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Die islamische Oikumene

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Aus Sicht der mittelalterlichen islamischen Welt nahm das Land der Franken einen ähnlichen Platz ein wie der heutige Nahe Osten im Bewusstsein vieler Menschen im Westen. Oberflächlich betrachtet, war Westeuropa für mittelalterliche Muslime eine verarmte Region, man könnte sagen: ein „Entwicklungsland“ am Rande der Welt, bewohnt von einem fanatischen, kriegerischen Volk, Anhängern eines rückständigen Glaubens. Seine Wirtschaft hatte außer billigen Märkten und Rohstoffen wenig zu bieten. Es verfügte über einiges an erstaunlicher Architektur und extravaganten Bräuchen, aber sonst nicht viel. Die islamische Welt hingegen erschien wie das Idealbild der Zivilisation: wohlhabend, geordnet, aufgeklärt, imperial und beschützt von einem gnädigen Gott.


Karte 2 Die mittelalterliche Welt um 1050 (© 2013 Elisabeth Alba)

Der Vergleich ist nicht ganz fair, schon weil die islamische Welt um 1050 viel größer war als das lateinische Christentum (Karte 2). Selbst wenn man dessen Grenzen großzügig zöge, etwa von Österreich bis Irland, ohne Skandinavien und die mit den Byzantinern und Muslimen umstrittenen Grenzländer, käme man auf nicht mehr als 1,7 Millionen Quadratkilometer. Das ist nur ein Bruchteil der konservativsten Definition der Dar al-Islam, die sich von al-Andalus bis nach Iran erstreckte, die Grenzländer in Mittel- und Südasien, dem Kaukasus und Afrika nicht eingerechnet: ein gewaltiger Streifen der Erde über drei Kontinente und etwa 12 Millionen Quadratkilometer. Selbst wenn man die dünn besiedelten, entlegenen Zonen der Sahara und der Arabischen Halbinsel berücksichtigt, ist klar, dass die islamische Welt und das lateinische Christentum in keiner Weise als ebenbürtig betrachtet werden konnten.

Das deutlichste Kennzeichen von Zivilisation waren Städte, und anders als in Westeuropa gab es in den Ländern des Islams eine Menge davon, fast überall, wo das Land eine dauerhafte Besiedlung möglich machte. Wie die erwähnten Reiseberichte zeigen, kannten Muslime einige große Städte wie Rom und kleinere wie Rouen, Mainz, Prag und Krakau. Hinzu kamen leicht sagenumwobene Orte wie Paris und einige verpestete Weiler wie Venedig.

Das aufkeimende städtische Leben im mittelalterlichen Europa war jedoch nichts, verglichen mit dem Nahen Osten des Mittelalters, einer der am stärksten urbanisierten Regionen auf dem Globus, wo es nicht nur Städte, sondern ganze Netzwerke von Städten gab. Der Nahe Osten war, dem Klischee der Archäologie gemäß, die „Wiege der Zivilisation“, wo die ersten komplexen urbanen Strukturen der Menschheitsgeschichte entstanden waren. Seit dem 4. Jahrtausend vor Christus hatte die städtische Kultur des antiken Orients hinreichend Gelegenheit gehabt, fortzuschreiten und sich auszubreiten, und das Ergebnis war, dass zur Zeit der Kreuzzüge im 2. Jahrtausend nach Christus der Orient nicht nur Erbe antiker Städte wie Jerusalem, Aleppo und Damaskus war, sondern auch Schauplatz urbaner Expansion und dynamischer Neugründungen wie etwa der relativ jungen Metropolen Bagdad (gegründet 762) und Kairo (969). Hinzu kommen islamische Städte außerhalb des Nahen Ostens, etwa Tunis in Nordafrika und Córdoba, das Zentrum von al-Andalus.

Zudem war die ländliche Provinz im islamischen Mittelalter übersät mit einer unüberschaubaren Masse von Siedlungen unterschiedlicher Bedeutung, Größe und Funktion. Um das Jahr 1050 hatten sich diese Städte zu einer Reihe regionaler Netzwerke organisiert. Persische, hellenische, römische und andere städtische Strukturen waren nach den umfangreichen islamischen Eroberungen des 7. Jahrhunderts umgeformt worden und entsprachen nun, ergänzt um neu erbaute Städte, den städtischen Idealen des Islam. Da sie das gleiche römische Erbe teilten, waren viele mittelalterliche islamische Städte in Aussehen, Anlage und Funktion denen des lateinischen Christentums nicht ganz unähnlich. Geformt von unterschiedlichen klimatischen Bedingungen, Jahrhunderten islamischer Geschichte und den Anforderungen islamischer Gesetze und Institutionen, zeigten sie aber oft doch ein etwas anderes Gesicht als die Städte des Westens. So baute man etwa in Nordafrika und dem Nahen Osten Wohnhäuser fast ausnahmslos aus Lehmziegeln. Steinbauten blieben in der islamischen Zivilisation für gewöhnlich der Architektur der Macht vorbehalten: Moscheen, Palästen, Festungen und Marktplätzen. Noch seltener war Holz.

