Читать книгу Die verbotene Frucht - Paul Oskar Höcker - Страница 4
Zweites Kapitel
ОглавлениеDas Hotel, in dem das Ehepaar wohnte, lag an der Cannebière, dem Glanzpunkt und Stolz von Marseille, dem grossartigen Boulevard, der vom alten Hafen nordwärts zur Stadt ansteigt. An einem sonnigen, windstillen Tag wie dem heutigen bot sich hier trotz der frühen Jahreszeit ein ganz sommerliches Bild. Vor den Cafés sass man an den kleinen Marmortischen bis weit in die Strasse hinein, die eleganten Marseillerinnen trugen ihre reichen Mäntel von Pelzwerk, Seide und Spitze, ihre Kunstwerke von Hüten und ihre Silberfuchs- und Hermelinschwänze zur Schau. Herren, eine Blume im Knopfloch, flanierten auf dem breiten Asphalt. Bei aller Geschäftigkeit, bei allem Lärm vor der Börse, vor den Kaufhäusern, vor der Grossen Oper, sah man doch an tausend Einzelheiten die Genussfreude dieses Volkes.
Aber Jutta fand sich in die Reiselaune, dies alles in sich aufzunehmen, nicht mehr hinein.
Stangenberg war ein weltgewandter Mann. Er erzählte unterwegs von seiner Herfahrt und verlangte gar nicht, dass die junge Frau mitsprach. Aber er beobachtete sie, denn sie fesselte ihn lebhaft. Sie war mädchenhaft schlank. Nur das Oval des Gesichtes verlieh ihrer noch herben Erscheinung einen weicheren, frauenhafteren Zug. Und — „in den Augen hatte sie’s“. Eine Durchschnittsfrau war sie jedenfalls nicht, das stand für ihn fest. Succo mochte sich vielleicht gesagt haben, dass es für einen Mann Ende der Dreissig im ganzen bequemer wäre, so ein blutjunges Ding zu heiraten. Man konnte sich seine Frau dann erziehen. Aber Stangenberg, in der Hinsicht erfahren, meinte bei sich: die würde ihm wohl noch manche Nuss zu knacken geben, die seltsam nervige, wenn nicht leidenschaftliche junge Frau. Er persönlich hatte ja auch schon seinen Roman erlebt: hatte sich nach nur zweijähriger Ehe scheiden lassen müssen.
In der Hotelhalle angelangt, versprach er, ihren Gatten zu erwarten. Sie fuhr also im Aufzug zu ihrem Zimmer empor, und er setzte sich mit einer Pariser Zeitung und einer Zigarette in einen Schaukelstuhl.
Als Succo ein halbes Stündchen später ankam — der Kellner des Fischrestaurants hatte ihm die Meldung richtig übermittelt — war er noch ganz erfüllt von dem Erlebnis auf der Polizei.
„Zustände sind das hier“, sagte er lachend, „einfach vorsintflutlich. Von Protokoll und so was keine Spur. Und das Spitzbubenvolk wird mit einer Höflichkeit behandelt — die reine Lustspielszene, sag’ ich Ihnen.“
„Hat das Mädel gestanden?“
„I bewahre. Ganz verstockt. Steht da und glotzt mich an, ordentlich gross und von oben her, dann weint sie wieder ein bisschen — na ja! Und der Junge weint mit. Schliesslich auch noch ihr Gör. Richtige Verhandlung wie bei uns, mit Personalien und so, scheinen sie gar nicht zu kennen. Das ist wieder ganz der feminine Zug in diesem Volk: weil sich’s um so’n Mädel handelt, bisschen hübsch ist sie ja auch noch, da schlagen sie ganz andere Saiten an als bei uns in solchem Falle. Nein, diese Franzosen — eine zu ulkige Gesellschaft!“
„Hat man das Pärchen denn schliesslich an die Luft gesetzt?“
„Na, das trauten sie sich denn doch nicht. Vorläufig bleibt das edle Paar mal eingesponnen.“
Auf Succos Einladung hin erklärte sich der Rittmeister gern bereit, den Rest des Tages in der Gesellschaft seiner Landsleute zu verbringen. Die Herren einigten sich, zunächst einen Wagen zu mieten, eine Spazierfahrt auf der Corniche, der Strasse am Golfufer, zu machen und später am Korso auf dem Prado teilzunehmen. Es blieb dann noch Zeit, sich zum Essen umzuziehen. Für den Abend bestellte man am besten Plätze in der Grossen Oper. Es wurde „Carmen“ gegeben.
