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Drittes Kapitel

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Der deutsche Luxusdampfer, der den Verkehr von Marseille nach Ägypten vermittelte, lag an dem Riesenpier des Hafens von Joliette. Er ragte mit seinen beiden gelben Schornsteinen hoch empor über die ganze Flotte, die den grossen Hafen füllte.

Die gewaltigen Masse des Dampfers hatten für die am Morgen der Abfahrt am Hafen eintreffenden Reisenden etwas ungemein Beruhigendes. Der Himmel war bedeckt, ein kalter Wind fegte durch die Strassen, und die Hotelportiers weissagten den Mistral: die Aussichten auf eine glatte Überfahrt waren im Schwinden begriffen.

Auch Succo und der Rittmeister betrachteten das Schiff, als ihre Wagen in die lange Zollhalle einfuhren, mit einer gewissen Genugtuung.

Gespräche über die Seekrankheit herrschten in den meisten Gruppen der Ankömmlinge vor. Jutta stellte das fest, während sie mit auf die Einschiffung des Gepäcks wartete.

„Sie sagen das so siegessicher, gnädige Frau. Sind Sie selbst seefest?“

„Ich war’s wenigstens als junges Mädchen. Papa hat mich oft mitgenommen. Kattegatt, Skagerrak und Kanal, bei bewegter See wären das die Kostproben, meinte er.“

„Ich werde seekrank, wenn ich bloss die Namen höre. Wie gedenken Sie sich auf dem Sprung nach Afrika zu verhalten, Herr von Succo?“

„So tapfer als irgend möglich. Da meine Frau eine halbe Seeratte ist, bin ich ja sozusagen dazu verpflichtet.“

Jutta lachte. Sie war schon wieder in guter Stimmung. Hier fühlte sie sich ganz in ihrem Element. „Dabei sündigst du fortgesetzt gegen Papas allererstes Seemannsgebot, Gustl.“

„Was ist das für eines, gnädige Frau?“

„Von der Seekrankheit nicht sprechen — nicht einmal daran denken.“

„Na ja, Papa als Teerjacke hat gut Ratschläge erteilen! — Meinen Schwiegervater müssen Sie nämlich kennenlernen, Herr von Stangenberg. Famoser alter Herr. Die Menschheit zerfällt für ihn in Seefeste und Nichtseefeste; damit Schluss.“

Das Gedränge in der grossen Halle war immer stärker geworden. Jutta schlug also vor, lieber dem jungen Schiffsoffizier, der das Verstauen des Gepäcks überwachte, die Verantwortung für die Einschiffung ihrer Koffer zu überlassen. Es hatte sich ein ganzer Berg in der Halle angesammelt, und der Gepäckkran war in fortwährender Tätigkeit. So wanderten sie denn über die steil zum Deck emporführende Brücke an Bord. Hier nahm sie der Obersteward in Empfang und gab ihnen Führer zu ihren Kabinen. Die des Ehepaares hatte die beste Lage: am oberen Promenadendeck.

„Sie haben wohl die Staatskabine bekommen?“ fragte der Rittmeister, grosse Augen machend. „Ja — wer den Papst zum Vetter hat.“

Jutta schüttelte lachend den Kopf. „Nein, denken Sie, Papa wollte selbst uns die Fahrkarten besorgen und uns bei der Direktion eine Ermässigung erwirken, aber hier dieser Mann der strengen Grundsätze war nicht zu bewegen, sie anzunehmen.“

„Na, Prozente nehme ich nu ziemlich skrupellos“, sagte Stangenberg. „Und vorhin im Hotel bei der Rechnung hab’ ich sie sogar gefordert. Schlankweg. Als Offiziervereinsmitglied.“

„Siehst du, siehst du. Gustl!“

Succo schaute nur auf, ohne etwas zu erwidern.

„Na, armes Luder wie unsereins“, fuhr Stangenberg schmunzelnd fort, „muss sich eben durchs Kommissbrot durchbeissen, so gut es geht. — Hier an Bord hab’ ich nämlich bloss einen Platz im Hauptdeck belegt. Das ist um ein paar Stockwerke tiefer, aber auch um mindestens zweihundertundfünfzig Meter billiger.“

Sie lachten und verabredeten ein Wiedersehen vor dem Gabelfrühstück, um sich Tischplätze nebeneinander anweisen zu lassen. Dann begaben sie sich zum Auspacken des Handgepäcks in ihre Kabine.