Außerdem waren islamische Städte oft größer. Sehr viel größer. Bevölkerungszahlen des Mittelalters können wir nur schätzen, aber immerhin feststellen, dass um das Jahr 1050 in den Hauptstädten der islamischen Welt Hunderttausende lebten, während man die Einwohnerzahl lateinisch-christlicher Städte in Zehntausenden maß. Bagdad hatte zur Zeit seiner Blüte im späten 9. Jahrhundert gut 800.000 Bewohner; Kairo, so neu es auch war, mit seinen Vororten etwa die Hälfte. In Córdoba lebten mindestens 100.000 Menschen, wahrscheinlich noch mehr.7 In der christlichen Welt kam, wie Harun ibn Yahya hätte bestätigen können, nur Konstantinopel, die Hauptstadt des griechisch-orthodoxen Byzantinischen Reiches, mit etwa einer halben Million Einwohner den großen islamischen Städten nahe. Im lateinischen Westen, wo die Urbanisierung nach dem Niedergang des städtischen Lebens zum Ende des Römischen Reichs gerade erst wieder ihren Anfang nahm, reichten selbst größere Städte kaum an die mittleren der islamischen Welt heran. Um 1050 lebten wohl selbst in mächtigen Metropolen wie Rom, Mailand und Köln höchstens 30.000 bis 40.000 Menschen, in Paris und London um 1100 jeweils etwa 20.000. Das islamische Jerusalem, für Muslime eine verschlafene, wiewohl heilige Provinzstadt von 20.000 bis 30.000, muss den Franken, die 1099 dort anlangten, einigermaßen gewaltig erschienen sein.

Die großen und kleineren Städte der islamischen Welt unterschieden sich nach ihrer Funktion in Marktzentren, heilige Stätten, Verkehrsknotenpunkte, Garnisonen, administrative Standorte und diverse Kombinationen daraus. Die Macht, wie auch immer man sie definiert, lag in den Städten. Nomadische Eroberer haben die Geschichte der islamischen Zivilisation an entscheidenden Punkten geprägt, ließen dabei jedoch ihre Heimat in Wüsten und Bergen meist zurück und siedelten sich in Städten an. Der ländliche Hof des Herrschers, ein Hauptmerkmal des mittelalterlichen Westens, kam in der islamischen Welt vergleichsweise selten vor. Die Städte zogen alle Arten von Menschen an; weitgespannte Netzwerke des Handels, Bildung und Pilgerfahrten sorgten dafür, dass jede florierende Stadt zum Mikrokosmos einer breiteren Oikumene werden konnte.

Die mittelalterliche islamische Welt war daher wesentlich vielfältiger als Westeuropa. Ihre Städte waren bevölkert von Muslimen, Juden und Christen unterschiedlichster Couleur – freien Männern und Frauen, aber auch Sklaven, Handwerkern, Pilgern, Bettlern und Soldaten. Das konnten Araber sein, Perser, Türken, Kurden, Griechen, Slawen, Afrikaner, selbst Iren, die aus der gesamten islamischen Welt und von außerhalb stammten; ihre Vielfalt ist der vielleicht deutlichste Beleg für den imperialen, kulturellen und ökonomischen Erfolg der islamischen Zivilisation.

Teilweise aufgrund der größeren Bedeutung urbanen Lebens war die islamische Welt auch wohlhabender. In Europa wie in der islamischen Welt gründeten Gesellschaften auf landwirtschaftlichen Ökonomien, in denen das Land mit den Erträgen, die es lieferte, den zentralen Angelpunkt bildete, um den sich das Leben letztlich drehte. Der mittelalterliche Nahe Osten war gesegnet mit gewaltigen, ausgiebig bewässerten und intensiv bewirtschafteten Schwemmlandebenen, etwa in Mesopotamien und im Niltal. Zwar waren Westeuropa und der Orient durch kommerzielle Netzwerke über Land und See miteinander verbunden, die Handelsbilanz fiel jedoch entschieden zugunsten der islamischen Welt aus. Der Austausch beruhte auf einer relativ stabilen und weitverbreiteten Goldwährung, dem Dinar, daher beherrschten die Kaufleute des Nahen Ostens den überregionalen Handel mit Luxusgütern wie Gewürzen, Medikamenten, Stoffen aus dem Osten, Pelzen, Bauholz und – vor allem – Sklaven aus dem Norden und Westen. Darüber hinaus ist jeder Handel, wie jede Politik, letztlich lokal. In der islamischen Welt wie im lateinischen Westen hielt der örtliche Handel im bäuerlichen Hinterland die Wirtschaft der Städte am Laufen, und folglich war die Landbevölkerung dem Stadtleben nie ganz fremd. Der Austausch zwischen Stadt und Land betraf in erster Linie Nahrungsmittel wie Getreide (vor allem Weizen, aber auch Gerste und Hirse), Zuckerrohr, Speiseöl, Obst, Nüsse und Gemüse sowie einige wichtige Rohstoffe wie Baumwolle, Schafwolle, Brennstoff und Farben. Anders als auf den örtlichen Märkten des l ateinischen Christentums bot die Ökonomie der islamischen Welt der nomadischen Bevölkerung ausreichend Raum: Beduinen und Berbern seit der Frühzeit, später im Osten auch Kurden, Türken und Turkmenen. Neben traditionellen nomadischen Erzeugnissen wie Vieh (als Nahrunglieferant und Arbeitstier), Tierhäuten und Milchprodukten boten diese Bevölkerungsgruppen gewisse Dienste an, etwa „Schutz“ für Dörfer, die weit von den sichereren urbanen Zonen und Karawanen gelegen waren, und dienten im Militär der großen und kleinen Länder, aus denen die politische Landkarte der islamischen Oikumene bestand.

Der Kampf ums Paradies

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