Während der Spazierfahrt wurde das leidige Abenteuer nicht mehr besprochen. Von seinem schneidigen Eingreifen auf der Polizei hatte Herr von Succo oben im Hotelzimmer seiner Frau schon eine kurze Schilderung gegeben. Sie hatte darauf geschwiegen.
Unterwegs schien sich Jutta wieder ganz dem Zauber dieses gesegneten Fleckleins Erde hinzugeben. Man fuhr am Meere entlang und hatte immer den Blick auf die seltsam gezackten Felseninseln, die dem Golf vorgelagert waren. Die Herren vertieften sich mehr und mehr in jenen Gedanken- und Personenkreis, den sie in Deutschland zurückgelassen. Alles in allem verlief die Fahrt sehr angeregt. Auf dem Prado, wo von den Korsoteilnehmerinnen die unmöglichsten Hutformen zur Schau getragen wurden, gab es auch allerhand Lustiges zu beachten, was ihre Stimmung immer fröhlicher machte. Stangenberg war jedenfalls der Meinung, dass der kriminelle Zwischenfall nun endgültig vergessen sei.
Das Ehepaar sprach von der Angelegenheit erst im Hotel wieder, als Jutta ihre Toilette für den Opernbesuch beendigt hatte. Es war eine duftige Crêpe de Chine-Robe mit mehreren breiten Volants, das Staatsstück ihrer Reiseausstattung. Trotz den langen Handschuhen fehlte ihr etwas am linken Handgelenk. Sie griff, vor dem feierlichen grossen Spiegel stehend, unwillkürlich mit der Rechten dahin. Er sah die Bewegung und nickte.
„Nun sag mal, Kind“, hub er in versöhnlichem, fast etwas väterlichem Ton an, „warum hast du mir da bei Basso-Brégaillon heut mittag eigentlich so ’ne Geschichte gemacht, hm?“
Sie hob die Schultern und liess sie wieder sinken. Alles Festliche war sofort aus ihrem Ausdruck gewichen. Eine tiefe Traurigkeit teilte sich ihren Zügen mit.
„Kann man für Erinnerungen?“
„Erinnerungen — wieso? Überhaupt, man darf sich doch nicht gleich so hinreissen lassen.“
„Ich wollte der Ärmsten bloss was geben, weil — nun ja, weil sie das Baby hatte.“
„Es war eine ganz scheussliche Person, will ich dir sagen, Hafengesindel unterster Sorte. Damit sollst und darfst du dich nicht einlassen. Du bist mir zu gut dazu. Deinen Denkzettel hast du ja weg. ’s war nicht nur eine — eine ... na, eben aus der Hefe ... sondern auch noch glatt Diebin. Der Bruder mehrfach vorbestraft. Na, und an so was verschwendest du dein Mitleid. — Und das Armband“, setzte er lächelnd hinzu.
Sie hatte sich auf das Ende der mit Seide überzogenen Couch gesetzt. Es fror sie wieder. Sie kreuzte die Arme über der Brust und suchte die Oberarme mit den Händen zu wärmen. Für ein paar Augenblicke wirkte sie in dieser Haltung wie ein Schulmädchen, das ausgezankt wird. Aber in ihrer Stimme zitterte ein Unterton.
