Читать книгу Die verbotene Frucht - Paul Oskar Höcker - Страница 3
Erstes Kapitel
ОглавлениеSie sassen vor dem berühmten Fischrestaurant von Basso-Brégaillon am Kai von Marseille unter dem rot und weiss gestreiften Verandadach. Das tolle, bunte, aufgeregte Treiben der Hauptgeschäftsstunden eines sonnigen Februartages wirbelte vorüber: schreiende Händler und Zeitungsjungen, lebhaft verhandelnde Börsenleute, hochbeladen zu den Stapelplätzen schwankende Lastwagen, fauchende Autos, Trupps von Hafenarbeitern, Radfahrer, Neger, Matrosen, Spaziergänger, Stiefelputzer, Bettler, Strassensänger, spielende Kinder, bellende Hunde.
Ein frischer, kräftiger Seegeruch lag in der Luft. Auf schmalen Schaubänken zwischen dem mit Alpenveilchentöpfen besetzten Geländer der Veranda und dem Bürgersteig waren die appetitreizenden Schaltiere ausgebreitet, Austern in tangbeschwerten, triefenden Körben, Muscheln aller Art, Riesenhummern und Langusten. Die weissbeschürzten Kellner brachten den Gästen die „Früchte des Meeres“ gleich von der Strasse, verlockend angerichtet mit Grünzeug und Zitrone.
Alle Tische waren besetzt. Zumeist von laut redenden und schmatzend essenden Herren der wohlhabenderen Geschäftswelt von Marseille. Die wenigen Damen, die das Frühstück hier nahmen, schienen Fremde zu sein.
Wenigstens vermutete das Jutta. Sie hatte Augen für alles, und in ihrer lebhaften Weise machte sie ihren Gatten auf dies und das aufmerksam. Das war für sie hier ein Theater mit immer wechselnder Szene: in den Speisesälen zu ihrer Rechten das grossstädtisch elegante Leben, das doch das lässige Südfranzosentum nicht verleugnete, und die verwirrenden Strassenbilder zu ihrer Linken auf dem Hafenplatz, dessen Hintergrund der Mastenwald der sich wiegenden Segelboote bildete.
Herr von Succo nickte und lächelte. Manchmal ein bisschen überlegen. Er war weniger leicht begeistert als seine Frau. Allem Ausländischen gegenüber war er sogar eher abweisend. Mit einem gewissen Stolz betonte er das auch vor seiner Frau, die aus Koblenz stammte und in deren Familie in der grossen Revolution vor mehr als hundert Jahren „ein Tropfen französischen Blutes“ geraten war. Der Gegensatz hatte sich in ihrer jungen Ehe schon oft bemerkbar gemacht. Er trat jetzt auf ihrer ersten grösseren Reise noch deutlicher hervor.
Die Marseiller, die mit Austernschlürfen oder dem umständlichen Verzehren der safrangelben Bouillabaisse beschäftigt waren, schenkten dem deutschen Paar weiter keine Aufmerksamkeit. Vielleicht deshalb, weil Juttas Erscheinung in einem romanischen Lande nichts Auffälliges darstellte. Sie hatte dunkelbraunes Haar und dunkelblaue, vielmehr seltsam ins Blaugrüne schillernde Augen mit grossen Pupillen. Ihre feine, schlanke, keck hervorspringende Nase besass etwas Pariserisches.
Aber ein stattlicher Herr in mittleren Jahren, der im Innern des Restaurants sass, hatte die beiden schon eine gute Weile beobachtet. Er war sich darüber klar, dass er den jugendlich schlanken Deutschen mit dem leicht angegrauten Haar kannte. Ein Assessor oder Regierungsrat oder so etwas. Irgendwo in einem Kasino oder Manöverquartier Ostpreussens war er ihm begegnet. Ein leiser Zweifel bestand bei ihm nur: ob die rassige, schlanke, nervige Dame auch wirklich seine Frau war. Das englische Reisekleid war erheblich forscher, als man’s bei den deutschen Damen sonst auf Reisen sah; und der kokett aufgeschlagene Hut wies einwandlos auf Nizza als Ursprungsort hin. Schmunzelnd sagte er sich: So ganz verheiratet, mit Standesamt und so, sieht sie entschieden nicht aus ...
Inzwischen hatte der Landsmann ihn jedoch schon selbst entdeckt und grüsste verbindlich und ohne jede Verlegenheit zu ihm her, seinem Gegenüber ein paar erklärende Worte sagend.
Eine Minute später fand die Vorstellung statt, die jeden Zweifel zerstreute.
