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Auf ins Ungewisse

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Gemächlich zockelte das Gespann über die schmale Straße, die von der Küste aus ins Landesinnere führte. Sus saß mit traurigem Blick auf dem neu gezimmerten Kutschbock und hielt die Zügel des kleinen, aber kräftigen Lasttieres, welches ihnen der Bauer für die Habseligkeiten gegeben hatte, die sie ansonsten hätten zurücklassen müssen. Schade, dass niemand in der alten Hütte wohnen wollte. Sie lag aber einfach zu nah am Küstenwald für jemand, der nichts von den Zusammenhängen verstand, und Pinienreiter konnte es nun einmal nicht geben. Betrübt schaute Sus auf den Weg, den das Gefährt mit knarrenden Rädern und quietschender Deichsel entlangrollte. Es war schon schwierig gewesen, sich von den zahmen Ogons und dem Osled zu verabschieden, die ihnen so lange treu gedient hatten. Na, so hatten sie bei dem Bauern wenigstens ein neues Zuhause, und Ogons als Transporthilfen hatte wahrlich nicht jeder.

Ama gesellte sich zu ihr. Offenbar war sie mit den Befestigungsarbeiten in der wieder aufgebauten Fahrhütte fertig geworden. Zu Beginn der Fahrt war doch einiges durcheinandergeflogen. Die Hütte war kleiner geworden, als sie es ursprünglich gewesen war, denn erstens hatten sie nicht so viel Material gehabt und zweitens hatte noch der Kutschbock Platz finden müssen, der ja beim Betrieb mit einem Motorfahrzeug nicht nötig gewesen war. „Soll ich dich ablösen, Schwester?“, fragte sie.[no image in epub file]

Sus schüttelte den Kopf. Sie waren ja seit ihrer Abreise am frühen Morgen gerade erst acht oder neun Langmaße gereist. Wenn sie also erschöpft aussah, dann aus dem Grund, dass ihr der Abschied so schwerfiel. So sehr hatte sie sich daran gewöhnt, als Einsiedlerin zu leben, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen konnte, regelmäßig fremden Leuten zu begegnen. „Sag mal … ist es eigentlich in Ordnung, wenn man Schwierigkeiten mit solchen Gefühlen hat?“, fragte sie unvermittelt.

Ama drehte sich zu ihr und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. „Du glaubst doch nicht, dass mir das einfach so von der Hand geht, oder?“, fragte sie.

„Aber du wirkst so gefasst und zuversichtlich! Ich trage die ganze Zeit Kummer in mir, obwohl ich doch weiß, dass das gar nicht nötig ist, weil ich doch vertrauen darf!“, stieß Sus etwas gequält hervor.

Ama nahm ihr die Zügel aus der Hand und hielt mit einem lauten „Rrrm“ den Wagen an. Dies war wichtiger als voranzukommen. „Kommst du bitte kurz mit? Es ist schwierig, so etwas auf einem Kutschbock zu besprechen.“

Sus stieg mit Tränen in den Augen vom Fuhrwerk hinab und ließ sich von Ama einige Kurzmaße weit in den Graswald führen. Neben einem großen Elefantenfuß, der zwischen den Gräsern seine Wurzeln geschlagen hatte, nahm Ama sie in die Arme und sagte ihr sanft ins Ohr: „Du brauchst dich mit solchen Gedanken nicht zu belasten, Schwester. Wenn Vertrauen da ist, ist es da; wenn es mal fehlt, wird es zurückkommen. Niemand verlangt von dir oder sonst jemandem, seine Gefühle beherrschen zu können. Lass den Schmerz gewähren, so lange er sein möchte. Und glaube nicht, dass du allein Kummer trägst, nur weil ich gefasster wirke. Komm, lass es heraus … und dann sieh mich an.“

Sus spürte die Wärme ihrer älteren Freundin und begann zu schluchzen. Mehr und mehr Tränen ergossen sich aus ihren Augen über Amas Arm, um dann auf die Erde zu tropfen. Nach etwa einer Mittelzeit warf sie auf einmal den Kopf zurück und dann brüllte es aus ihr heraus: „Ich will hier nicht weg! Es war so schön alles! Ich weiß, dass es vielleicht besser wird und wir auch den Kontakt zu anderen Schwestern finden werden, aber es war einfach total schön!!“

Ama wartete eine Weile, bis das Schreien wieder in Schluchzen übergegangen war. Dann nahm sie Sus’ Hände in ihre, stellte sich kerzengerade mit geschlossenen Augen vor sie hin, führte ihre eigenen mit den Handflächen der jüngeren Bruka zusammen und flüsterte: „Nun schau.“

Allmählich entstand ein Gleißen zwischen ihren Handflächen, welches sich zu einem hellen Leuchten steigerte. Sus beruhigte sich zusehends und richtete sich ebenfalls auf. Einige Mittelzeiten lang verharrte sie verbunden mit ihrer Freundin. Als sie ihre verquollenen Augen wieder aufschlug, sah Ama sie bereits mit ihrem sanften, tröstenden Blick an.