„Ich hatte Mitleid mit ihrem Kind, Gustl“, sagte sie gequält. „Ist so ein armes, verkümmertes Wesen verantwortlich für seine Mutter? — Und auch gar noch für den Onkel? — Du bist so hart diesen Leuten gegenüber.“
Er war zu ihr getreten und tätschelte sie auf den Nackenausschnitt. „Macht der Beruf. Ein Jurist blickt eben schärfer.“
„Aber das Wesentliche hast du doch nicht gesehen, Gustl, wie?“ Sie liess die Arme sinken und starrte ins Leere. „Es hatte die Augen von Hansheinrich, das Kleine.“
„Jutta! Aber nein — so ein Vergleich!“
„Ja, seine dunklen Augen, gross und fragend, und mit dem seltsam goldigen Schein. Und dabei so was im Blick, dass man fühlt, es lebt nicht lange.“
„Nein, nein, nein, nein. Ich verstehe dich nicht, Kind, nun rührst du all das wieder auf.“
„Glaubst du, dass ich’s je vergessen werde?“ Langsam löste sich erst links und dann rechts eine Träne aus ihren Augen. Sie liess sie hinunterrollen, ohne die Hand zu heben. „Und wenn ich mir nun vorstelle, sie haben meinetwegen die Mutter mitsamt dem Kind auf der Wache behalten, eingesperrt, über Nacht ...“
Er sah ihr tief ins Gesicht und erschrak über ihren Ausdruck, zwang sich aber dazu, sie herzhaft auszulachen. „Nein, Kind, was bist du mal wieder sentimental. Das ist meine lustige, flotte, burschikose, verwöhnte Jutta? Mit dem neuen Hut aus Nizza? Mit dem Spielteufelchen im Leib, he, von Monte Carlo? Na warte, du!“
Sie schluckte ihre Tränen hinunter und stand auf. „Ja, ich hab’ eigentlich gar kein Recht. Bin ja selbst so ein leichtsinniges Geschöpf.“ Sie sagte das schon wieder in hellerem Ton, von den paar Erinnerungen sofort gefesselt. „Aber siehst du: lieb wär’s eben von dir gewesen, wenn du mir die Bitte erfüllt hättest.“
„Hm. Sie laufen zu lassen?“
Sie nickte heftig.
„Gut. Also das nächste Mal. Wenn du das neue Armband verlierst.“ Er war neben sie getreten und hatte sie untergefasst. Gutmütig setzte er hinzu: „In Kairo kauf’ ich dir’s.“ Er küsste sie, ihren Kopf zurückbeugend, auf den Mund. Sie presste aber die Lippen fest zusammen. „Du, willst du wohl! Ich sammle feurige Kohlen auf dein Haupt, und du bleibst so ein Eiszapfen?“
Sie entwand sich ihm und nahm hastig den Abendmantel um. „Es ist schon Zeit. Herr von Stangenberg wartet.“
„Eigentlich schade. Hier wär’s nun doch riesig gemütlich gewesen. Weisst du, wie an dem Abend in Wiesbaden vor drei Jahren: da liessen wir auch das Kurkonzert und ... Weisst du noch?“
Auf diese Erinnerung an die Hochzeitsreise ging sie nicht ein. Und nun wusste er: sie schmollte.
„Kratzbürste!“ sagte er, während sie das Hotelzimmer verliessen.
Beim Essen und in der Oper wirkte sie wieder sehr verführerisch auf ihn. Sie sah heute abend vorzüglich aus. Übrigens lenkten sich viele Operngläser auf sie. Auch Stangenberg fand, dass sie den Vergleich mit all den herausgeputzten, juwelenbeladenen Logenschönheiten der Marseiller Welt nicht zu scheuen brauchte. Es lag ein besonderer Stil in der feinen und rassigen jungen Person.
Der Oper „Carmen“, die von mittelguten Sängern gegeben wurde, folgte ein hervorragend schönes Ballett. Die Vorstellung war erst kurz vor ein Uhr aus. Es galt, danach rasch ins Bett zu kommen, denn um acht Uhr spätestens musste man sich erheben.
Jutta hatte in ihrer lebhaften, sprühenden Art an allem teilgenommen. Ihr Gatte hielt die Verstimmung von zuvor also für überwunden.
Als sie in ihrem Hotelzimmer angelangt waren und das Licht aufgedreht hatten, nahm er sie wie in einem Überfall plötzlich in seine Arme, trällerte ein Motiv aus „Carmen“ und versuchte mit ihr ein paar Schritte zu walzen. Solche Anwandlungen hatte er selten — Jutta war aber immer mit Humor darauf eingegangen und hatte die Stimmung durch ihr dunkles, zärtliches Organ und ihr warmes, melodisches Lachen rasch gesteigert.