„Du gestattest, Jutta: Herr von Stangenberg. — Meine Frau.“
„Meine Gnädigste!“ Er küsste ihr mit abgezogenem Hut die Hand. „Das trifft sich ja allerliebst. Die ersten Landsleute seit fünf Tagen.“
„Wir sind nur auf der Durchreise hier in Marseille“, sagte Herr von Succo. „Wollen morgen mit der ‚Holstein‘ nach Alexandrien.“
„Ich dito.“
Freudige Überraschung. Man war nun sofort vertrauter miteinander. Herr von Stangenberg musste mit am Tische Platz nehmen. Gleich im ersten Gespräch ergab sich: er hatte einer Gutserbschaft halber vor zwei Jahren seinen Abschied aus dem Heere genommen.
„Ich setze voraus, meine Gnädigste: Hochzeitsreise?“ fragte er dann lächelnd.
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ihrem Gatten zu. „Gustl, ist es nicht schrecklich?“
Der bemerkte leicht belustigt: „Von diesem Verdacht können wir uns nämlich schon seit drei Jahren nicht reinigen.“
„Ich bin zerschmettert und nehme alles zurück. — Und so lange wär’s also schon her, dass wir uns nicht getroffen haben, Herr von Succo?“
„Es war beim Manöver in Ostpreussen.“
„Richtig. Ich erinnere mich genau.“
„Lüneburg — der Kommandeur — ist ein entfernter Vetter von mir.“
„Ei, jawohl, der lange Lüneburg. Sie lagen in Lasditen, dicht bei meiner Klitsche, ein halb Dutzend Stäbe, und an ein paar wonnigen Abenden mit Froschkonzert und ostpreussischem Maitrank gab’s die landesüblichen Dauerskate.“ Er lachte. „Wobei der lange Lüneburg sowohl Ihnen als mir eine Unmenge Zechinen abknöpfte.“
„Stimmt.“
„So, nun bin ich im Bilde. — Ja, gnädige Frau, Ihr Herr Gemahl musste die Sache nämlich immer erstens vom juristischen, zweitens vom moralischen und drittens vom vetterlichen Standpunkt aus beleuchten. Wir haben uns über seine Stegreifreden köstlich amüsiert.“
„Gustl, nein, sieh mal an, beim Militär hast du im Verdacht eines Humoristen gestanden?“ neckte Frau Jutta.
„Im Zivilleben nicht, meine Gnädigste?“
„Oh! Die Würde des Amtes!“ Sie nahm eine drollig kummervolle Miene an. „Und gar — seitdem mein Mann Oberstaatsanwalt geworden ist!“
„Ober —?! Hm. Ja, was verlangen Sie auch?“ Er ging auf die muntere Tonart der jungen Frau mit Laune ein, wandte sich dann aber mit wohlwollendem Staunen an den Juristen: „Übrigens scheint mir das eine Beförderung im Sturmschritt. Nicht?“
„Allerdings ist’s etwas rascher gegangen, als ich erwarten durfte. Hab’ mich natürlich riesig gefreut. Es galt aber heillos viel Arbeit zuvor.“
„Womit die jungen Ehefrauen nicht immer völlig einverstanden sind, wie?“ Der ehemalige Rittmeister kniff ein Auge zusammen.
Jutta lachte. „Gottlob sind wir jetzt nach Berlin versetzt. Denn die letzten Jahre in Schneidemühl — furchtbar. Nicht, Gustl?“
„Wir sind dafür auch mit einem fürstlichen Urlaub belohnt: zehn Wochen.“
„Das lässt sich hören. — Familie lassen Sie zu Hause nicht zurück, gnädige Frau?“
„Nein.“ Sie sagte es hastig. Es entstand darauf eine kleine Pause. Jutta hatte den Blick zur Seite nach dem Mastenwald gewandt.
Stangenberg tat seine anscheinend ungeschickte Frage leid. Er suchte den Eindruck rasch zu verwischen. „Gedenken Sie auch die übliche Nilfahrt bis Luksor und Assuan zu machen?“
Jutta war nicht bei der Sache. Irgendeine Gruppe zerlumpten Volks draussen fesselte ihre Gedanken: es waren schon mehrmals Bettler vorbeigestrichen, darunter auch ein junges Ding, kaum sechzehn Jahre alt, mit einem nur notdürftig bekleideten Baby. Juttas Blick wanderte mit dem kleinen Wesen mit; es trat dann eine wachsende Spannung in ihren Ausdruck. Sie vernahm die weitergehende Unterhaltung der beiden Herren schliesslich nur noch wie aus der Ferne.
