten in regelmäßigem Takt zwischen allen Städten des Landes verkehrt. Hohe Türme hatten sogenannte Funkwellen über den halben Kontinent geschickt, praktisch jede atalanische Familie hatte einen oder mehrere Empfänger für die Bild- und Tonübertragungen gehabt. Über das kleine Meer im Norden der Stadt war eine alles überragende Brücke gebaut worden, die weithin als Denkmal für die technischen Leistungen Atalans geleuchtet hatte. Nun aber war alles zerstört. Keiner schien mehr genau zu wissen, was passiert war. Niemand sendete mehr eine Übertragung, in rostenden Waggons hausten die Banden des Vorlandes und selbst die Große Brücke war vor vielen Jahren eingestürzt.


Urgalan war von den Annehmlichkeiten der atalanischen Kultur ausgespart worden. Sein Land galt als unzivilisiert und barbarisch, womit die Atalanen damals wie derzeit nicht ganz unrecht hatten. Neidisch und von Hass zerfressen hatte sich der damalige Herrscher über den Niedergang des reichen Nachbarlandes gefreut und an einem bestimmten Punkt die Gelegenheit ergriffen, seine Horden auszusenden. Auf Widerstand war er kaum noch gestoßen. Feige und mit unsäglicher Brutalität waren die Krieger Urgalans über das darniederliegende, wehrlose Land hergefallen und hatten es im Handstreich unterworfen. Um die Bewohner zu demütigen, hatte der König dem Namen des Landes das Wort „Provinz“ vorangestellt. Danach war das Gebiet geplündert und sich selbst überlassen worden.

Das alles war der Grund dafür, dass dort auf der alten Autobahn nun Menschen solche Rituale brauchten, um ihrem Leben ein wenig Bedeutung zu geben. Auch er, Martin, hatte seine eigenen Bräuche dafür gepflegt, als er sein Licht noch nicht gekannt hatte. Er konnte Leute verstehen, die lautstark schreiend ihren Triumph zelebrierten. Allerdings war er sich mittlerweile auch der Folgen bewusst, welche solches Handeln unweigerlich nach sich zog. Er selbst wollte nicht mehr unaufhörlich zwischen Rausch und Frustration pendeln.

Der Wagen war inzwischen näher gekommen. Das Rumpeln und Motorengebrüll war nun unüberhörbar, Lichtkegel durchschnitten die dunkle Nacht, und jedes Mal, wenn die Räder mit dem alten Asphalt in Kontakt kamen, gesellte sich Reifenquietschen hinzu. Es musste sich um ein Geländefahrzeug handeln, denn von Zeit zu Zeit krachte es, wenn ein offenbar schwerer Kühlerschutz einen Ast rammte und von der Straße stieß. Die Insassen hingen wohl teilweise aus den Fenstern heraus, ihr Gejohle hätte einen Bären aus seinem Winterschlaf geholt.

Plötzlich endete das Rumpeln abrupt. Der starke Motor heulte mit höchster Drehzahl auf, Scheinwerferlicht erhellte kurz die Wipfel der Bäume neben der Straße und das irre Lachen der euphorisierten Fahrgäste verwandelte sich schlagartig in ein entsetztes Kreischen. Einen Herzschlag später ertönte ein unglaublich lautes Krachen, gefolgt vom Scheppern sich verformenden Metalls und dem Splittern von Glas. Das Poltern einer sich überschlagenden großen Masse schloss sich an, dann war alles wieder still und dunkel.

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