„Gustl!“ entfuhr ihr’s jetzt in jähem Schreck. Sie deutete mit weit ausgestreckter Hand auf den Stuhl an der rechten Seite des grossen Doppelbettes. Über der Lehne hingen dort die Kleider, die sie vor dem Abendessen abgelegt hatte. Und von einer schwarzen Spitzenzacke des untersten Volants hing ein goldenes Kettchen herab. Mit zwei Sätzen war sie dort, kniete nieder und hob den blitzenden Gegenstand auf. Es war ihr Armband. Es hatte sich fest in die Spitze verwickelt. Sie brachte es nicht los, ohne ein paar Fäden zu zerreissen.
Verdutzt war er ihr gefolgt. „Na, da hört ja alles auf. Wie kommt es dahin?“
Sie hatte sich ihm zugewandt. In der ersten Erregung vermochte sie kaum zu sprechen. „Da ist es — sie hat es also doch nicht ... Ach Gott, ach Gott!“
„Nun bloss nicht gleich wieder nervös, liebe Jutta, das bitte ich mir aus“, sagte er gereizt, „die Sache hat mich schon genug geärgert.“
Sie schluckte. „Nein, nein, keine Vorwürfe, es ist eben bloss ein schrecklicher Irrtum gewesen.“ Hastig steckte sie die Kette in die Tasche ihres Reisemantels. „Wir wollen nur gleich hingehen, komm, Gustl, am besten gar nicht erst ablegen.“
„Wohin gehen?“
„Nun, auf die Wache natürlich.“
Er lachte kurz auf. „Wie denkst du dir das? Ein Viertel nach ein Uhr?“
„Wir müssen sie bitten ... Wie kann man’s nur wettmachen? ... Ach, es ist ja so schrecklich!“
„Erlaube mal, Kind, du stellst dir in allem Ernst vor, dass man sie jetzt, mitten in der Nacht, herausholen wird?“
„Ja, hättest du denn Ruhe — auch nur eine Sekunde lang?“
„Aber gewiss. Vorläufig schläft die Gesellschaft. Hat wenigstens ’ne Pritsche unter sich, ein Dach über sich und ist so vielleicht besser aufgehoben als sonst. Morgen beizeiten geh’ ich hin, melde die Geschichte, man schenkt ihnen was, und damit holla.“
„Das — ist eine seltsame Auffassung.“
„Die logische und praktische. Allerdings.“
„Sie ist aber falsch.“
„Liebes Kind: der Jurist bin doch schliesslich ich. Nicht wahr? In solchen Dingen musst du schon mit meinen Entscheidungen zufrieden sein.“
„Ich muss?“ Die Tränen traten ihr in die Augen. „Ja, freilich, du hast recht. Als Frau ist man wehrlos.“
„Na, höre mal, Kind, wir werden doch nicht um ein Uhr in der Früh solchen Unfug ... Richtig, nun schmollst du wieder.“
„Ich schmolle nicht, Gustav. Es ist mir nur schmerzlich, dass wir jedesmal uneinig sind, wenn sich’s um mehr als eine Nummer unseres Zeitvertreibs handelt.“
„Kommt daher, dass ich dir in allem die Vorhand und die Entscheidung lasse — bloss in dem nicht, wofür ich als Mann verantwortlich bin.“
Im Mantel setzte sie sich auf den Stuhl am Bett. Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Er legte nun ab und zog seine Uhr auf. „Jutta, sei verständig. Es ist ein Uhr zweiundzwanzig.“ Er gähnte leicht. „Offen gestanden bin ich auch ehrlich müde.“
„Ja so.“
Nun kam er lachend rasch auf sie zu und umfasste von rückwärts mit der Linken ihr Kinn. „Du bist ja so reizend in deiner Entrüstung. Wahrhaftig, man müsste dich immer ein bisschen ärgern. Was?“ Er küsste sie, er suchte unter Lachen zu ersticken, was sie erwiderte. Aber als er ihr ins Auge sah, verflog seine Stimmung sofort. „Du willst nicht — eh bien.“
Sie gingen zur Ruhe, ohne einander gute Nacht zu sagen.
Er schlief sofort ein. Aber sie wachte noch lange und sah mit nassen Augen in die Dunkelheit. Das ganze Mitleid ihres Herzens weilte bei der unglücklichen jungen Mutter und ihrem Kind in der Arrestzelle. Und im Fortschreiten der Nacht ward das Bild des armen kleinen Wesens dem ihres verstorbenen Kindes immer ähnlicher.
Noch nie hatte sie sich ihrem Manne so fremd gefühlt wie in diesen Stunden.