„Mein Reiseplan hält vorläufig bloss Kairo fest. Und natürlich das Fajum.“
„Fajum ist auch mein Fall. Wie legen Sie die Strecke, Herr von Succo? Im März soll’s schon bomben heiss dort sein.“
„Anfang März will erst noch mein Schwiegervater zu uns stossen. Kapitän Plaschke vom Lloyd — er hat eine Auslandsinspektion und ist viel auf Reisen. Wir haben jetzt die Riviera hinter uns: Mentone, Monte, Nizza, Cannes.“
Succo hatte den Ton etwas erhoben, sprach auch rascher und schärfer, um seine Frau zur Sache zurückzubringen.
Aber sie hörte nicht. Ihr Blick hatte sich an die junge Mutter geklammert, die mit gesenktem Kopf draussen wieder über den Platz schlich. Es war, als ob den grossen Augen Juttas eine magnetische Kraft innewohnte, denn das Mädchen blieb jetzt plötzlich stehen und sah die fremde Dame scheu an.
„Gib ihr was, Gustl“, sagte Jutta leise.
Dicht bei der Veranda stand ein Polizist. Wohl lediglich diesem streng dreinblickenden Posten war es zuzuschreiben, dass die Gäste an der Strasse bis jetzt unbehelligt geblieben waren. Der Beamte musterte die still Dastehende ziemlich drohend.
„Hier darf anscheinend nicht gebettelt werden“, sagte Herr von Succo, dem jedes Aufsehen peinlich war. Er wollte seiner Frau einen Wink geben, aber sie starrte noch immer wie in einem Bann die Fremde und das Kind an.
„Gib ihr doch was, Gustl“, bat sie noch einmal, dringlich flüsternd, „sie bettelt ja gar nicht.“
„Bloss mit den Augen“, meinte der Rittmeister a. D. und griff lächelnd in die Tasche.
„Jutta!“ Succo suchte seine Frau zu beschwichtigen, da sie sich jetzt plötzlich erhob: offenbar wollte sie das Mädchen heranrufen. „Da draussen steht der Polizist. Pass auf, es setzt Unannehmlichkeiten, und dann bist bloss du schuld.“
„Die Augen von den beiden. Sieh doch nur. Was da drinsteht. Der Jammer. Der Hunger. Und wir sitzen hier, es geht einem gut, und man soll das Elend still und stumm mit ansehen.“
„Jutta, ich bitte dich. Nur nicht gleich so aufgeregt. Alle sehen schon her. Setz dich doch. Wir schicken ihr ein Frankstück hinaus, und damit holla.“
„Sie ist selbst noch ein Kind, die Mutter. Ach, Gustl, sieh nur, und die Kleine, wie die mich anguckt. Das arme Puttchen. Ach nein, Gustl, nicht bloss ein Frankstück. Bitte, bitte.“
Von allen Nachbartischen aus beobachtete man die Szene. Jutta hatte sich über das Blumengeländer gebeugt und suchte sich mit dem Mädchen zu verständigen. Sie wollte erfahren, wieviel Wochen das Baby zählte. Die Antwort war aber nicht zu verstehen. Der Rittmeister von Stangenberg meinte, es wäre gar keine Französin, sondern eine Andalusierin. Jutta hielt im Unterhandeln ihre rechte Hand hinter sich ihrem Gatten zu. Fast gleichzeitig legte jeder der beiden Herren eine grössere Silbermünze hinein. Jutta reichte der Fremden das Geld. Die nahm es mit hastiger Gebärde — und im nächsten Augenblick schoss sie davon, wie auf der Flucht vor dem Polizisten, der sich indessen schon wieder gleichgültig abgewandt hatte.
Nun setzte sich die junge Frau und lächelte still vor sich hin. „Es war noch nicht acht Wochen, sicher nicht. Aber wie’s mich angeguckt hat ...“
Herr von Succo nahm das Reisethema wieder auf, vielleicht etwas zu hastig, so dass man merkte, er wollte die Unterbrechung schleunigst vergessen machen. Er hatte ja immer zu zügeln, zu beschwichtigen und zu mässigen bei seiner Frau. Sie war ganz Nerv, ganz Temperament. Fortgesetzt arbeitete ihre Phantasie. Sie rieb sich damit vorzeitig auf, meinte er. Der Arzt hatte ihn auch schon gewarnt. Sie war achtzehn Jahre gewesen, als er sie geheiratet hatte. Ein Kind war zur Welt gekommen, aber nach wenigen Wochen gestorben. Er hatte damals viel mit ihr durchgemacht. Alles in ihr strebte nach Betätigung. Und ganz von ihren Stimmungen abhängig, setzte sie sich dabei auch manchmal über die Schranken hinweg, die ein ungeschriebenes Gesetz den Frauen der höheren Beamten zog.
„Nanu, Jutta, wo ist denn dein Armband?“ fragte er plötzlich.