„Du bist ja genauso traurig wie ich …“, flüsterte Sus. Der Kloß im Hals war zu groß, als dass sie richtig hätte sprechen können. Sie führte ihre Hand durch Amas Gesicht und strich ihr ebenfalls eine Träne von der Wange. „Danke für diese Schau der Dinge.“

„Es ist immer schön, das Erleben mit dir zu teilen, verehrte Schwester“, sagte Ama sichtlich ergriffen. „Noch etwas: wenn du es dir wirklich mit dem Herzen wünschst und es nicht nur ein Festhalten an Dingen ist, dann wirst du eines Tages zurückkehren.“

Die beiden Brukas umarmten sich noch eine Weile, bis sie gemeinsam Hand in Hand die kurze Strecke zum Weg zurückschlenderten. Sie bedankten sich bei ihrem Lasttier für seine Geduld mit einer Schale Wasser. Dann nahmen beide auf dem Kutschbock Platz und setzten ihre Reise mit Ama an den Zügeln fort. Nach ein paar weiteren Langmaßen bog das Gespann nach links auf eine schmale Straße ab, um gleich darauf rechts herum auf einen Feldweg einzuschwenken. Langsam stieg die Sonne am Himmel empor.

„Weshalb fahren wir eine so schlechte Strecke?“, fragte Sus ihre Nachbarin. „So dauert es bestimmt doppelt so lange, bis wir wieder ein Dorf erreichen, oder?“

Ama antwortete mit einer Gegenfrage: „Hast du es denn eilig oder möchtest ein Dorf erreichen? Ich ziehe einsame Pfade in Baumwaldnähe vor, da wir auf diese Weise nicht so vielen Menschen und ganz sicher keinen Motorfahrzeugen mit Küstenbesuchern begegnen werden. Vielleicht treffen wir ein paar Reiter oder Trugkerle, dann müsste ich schon zur Genüge wieder ‚alte Frau‘ spielen. Außerdem ist in verlassenen Gegenden die Chance größer, dass wir unsereins begegnen.“

„Meinst du etwa, dass wir bereits hier weitere Schwestern treffen könnten?“, fragte Sus zweifelnd.

Ama schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht. Wir haben eher noch eine weite Reise vor uns, bis wir sie finden. Lass uns weiterhin schnurstracks nach Südwesten ziehen, bis wir in ein paar Tagen den Elvon überqueren und ins Mittelland kommen. Ich würde dafür gern die alte Fähre von Guldorf benutzen und die großen Brücken und Querungen lieber meiden. Falls wir den Elvon ein Stück weiter westlich oder östlich erreichen sollten, fahren wir ihn bis zur Fähre entlang.“

Sus nickte zufrieden. Das klang nach einem Plan, an dem sie sich ein wenig festhalten konnte. Wie schön, dass ihre liebe Freundin so gut vorausdenken konnte!

Die Sonne erreichte ihren höchsten Punkt und fing wieder an zu sinken. Durch Graswälder und Mooswiesen führte der Pfad südwestwärts über das flache Küstenland. Die Vögel des späten Sommers sangen ihre Lieder in den Feldern und wenigen Baumwäldern. Kornblumen und Krallmohn säumten den Weg. Manchmal, wenn deren Kelche sich über den Pfad neigten, stoppte der Wagen, damit die beiden Reisenden ihre Köpfe in die großen Blüten stecken und den intensiven Duft genießen konnten. Gleichmäßig zog das brave Lasttier das Fuhrwerk holpernd voran. Jeder Bachlauf wurde zum Saufen und zum Füllen der Trinkgefäße genutzt, auch Heu und Moos gab es reichlich überall zu fressen. Irgendwann stimmte Ama ein Kutschlied an, in welches Sus mit einfiel.

Als es später Nachmittag geworden war und die Sonne sich allmählich dem Horizont zuneigte, entschieden sich die beiden, einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen. „Falls wir nochmal durch einen kleinen Flecken kommen, sollten wir schauen, ob wir für ein paar Beutel unserer Kräuterteemischungen etwas zu essen bekommen können“, sagte Ama. „Und danach werden wir auf einer freien Fläche kampieren. Gut, dass wir mit dem Wetter Glück haben!“

Sus wollte gerade etwas erwidern, als sie plötzlich stutzte. Auch Ama reagierte sofort, zog die Zügel und machte „Rrrm“. Das Gespann hielt an, denn an dieser Stelle ging es nicht weiter. Zumindest im Moment nicht, weil quer auf dem Weg ein Hüne wie eine Vogelscheuche mit ausgebreiteten Armen stand. Er trug die einfache Kleidung eines Bauern, hatte den langen Griffstiel eines Pfluges in der Hand und maß in der Höhe in jedem Fall mehr als zwei Kurzmaße.

„Haaalt!“, rief er mit heiserer küstenländischer Stimme. „Ihr müsst umkehren. Fahrendes Volk ist in unserem Flecken nicht erwünscht!“

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