„Darin verstehe ich den Rittmeister nicht“, sagte Succo, in dem eleganten, geräumigen Salon sich umblickend, der mit grossem Kleiderschrank, bequemer Waschtoilette, Tisch und zwei Betten versehen war. „Hauptdeck ist nicht viel besser als zweite Klasse.“

„Dort wohnen ja auch Menschen, Gustl.“

„Hm. Eben. Die sich zweiter Klasse einschätzen.“

„Nein, Gustl, wenn man dich so hochmütig reden hört. Du sagst das alles bloss, um mich zu ärgern.“

„Erlaube, Schatz. Gewisse Schranken muss es nun doch mal geben. Stangenberg wird das auch noch am eigenen Leibe erfahren.“

„Wieso?“

„I, natürlich schläft er in seiner Kabine nicht allein, sondern er teilt sie mit einem andern Herrn, der ebenso billig reisen will. Wen bekommt er da also als Reisegenossen? Vielleicht den Kammerdiener eines amerikanischen Schweinespeckkönigs.“

„Vielleicht muss sich Stangenberg wirklich einschränken?“

„Es ist purer Geiz.“

„Meinst du? Dann verständ’ ich’s freilich nicht.“ Jutta selbst besass eine offene Hand, und sie hatte an diesem Morgen auch ihren Gatten wieder einmal als sehr freigebig kennengelernt, was sie mit vielem aussöhnte. Als „Schmerzensgeld“ nämlich für die unnötigerweise unter falschem Verdacht auf der Polizeiwache verbrachte Nacht hatte dem Polizeimeister ein blankes Zwanzigfrankenstück als durchaus ausreichend für die beiden unglücklichen Arrestanten erscheinen wollen. Succo war aber anderer Meinung; er hatte seiner Brieftasche schon zwei Hundertfrankenscheine entnommen, die er dem Geschwisterpaar ohne Wimpernzucken einhändigte. Diese reiche Gabe wandelte die Szene sofort von Grund aus: der Verdacht, die ungemütliche Nacht, die Angst der beiden waren vergessen, und Succo konnte als der grosse Wohltäter vom Platze scheiden, mit südländisch lebhaften Dankesbezeigungen überschüttet. Seine Schilderung dem Rittmeister gegenüber war in ihrer Selbstironie so drastisch, dass auch der letzte Rest Sentimentalität in Juttas Teilnahme schwinden musste. „Im Grunde ist er eben doch ein guter Kerl“, sagte sie zu sich. Bei aller Korrektheit, die von einer gewissen Engherzigkeit nicht frei war, bewies ihr Gatte oftmals einen durchaus ritterlichen Zug. Geizig war er jedenfalls nicht. Häufig mahnte sie selbst, obwohl sie sich auch daheim nicht einzuschränken brauchte, zu grösserer Sparsamkeit. So hatte sie’s ihrem Manne als übertriebenes Selbstbewusstsein ausgelegt, dass er als Staatsbeamter von einer Privatgesellschaft keine Vergünstigung entgegennehmen wollte. Er nannte das aber bloss: sein stark ausgeprägtes berufliches Taktgefühl. In derlei Fragen fochten sie öfters einen kleinen Strauss aus.

Nachdem sie sich in der schwimmenden Wohnung, die sie nun für fünf Tage beherbergen sollte, alles zurechtgelegt hatten, begaben sie sich auf einen Spaziergang durchs Schiff.

Es war sehr bequem eingerichtet, der Gesamteindruck der ersten Klasse war geradezu glänzend. Der Speisesaal, das Damenzimmer, der Musiksalon hatten mächtige Ausdehnung, eine in altdeutschem Stil eingerichtete Schenke bildete jetzt schon den Sammelpunkt einer stattlichen Herrenrunde, die internationale Gesellschaft war höchst elegant. Es war ein Damenfriseur an Bord, eine kleine Druckerei, ein Rasiersalon, und nun baute sich auf dem Promenadendeck auch schon die von zwanzig Stewards in blauem Matrosenanzug gebildete Musikkapelle auf.

Rasselnd lief die Kette des grossen Krans auf dem Achterdeck über die eiserne Rolle, der mächtige Haken hob die grössten Koffer auf und liess sie im Gepäckraum verschwinden. In das Poltern und Klirren mischte sich das Rufen aufgeregter Reisender, die Dampfpfeife gab in tiefem Dreiklang ein unheimlich dröhnendes Zeichen, das man kilometerweit hören musste.

Schlag zwölf Uhr wurde der Anker aufgewunden, und eine kleine Dampfbarkasse, die neben dem Riesendampfer wie ein Liliput wirkte, spannte sich vor, um die „Holstein“ aus dem Hafen von Joliette in den grau und farblos daliegenden, von einem leisen Blasius gekräuselten Golf hinauszuschleppen. Die Musik spielte die Marseillaise, darauf das Deutschlandlied und zum Schluss: „Muss i denn, muss i denn zum Städtle hinaus.“

Jutta hatte auf eigene Faust den Bummel durchs Schiff weiter ausgedehnt, während ihr Gatte beim Zahlmeister geschäftlich in Anspruch genommen war.

Er suchte sie hernach lange. Auch Herr von Stangenberg beteiligte sich daran.

Sie stellte sich erst auf den Ruf, der die Gesellschaft zum Gabelfrühstück sammelte, im Speisesaal ein.

„Oh, Gustl, an Bord weiss ich Bescheid, da kann mir nichts geschehen. Ich bin auch drüben in der dritten Klasse gewesen. Denk nur, da ist ein französischer Koch, der reist nach Assuan, ein Witwer, und er hat seine drei kleinen Mädelchen mit, eine ist vier, die andern sechs und sieben Jahre. Und eine italienische Truppe; die will in Kairo Varietévorstellungen geben. Wie lustig das dort zugeht. Aber auch eine schwächliche junge Frau. Ihr Mann hat in Alexandrien eine Stellung als Kutscher. Sie reist ihm nach, fürchtet sich aber so schrecklich vor der Seereise. Na, ich hab’ ihr Mut gemacht, und da ist sie ordentlich aufgetaut.“

Der Landsmann wunderte sich über ihren Tatendrang und ihre vielseitige Teilnahme. Succo seufzte: „Natürlich — die dritte Klasse ist wieder das nächste, worüber du dich unterrichten musst.“

„Sie ist unterhaltender als die erste, lieber Gustav.“

„Eine Varietétruppe reist bei uns allerdings nicht mit.“

„Brummbär!“ sagte sie lachend.

Die Herren hatten wegen der Tischplätze schon mit dem Obersteward verhandelt. Sie suchten nun an der Tafel neben der Freitreppe nach ihren Namen.

„Hier — Mister Succo!“ sagte der Rittmeister, auf eines der Kärtchen zeigend, die in der Reihenfolge der Tischplätze in die Tafel eingesteckt waren. „Aber da hat der wackere Beamte nun doch Verwirrung angerichtet, wie mir scheint. Sie sitzen dieser Schlachtordnung zufolge mitten in einer stockenglischen Gesellschaft.“

„Das fehlte noch. Unter Larven die einzige fühlende Brust.“

„Obersteward!“

Der Allmächtige kam sofort näher. „Ich habe Ihnen drei Plätze in der ersten Seitenkoje rechts gegeben. Das ist nahe bei den Fenstern. Sehr beliebter Platz.“

„Auch nicht zu weit von der Tür — wegen etwaigen Verschwindens in Fällen erzwungener Opfer?“ warf Stangenberg ein.

„Aber mein Name steht doch hier. Wie kommt das? — Earl of Westmoreland, Mister Smith, Mister Succo, Mister Brown, Lady Salmour.“

„Oh — das ist Mister Succo aus Kairo. Übrigens von Geburt auch Deutscher. Und ebenfalls ‚von Succo‘.“

„Ein Herr von Succo? Der in Kairo dauernd lebt?“

„Jawohl. Er ist dort Direktor einer Zuckerfabrik.“

„Kann das ein Verwandter von Ihnen sein?“ fragte Stangenberg den Oberstaatsanwalt.

„Nicht — dass ich wüsste ...“

Succo blickte etwas verstört darein. Es war Jutta, als hätte ihr Mann plötzlich die Farbe gewechselt.

Der Obersteward hatte sich suchend umgeblickt. „Da drüben steht er. Der junge Herr, der mit Lady Salmour spricht — Lady Salmour ist die blonde, schlanke Dame neben dem Kapitän.“

Succo zuckte leicht zusammen. „Das ist ja ... hm, hm, das ist ja sehr seltsam.“

Der geschäftige Obersteward wurde von einer andern Gruppe gerufen und wandte sich ab.

„Was hast du, Gustl?“ fragte Jutta verwundert.

„Dieser Herr von Succo — Fritz von Succo — ist nämlich allerdings verwandt mit mir, aber ...“

Der Rittmeister horchte auf. „Fritz von Succo — früherer Regierungsreferendar — etwa der?“

„Jawohl.“

„So sag doch, Gustl.“

„Ich kann das nicht so in der Eile ...“

Jutta blickte forschend hinüber. „Ich sah den Herrn schon vorhin oben an Deck, aber da hört’ ich ihn mit der englischen Gesellschaft sprechen und hielt ihn für einen Engländer.“

„Er hat eher was von ’nem Amerikaner“, sagte Stangenberg. „Bartlos, glatt rasiert, und überhaupt die ganze Haltung.“

„Ja, ja, stimmt. Besonders das energische Gesicht. — Nicht, Gustl?“

„Bitte, sieh nicht so auffällig hin, Jutta“, sagte Succo rasch. „Denn — wir kennen einander nicht.“

Stangenberg hatte einen Blick des Einverständnisses mit Succo gewechselt. „Das Frühstück lässt bitten, meine Herrschaften!“ fiel er lebhaft ein.

Soeben hatten die Stewards in langem Zuge den Speisesaal betreten. Sie brachten das erste Vorgericht. Die Passagiere nahmen ihre Plätze ein. Der grösste Teil des mächtigen Saales war nun bald besetzt. Die Mitteltafel, an der der Kapitän sass, wies keine Lücke mehr auf. An der kleineren Tafel, an der die drei Deutschen ihre Plätze hatten, fand sich nach einiger Zeit noch ein halbes Dutzend Landsleute ein. Deutscher Sitte folgend, stellten sich die Ankömmlinge durch kurze Namensnennung vor. Succo blieb aber während der Mahlzeit sehr zurückhaltend. Jutta war dies gewohnt. Ihr Mann pflegte erst dann aufzutauen, wenn er über neue Bekanntschaften gründlich unterrichtet war. Es gab zunächst immer ein vorsichtig abwägendes Tasten. Erst gegen den Nachtisch hin ward er etwas wärmer: er hatte in seinem Gegenüber, einem rundlichen alten Herrn mit zurückgekämmtem, weissem Haar, einen berühmten Staatsrechtslehrer entdeckt, den Universitätsprofessor Dr. jur. Gneisel aus Heidelberg. Jutta war nicht so wählerisch. Sie kümmerte sich um Rang, Stand und Namen neuer Erscheinungen zunächst gar nicht. Eine humoristische Gesprächswendung, ein schlagfertiges Wort, ein gutes Urteil führten einen Fremden bei ihr viel besser ein.

Als sie hernach auf dem Promenadendeck den Kaffee nahmen, berichtete sie über ihren Tischnachbar, den sie in ein lebhaftes Gespräch hatte verwickeln wollen, freilich nicht ohne etwas Bosheit.

„Er ist mehrfacher Hausbesitzer in Dresden, heisst Marcks, hat zweimal die Reise um die Erde gemacht, mit einer Dresdener Reisegesellschaft, ist magenleidend, Antialkoholiker, kennt nichts von der neueren Literatur, ist von Haus aus Apotheker und reist jetzt nach Heluan am Nil, weil in Deutschland ‚ja auch nichts los‘ ist.“

Stangenberg lachte hellauf. „Gnädige Frau, vor Ihnen muss man sich in acht nehmen!“

„Eine anregende Tischgesellschaft — nicht?“

„Ich wundere mich, Jutta, dass du dich gleich so eingehend mit dem Manne beschäftigt hast.“

„Um festzustellen: wes Geistes Kind er ist.“

„Und bist nun fünf Tage lang verpflichtet, mit ihm Konversation zu machen.“

„Ich denk’ nicht dran, Gustl.“

„Dann hat er ein Recht, sich gekränkt zu fühlen.“

„I wo. Wenn ich ihn recht beurteile, wird er noch vor dem Abendessen seekrank — und wir sehen ihn erst bei der Landung in Ägypten wieder.“

„Sie haben eine grausame Phantasie, meine Gnädigste. — Übrigens finde ich, der Kasten wackelt schon jetzt nicht unbedenklich.“

Die französische Küste war als graubrauner Streifen an der nördlichen Horizontlinie zurückgeblieben. Graue Wogen wälzten sich mit weissschäumenden Kämmen gegen die Backbordseite des Dampfers. Es war noch nicht abzusehen, ob es zum Rollen oder zum Stampfen kommen würde. Vorläufig gab es nur kleine Schwankungen, die aber doch die ängstlicheren Gemüter veranlassten, sich in den grossen Liegestühlen, die an Deck standen, der Ruhe hinzugeben. Bald lagen an die hundert Fahrgäste — Männlein und Weiblein — in langer Reihe nebeneinander, in Pelze gepackt, in Decken bis zum Kinn eingewickelt.

Es war sehr kalt und sehr windig geworden. Jutta hatte ihre weisse, gestrickte Wollmütze aufgesetzt und ihren Pelz zugeknöpft. In dem kurzen Rock wirkte ihre schlanke Erscheinung wieder so frisch und mädchenhaft, dass dem in Ehedingen schwarzseherischen Stangenberg der starke Gegensatz der beiden Gatten fast bedenklich erschien: Succo gemessen, korrekt, ohne Frage ein tadelloser Gent, aber doch erschreckend engherzig, vom Wirbel bis zur Zehe ein Akten- und Formenmensch — sie ein lebhaftes Wesen, klug, aufgeweckt, oft von nerviger Empfindsamkeit, dabei mit Sinn für Humor und einem ganz kleinen Schuss Koketterie.

„Ich schlage einen Spaziergang zur Erwärmung vor“, sagte Jutta, nachdem sie den Kaffee genommen hatten.

Die Herren waren einverstanden. Stangenberg schon deshalb, weil sie so ausser Hörweite der andern Gesellschaft kamen. Es drängte ihn, mit Succo über dessen Namensvetter zu sprechen.

Auch Juttas erste Frage, als sie das Promenadendeck verlassen und auf dem doppelt überbrückten Durchgang zum Hinterdeck einen windgeschützten Platz gefunden hatten, war die nach dem ihr unbekannten Verwandten.

Succos Antlitz hatte sich seit der Begegnung noch nicht wieder aufgeheitert. „Es verdirbt mir wahrhaftig einen Teil der Reisefreude“, sagte er verstimmt.

„Gustl! — Warum?“

„Aber bester Herr von Succo — wie kann Sie das weiter anfechten?“

„Er trägt nun doch mal unsern guten Namen in der Welt spazieren.“

Stangenberg zuckte leicht die Achseln. „Derlei kommt in fast allen Familien vor. Auch den besten. Irgendein Glied will meistens nicht taugen.“

„Man stösst es ab“, sagte Succo, „aber damit ist im Grunde gar nichts erreicht.“

„O doch. Es hat dann kein Mensch mehr ein Recht, einen verantwortlich zu machen.“

„Sie haben sich des Falls sofort erinnert?“

„Natürlich. Aber das liegt nun doch schon gut acht, neun Jahre zurück, nicht?“

„Richtig. Wir sprachen ja damals noch im Manöver die ganze Sache durch.“

„Stimmt, stimmt.“

„Na, Gustl, du verstehst’s aber wirklich, Spannung zu erregen. — Sie verstehen’s gleichfalls, Herr von Stangenberg“, setzte sie lachend hinzu. „Ich denke immer: nun bekommt man eine hochnotpeinliche Geschichte zu hören, es fallen die dunkelsten Anspielungen, die Phantasie hat Gelegenheit zu den ausschweifendsten Vermutungen ...“

„Ach, Jutta, es ist wirklich nichts Lustiges.“

Sie behielt ihren übermütigen Ton trotzdem bei. Die Hände im Rücken verschränkend, wippte sie sich auf den Fussspitzen auf und nieder und sah ihren Mann mit angenommener Strenge an. „Warum hast du mir diese Vetternschaft unterschlagen? Gestehe, Angeklagter.“

„Jutta, ich begreife dich nicht.“

„Herr von Stangenberg, helfen Sie mir. Ist eine solche Verheimlichung eigentlich ein Scheidungsgrund?“

„Na, meine Gnädigste, Totschweigen wär’ allerdings das beste, denn er ist tatsächlich ein sauberes Früchtchen gewesen ...“

„Wer? Mein Mann?“

„Um’s Himmels willen — Gnädigste!“

„Jutta, nun lass doch diese ganze Art. Du siehst doch, wie unangenehm mir die Sache ist.“

„I, bester Herr von Succo, aber es trifft Ihre Familie doch nicht der leiseste Tadel dabei.“

„Gegen welches der zehn Gebote hat dieser geheimnisvolle Vetter also gesündigt? Darauf kann ich jetzt endlich eine erschöpfende Antwort beanspruchen.“

Es war Juttas Ton noch immer nicht zu entnehmen, ob sie die Angelegenheit ernst auffasste. Succo runzelte die Stirn.

„Ich habe dir von Fritz von Succo bisher nur deshalb nichts gesagt, weil wir seinerzeit auf einem Familientag in Hannover, der seinetwegen einberufen war, uns geeinigt haben — das heisst so ziemlich sämtliche Vertreter des Namens von Succo —, mit Vetter Fritz jegliche Verbindung abzubrechen. Sein Name wurde von da an zwischen uns nicht mehr genannt. Er selbst war tot für uns.“

„Ja — und — die Ursache?“

„Ganz kurz. — Nein, bitte dringend, lieber Herr von Stangenberg, bleiben Sie! — Also er war Referendar, machte eine Übung als Offizieranwärter, und dabei ereignete sich eine scheussliche Geschichte. Er ging tätlich gegen seinen Vorgesetzten vor — Krakeeler war er schon immer gewesen — und erhielt zehn Monate Gefängnis, zusätzlich Degradation.“

„Oh —!“

„Ja, meine Gnädigste, garstige Sache. Wirklich ein mauvais sujet. Da lässt sich nichts beschönigen.“

Eine Weile herrschte darauf Schweigen. Jutta war ernst geworden.

„Hat er sonst noch Verwandte — ich meine, Blutsverwandte?“ fragte sie endlich.

„Ja, seine Mutter ist noch am Leben.“

Überrascht blickte sie auf; auch der Rittmeister.

„Sie werden kaum von ihr gehört haben, Herr von Stangenberg. Sie lebt ganz zurückgezogen. Onkel Bodo hatte sich damals ihrer angenommen.“

„Ach — etwa Tante Eveline?“ rief Jutta überrascht.

„Ja. Du hast sie ja flüchtig kennengelernt, Jutta. Auf dem Polterabend von Herta — im Hotel in Berlin vor zwei Jahren — da war sie auch.“

„Gottchen — Tante Eveline — die?!“

Succo war diese Erörterung eine Qual. Er fügte aber, zu Stangenberg gewandt, doch noch hinzu: „Übrigens war vor der Welt das Dekorum schon dadurch gewahrt, dass auch seine eigene Mutter sich damals glatt von ihm losgesagt hat.“

„Hm, ja. Ein verteufelter Bursche. — Seitdem hatten Sie nie was von ihm gehört?“

„Einmal hiess es, er wäre im Haag Versicherungsagent.“

„Hat er sich auch nie um Geld an jemand gewandt?“

„An seine Mutter. Ja, anfangs. Wenigstens liess Onkel Bodo mal etwas nach der Richtung verlauten. Aber in den letzten Jahren war er spurlos von der Bildfläche verschwunden. Ich hätte ja nie im Leben eine Reise nach Kairo gemacht, wenn ich geahnt hätte: man hat da mit diesem Herrn ein Wiedersehen zu gewärtigen.“

„Hat er Sie vorhin eigentlich erkannt?“

„Ich glaube nicht. Aber bei passender Gelegenheit muss ich’s ihn natürlich merken lassen, dass er für uns Luft ist.“

„Sein Auftreten ist sonst nicht übel. Schlecht zu gehen scheint’s ihm auch nicht.“

„Er ist ein sehr fähiger Mensch gewesen. Auch im Amt gut zu verwenden. Nur eben — gänzlich richtungslos.“

„Er war noch sehr jung damals?“

„Dreiundzwanzig. Gerade hatte er sein erstes Verwaltungsexamen gemacht. Unverantwortlich. Ein Schlag — gewissermassen uns allen ins Gesicht.“

„Ja. Tolle Sache. — Wie wär’s nun mit einem Kognak oder Kirsch, Herr von Succo?“

„Nimmst du auch ein Gläschen, Jutta?“

„Zur Seelenwärmung, gnädige Frau.“

Succo hatte bereits einen der Stewards herbeigewinkt und bei ihm seine Bestellung gemacht. „Es ist mir ganz flau im Magen geworden von der Aufregung.“

„Ach, ich schwärme für die Seefahrt“, sagte Jutta, langsam die Arme erhebend und die Hände im Nacken verschlingend, indem sie mit ihren grossen Augen übers rollende Wasser hinblickte. Vom Land war nichts mehr zu sehen. Meer ringsum. „Und besonders den grauen Himmel liebe ich.“

„Ihr Herr Vater ist lange als Kapitän gefahren, gnädige Frau?“ fragte Stangenberg.

„Bis vor zwei Jahren, wo er die Inspektion bekam. Ich freue mich sehr, ihn wiederzusehen“, sagte Jutta. „Soweit ich zurückdenken kann, hab’ ich ihn immer nur besuchsweise für ein paar Tage gehabt. In Koblenz — in der Pension —, da war’s immer ein Fest für die ganze Klasse. Die Mädels schwärmten ihn alle an.“

„Ihre Frau Mutter ist früh verstorben, sagte mir Ihr Herr Gemahl.“

„Ja. Ich war noch ein Kind.“ Für ein paar Sekunden blickte sie wieder gedankenvoll übers Wasser. Etwas überlegen lächelnd, fuhr sie dann fort: „Das ist die Erklärung für meine erschreckende Unerzogenheit. — Was, Gustl, in dem Sinne hast du’s doch zweifellos gesagt?“

„Aber keine Ahnung, Jutta! Wie kommst du darauf?“

„Sie lachen, Herr von Stangenberg, weil ich das gleich erraten hab’?“

„Man muss vor Ihnen ewig auf der Hut sein, gnädige Frau. Sie gehen scharf ins Zeug.“

Es war auch wirklich ein fortgesetztes Plänkeln. Dabei war selten festzustellen, ob sie nicht die kleinen Spitzen, die so drollig wirkten, mit vollem Bedacht vorbrachte. Stangenberg war noch immer nicht so recht klug aus ihr geworden. Forderte sie’s eigentlich heraus, dass man ihr den Hof machte?

Als man späterhin mit einigen Landsleuten an einer windgeschützten Stelle des Promenadendecks eine Gruppe bildete, belustigte es ihn, zu beobachten, wie sie scheinbar auf all die Gemeinplätze der neuen Bekannten einging, aber durch eine feine, den andern unverständliche Ironie immer über der Sache schwebte. Mit einer Freifrau von Druhsen, einer mittelalterlichen, sehr gönnerhaften, sehr redseligen Dame, die mit einer Gesellschafterin reiste, hatte der Oberstaatsanwalt verschiedene Anknüpfungspunkte gefunden: vor allem gemeinsame Freunde und sogar entfernte Verwandte in der Armee und im Staatsdienst. Viel adlige Namen wurden genannt, die verwandtschaftlichen Beziehungen eingehend festgestellt. Auch Stangenberg war schon im Begriff, mit beiden Füssen wieder in das so ergiebige Thema hineinzuspringen — doch da streifte sein Blick zufällig Frau Juttas Miene. Es lag eine so drollig scheinheilige Bewunderung in dem Ausdruck, womit sie der Aufzählung lauschte, dass er, über sich selbst verlegen, rasch wieder abbaute.

„Ich staune über Ihr fabelhaftes Gedächtnis, gnädige Frau“, sagte er nun lächelnd zu Frau von Druhsen. Und bemerkte dabei ein lustiges Aufzucken in Frau Juttas Antlitz.

„Von den uns nahestehenden Familien kenne ich alle Seitenlinien auswendig, aber auch alle. Die Succos und die Druhsens hatten erst neuerdings mehrere neue Verbindungen durch Heirat. — Und denken Sie doch, Herr von Succo, da hab’ ich nun in der Schiffsliste vorhin auch wieder den Namen Succo gefunden. Ein Mister Succo aus Kairo. Und eigentlich gleichfalls: von Succo. So sagte wenigstens der Zahlmeister. Ich fragte ihn natürlich gleich. Was für ein Zweig kann das wohl sein?“

Ein paar Sekunden erwartungsvolle Stille — denn Succos wachsende Unruhe hatte die Sache auffällig gemacht. Er warf nun aber plötzlich den Kopf etwas zurück und sagte ziemlich scharf, wenn nicht hochmütig: „Mit diesem Herrn von Succo aus Kairo lehnen wir eine Verwandtschaft durchaus ab. Jede Beziehung, gnädige Frau.“

„Ah —!“ Den Mund ein wenig offen lassend, mit wichtiger Miene, sah Frau von Druhsen erst Stangenberg, darauf die etwas entfernter sitzende junge Gattin des Sprechers an. Beide schwiegen. „Pardon!“ sagte sie dann.

Juttas Blicke waren denen ihres Gatten gefolgt. Es stand für sie fest, dass seiner scharfen Erklärung eine bestimmte Absicht zugrunde gelegen hatte.

Und sie täuschte sich nicht.

In demselben Augenblick nämlich waren zwei Herren dicht an ihnen vorübergekommen — und der eine davon war der Vetter ihres Mannes.

Ein ganz klein wenig hatte der Fremde gestutzt, kaum merklich den Schritt verkürzend. Aus seinen hellgrauen, grossen Augen schweifte ein fragender Blick über die Gruppe — und in kurzem, bestürztem Erkennen begegnete er dem des Juristen.

„Der ist es?“ fragte die Baronin in scharfem Flüsterton. „Er hat es unbedingt gehört!“

Wieder herrschte darauf peinliches Schweigen.

Die beiden fremden Herren waren weitergeschritten und, gegen den Wind ankämpfend, um den Rauchsalon herum auf die andere Deckseite gegangen.

Jutta erhob sich.

„Ist dir kalt?“ fragte ihr Gatte, gleichfalls aufstehend.

Da sie nicht antwortete, sondern die Gruppe verliess, kam er rasch an ihre Seite und begleitete sie, indem er bei ihr einhängte.

„Ich hatte natürlich meine Gründe, Jutta, Frau von Druhsen sofort reinen Wein einzuschenken. Herausgebracht hätte sie’s doch. Und es traf sich nun mal so, da der — der Betreffende — gerade vorbeikam. Damit ist nun festgestellt: so stehen wir. Übrigens entschuldige. Es war mir selbstredend gleichfalls peinlich.“

Sie nickte kaum.

Nach einer Pause hob er wieder an: „Irgend etwas stimmt nicht, Jutta. Du hast mir da sicher was übelgenommen, wie? Na, sag doch. Bist du deshalb aufgestanden?“

Sie hatte sich von ihm freigemacht. „Bewahre. Bloss um den Herrschaften Gelegenheit zu geben, den Fall unter sich zu erledigen. Das war doch jetzt der gegebene Augenblick.“

„Das ist nun wieder mal ganz Jutta“, sagte er. Und versuchte zu lächeln.

Die verbotene Frucht

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