Die junge Frau hob die Linke — suchte dann erschrocken auf ihrem Schoss, rückte den Stuhl zurück und stand auf — und auch die beiden Herren erhoben sich und begannen zu suchen. Sofort war ein Kellner zur Stelle. In der ersten Erregung — denn das Armband hatte grossen Wert — fand sich Succo nicht in die französische Ausdrucksweise hinein. Jutta half aus.
„Ich hab’s noch vorhin selbst gesehen, gnädige Frau“, bestätigte Stangenberg. „Ein goldenes Kettenarmband mit einem gefassten Brillanten, nicht wahr?“
„Das Mädel hat’s!“ stiess Succo aus. Nur eine Sekunde überlegte er. „Pardon!“ sagte er dann so kaltblütig, als es ihm möglich war, knöpfte seinen Rock zu und trat auf die Strasse.
Er schien die Gestalt noch im Gewühl zu erkennen, denn mit einem Male gab er sich einen Ruck und eilte davon.
Auf Stangenbergs Anordnung wurde der Direktor des Restaurants herbeigerufen. Wiederum gab’s eine Absuchung des Platzes — wiederum erfolglos.
Jutta sass mit einem Armsündergesicht da. Ihr Nachbar bemühte sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Sie haben wohl Angst vor Schelte?“ neckte er.
„Wenn er die Ärmste bloss nicht findet!“ sagte Jutta.
Dieser Gedankengang wirkte auf ihn so verblüffend, dass er zunächst sprachlos war: — sie sorgte sich also nicht um das Armband, sondern darum, dass die Diebin ertappt werden könnte. Das war originell.
Der Direktor hatte inzwischen den Polizisten unterrichtet. Der kam herein, und ein Herr aus der Nachbarschaft nahm an der Darstellung der Sachlage hilfreichen Anteil, weil die beiden Ausländer das Französisch der Zwischenfragen des stark nach Knoblauch duftenden Beamten nicht verstanden.
Da — mitten im Gewühl des Platzes — ein plötzliches Anschwellen des Lärms in einer der Gruppen. Ein zweiter Polizist schob im Geschwindschritt rechts die junge Bettlerin mit dem Kind, links einen halbwüchsigen Stiefelputzer vor sich her. Der Junge schluchzte — das Mädchen sah mit leerem, scheuem Blick vor sich hin.
„Da sind sie!“ stiess Jutta erschrocken aus.
In demselben Augenblick kam Herr von Succo eilig zurück. „Verzeihung für die Störung, Herr von Stangenberg. Darf ich Sie bitten, meiner Frau noch ein Viertelstündchen Gesellschaft zu leisten?“
„Mit Vergnügen, selbstverständlich. Und wie liegt der Fall?“
„Sie arbeitet wohl gemeinsam mit dem Bengel, die Kleine. Das soll ihr Bruder sein. Schon mal bestraft. Der Polizist kannte ihn. Als ich kam, teilten sie gerade das Geld. Aber das Armband war schon heidi. Haben sie sicher geschwind ’nem Dritten zugesteckt.“
„Dann lass doch, Gustl.“
„Wieso lass doch? Das wäre ja noch schöner, Kind!“
„Sonst willst du immer nicht, dass Aufsehen gemacht wird. Und jetzt bitte ich dich. Wirklich, Gustl.“
Ihr Gatte hatte schon wieder seine volle Überlegenheit zurückerlangt. „Nein, meine liebe Jutta, das ist für mich nun Berufssache.“
Stangenberg zwang sich zu einem Lächeln. „Ich denke, Sie haben Ferien?“
„I, man muss doch mal feststellen, wie die wackern Marseiller so ’ne Sache anfassen. Ist doch riesig bildend für unsereinen.“
„Lass sie laufen, Gustl, bitte, bitte, mir zuliebe, lass sie laufen!“ Es lag Angst in ihrem Ton.
„Fällt mir nicht ein, Kind. — Aber ich bin gleich wieder da. — Nochmals: mille fois pardon!“
Und weg war er.
„Ist es ein Andenken, gnädige Frau?“ fragte der Rittmeister. Und da sie kurz bejahte: „Ausgeschlossen ist’s ja nicht, dass Sie’s wiederkriegen.“
„Ich will es nicht. Ich werd’s auch nie wieder tragen.“
„Aber meine Gnädigste!“
„Ich kann den schrecklichen Blick nicht vergessen. So leidensvoll. Und das Würmchen — noch nicht acht Wochen!“
„Hm.“
Nach einer Weile begann sie’s zu frösteln. Ob er so gütig sein wollte, sie nach dem Hotel zu bringen, fragte sie. Die Rechnung war schon erledigt, Stangenberg gab dem Kellner noch die erforderliche Weisung und ein Trinkgeld, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg.