Читать книгу Die verbotene Frucht - Paul Oskar Höcker - Страница 7
Fünftes Kapitel
ОглавлениеDer Speisesaal wies grosse Lücken auf. Auch der Platz neben Jutta war leer: sie hatte also richtig vorausgesagt. Der schlesische „Kohlenbaron“ war ziemlich schweigsam und bewies eine starke Abneigung gegen Fisch- und Fleischgerichte; auch der Oberstaatsanwalt und der Heidelberger Professor. Stangenberg trug zusammen mit der jungen Frau die Kosten der Tafelunterhaltung allein.
Schon während des zweiten Ganges des fürstlichen Diners, das unter rauschender Musikbegleitung genommen wurde, hatten die Gläser, die auf den Tafeln standen, kleine Wanderungen ausgeführt: wie von unsichtbaren Händen geschoben, erst nach links, dann nach rechts. Da und dort erhob sich ein gezwungenes Lachen im Saale, oder es gab einen kleinen Aufschrei. Die Stewards holten eilends die Sturmhölzer, die sie an sämtlichen Tischen festschraubten. Das Schiff rollte. Man sah die ersten Opfer in schleunigem Schritt den Saal verlassen. Plötzlich holte das Schiff über — für ein paar Sekunden drehte sich die Schraube frei in der Luft — und dabei gab’s einen klirrenden Krach. Alle Flaschen und Gläser, die noch nicht in den Sturmhölzern standen, fielen um.
„Das soll nun eine Frühlingsfahrt nach dem ewig sonnigen Süden sein!“ bemerkte Succo mit einem krampfhaften Lächeln.
„Wenn ich wüsste, dass ich das Deck ohne Unfall erreiche, ging ich doch lieber hinauf“, sagte Frau von Druhsen.
Jutta staunte über ihren Mann. Ein leichter Schweiss stand auf seiner Stirn; aber er nahm alle Willenskraft zusammen, um Herr seiner Nerven zu bleiben. So oft die Steuerbordseite, auf der ihre Tafel stand, sich senkte, schloss er die Augen und presste die Zähne fest aufeinander.
Es schien für die Fahrgäste nur noch Seemannsgespräche zu geben. Mehrfach sprach man über die beruhigende Aussicht, dass man im Laufe der Nacht in den Schutz der Küste von Korsika käme; dann würde die stürmische Bewegung ohne Zweifel abflauen.
„Wer sich so lang tapfer hält, ist also gerettet“, sagte der Rittmeister, Juttas Gatten verstohlen von der Seite betrachtend.
Wieder gab’s ein Klirren. Diesmal kam’s aus dem Anrichteraum. „Für hundert Mark Porzellanbruch!“ meinte ein Eingeweihter. Die Musikkapelle liess sich nicht stören. Ihre Weisen klangen nach wie vor lustig durch den bald nach rechts, bald nach links sich neigenden, schon stark gelichteten Saal.
Ein paarmal hintereinander rollte nun das Schiff so stark, dass die Baronin sich mit der Rechten verzweifelt an ihren Nachbar, den Heidelberger Professor, anklammerte.
„O Gott, ist mir übel!“ rief irgendwer.
Und das war das Signal zu einer allgemeinen Flucht. Wenige Augenblicke später sass Jutta mutterseelenallein mit Herrn von Stangenberg am Tisch. Auch ihr Gatte war verschwunden. Sie wussten beide nicht, wie dies so blitzschnell hatte vor sich gehen können. Komisch wirkte es auf alle Fälle.
„Es ist ja herzlos“, sagte der Rittmeister, „ich gebe zu, es wird einem als teuflische Schadenfreude ausgelegt. Aber man kann dagegen nicht an: es wirkt aufs Zwerchfell.“
Jutta musste in sein Lachen mit einstimmen. „Es kam so plötzlich!“ rief sie. Aber dann wandte sie doch unsicher den Blick der breiten Freitreppe zu. „Ich müsste wohl nach meinem Mann sehen.“
„Nein, nein, nein, ja nicht! Folgen Sie dem Rat eines Sturmgeprüften, gnädige Frau, es ist praktischer und edler, Ehegatten bekümmern sich im Zustand der Seekrankheit überhaupt nicht umeinander.“
„Sie sind wirklich herzlos.“
„Bitte sehr. Erstens hilft alles Zusprechen nicht. Und dann — raubt es holde Illusionen.“
Sie drohte ihm leicht mit den Augen, musste aber doch wieder lächeln. Er freute sich sichtlich, dass er den Platz behauptet hatte, und schenkte zwei Gläser Sekt ein: eines aus Succos, das andere aus der eigenen halben Flasche. „Die kann man nicht lange genug bewahren, gnädige Frau, denn sie erhalten jung.“
„Ich bin aber nicht mehr jung genug, um mich der Täuschung hinzugeben, dass Sie jetzt die Situation nicht böswillig ausnutzen wollen.“
„Sehr gut.“ Er lachte. „Schliessen wir Frieden, gnädige Frau. Wie Sie sehen, sind wir beide an diesem Tisch die einzigen Seefesten, sind also während der Sturmzeiten aufeinander angewiesen.“
„Haben Sie vor, sich dann immer über meinen Mann lustig zu machen?“
„Meine Gnädigste!“
Es kam zwischen ihnen durch diese äusseren Umstände eine gewisse Vertraulichkeit auf. Natürlich machte er ihr den Hof, und sie liess es geschehen. Einmal war Stangenberg ja wirklich ganz unterhaltend — und zweitens ungefährlich. Sie nahm sich vor, ihm das zu sagen. Aber dann liess sie’s doch: wenn er ihr fast fünf Tage lang ein netter Tischherr sein sollte, dann musste er sich schon ein bisschen in sie verlieben.
Auf ihren Mann war nicht zu rechnen.
Er hatte sich von zwei Stewards in die Kabine hinaufführen, auskleiden und zu Bett bringen lassen.
Als sie sich dort einstellte, war auch noch die Stewardess zugegen, mit der Herrichtung des zweiten Bettes beschäftigt. Die war sichtlich verwundert, dass die junge Gnädige von der Seekrankheit verschont blieb.
„Um Gottes willen, lass mich, Jutta!“ stöhnte ihr Mann, als sie an sein Lager kam. „Ich will nicht bedauert werden — und ich will nicht, dass du überhaupt — überhaupt zusiehst ... o Gott!“
Sie wandte sich schleunigst ab. „Aber ich kann dir vielleicht irgend etwas bringen, Gustl?“
„Nein, nein. Bloss nicht fragen. Und dafür sind doch Angestellte da. Es ist ja so — so unästhetisch.“
Sie ging also. Ziemlich erlöst. Auch bei den späteren Besuchen hatte sie die Wahrnehmung: er fühlte es selbst, dass ein Gesunder die Seekrankheit nicht als heldenhaftes Leiden auffassen konnte, und er war zu feinfühlig veranlagt, als dass er von seiner jungen Frau in diesem Zustand gesehen werden wollte. Vielleicht war es nur Eitelkeit und Scham — sie legte es ihm aber als zarte Rücksicht aus. Auch dem Rittmeister gegenüber.
Es war die ganze Nacht durch stürmisch. Da Succo darauf bestanden hatte, dass das Fenster auf blieb, war es in der Kabine sehr kalt. Jutta hatte ihre Pelzjacke übergezogen, fühlte sich sehr mollig und schlief prächtig. Succo fror mörderlich. Am folgenden Tag blieb er liegen, er zeigte sich an Deck selbst während der beiden Stunden nicht, da die „Holstein“, um neue Fahrgäste aufzunehmen, im Hafen von Neapel stillag.
Juttas ständige Begleitung bildete nunmehr Stangenberg. Die übrigen Reisenden konnten sie für Vater und Tochter halten — vielleicht auch für ein ungleiches Ehepaar.
Mehrmals waren sie auf ihren Spaziergängen an Deck dem Vetter begegnet. Er mochte keine Ahnung haben, dass sie ihn kannte, wusste wohl nicht einmal, dass sie Deutsche waren, denn er kümmerte sich um niemand von der weiteren Schiffsgesellschaft. Jutta sah ihn nur mit seinen nächsten Tischnachbarn und den Schiffsoffizieren reden. Die englische und französische Sprache herrschte an Bord vor. Auf der kleinen, ganz schief liegenden, von den Wellen hin und her geschleuderten Dampfbarkasse kamen nun mit den neuen Fahrgästen auch noch Italiener von Neapel herüber.
Jutta stand auf der Steuerbordseite und beobachtete gleich allen seefest Gebliebenen die Überholung der Ankömmlinge. Selbst hier im Hafen war der Wogengang so stark, dass die Barkasse oft an die zwei Meter hoch über die unterste Stufe der Fallreepstreppe emporgehoben wurde. Die einzelnen Ankömmlinge konnten nur durch einen Sprung — unterstützt von vier Matrosenarmen — auf die Schiffstreppe gelangen.
Über die lange Steinmole des Hafens jagten mächtige Schaumkämme. Von Neapel, vom Golf überhaupt, vom Vesuv war nichts zu sehen.
„Es könnte ebensogut die Nordsee im Februar sein“, meinte Stangenberg.
Zwischen den Köpfen ihrer Nachbarn entdeckte Jutta das Gesicht des „Ägypters“. Er sprach italienisch mit einem Agenten, der unten an Bord der Barkasse geblieben war. Sie verstand nur so viel Italienisch, dass ihr klar wurde: es handelte sich um landwirtschaftliche Maschinen. Der schwarzäugige Neapolitaner, der im Gummimantel steckte und vom Regen triefte, gestikulierte und gebrauchte Beteuerungen aller Art. Er besass ein wahres Galgenvogelgesicht. Fritz von Succo trug eine behagliche Überlegenheit zur Schau. Er hatte dabei einen so humorvollen Ton, dass in der Umgebung mehrmals herzhaft gelacht wurde. Offenbar war dem Neapolitaner eine schlechte Lieferung nicht abgenommen worden, und er versuchte nun die Durchfahrt des Direktors der Zuckerfabrik zu einer persönlichen Aussprache zu benutzen. Der Regennasse da unten auf dem auf- und niedertanzenden Boot blinzelte, kniff mehrmals die Augen zusammen, liess seinen verzweifelten Blick dann über die andern gleiten und machte — nur halb verstohlen — die Geste des Geldzählens.
Nun lachte der „Ägypter“ hell auf und sagte zu seinem Nachbar auf englisch: „Oh — er muss mich wohl schon für einen waschechten ägyptischen Untertan halten. Da er meint, dass ich Bakschisch nehme.“
Auch der Nachbar lachte.
„Niente, niente, basta!“ rief der „Ägypter“ fröhlich über die Brüstung hinunter. Und darauf wandte er sich ab, seinen Deckspaziergang fortsetzend.
Jutta musste ihn immer und immer wieder betrachten.
„Sehen Sie nicht fortwährend hin, Gnädigste“, warnte Stangenberg, „sonst bildet sich der Kerl am Ende noch ein, Sie interessieren sich für ihn.“
„Das tue ich auch!“ entfuhr ihr’s.
Er sah sie verdutzt an. „Na — lassen Sie das Ihren Mann hören.“
Sie war wirklich drauf und dran gewesen, ihm von der Begegnung am Abend zuvor zu erzählen. Wenigstens die kleinen Geschichten des „Ägypters“ von Achmed hätte sie gern zum besten gegeben. Aber der offenbare Schreck des Rittmeisters — auch die verächtliche Art, in der er über ihn sprach — nahm ihr wieder allen Mut.
Als der Dampfer den ungastlichen Hafen von Neapel verliess, sah sie Fritz von Succo in der Gesellschaft des Schiffsarztes drüben in der dritten Klasse verschwinden. Es war in Juttas Nähe davon gesprochen worden, dass der Koch, der mit seinen drei kleinen Töchtern nach Assuan wollte, beim Rollen des Schiffs die Zwischendeckstreppe hinuntergefallen war.
Und plötzlich trieb sie’s — das kam so über sie, ohne dass sie die Gedankenbrücke recht übersah — sich ebenfalls nach der dritten Klasse zu begeben. Vielleicht konnte sie dem Ärmsten helfen. Und zugleich feststellen, ob etwa auch der „Ägypter“ mit dem armen Teufel Mitleid hatte. Rein psychologisch lockte sie das.
Aber sie nahm für ihren kleinen Ausflug doch lieber einen Augenblick wahr, wo sie Herrn von Stangenberg nicht Rede zu stehen brauchte. Er war in die Bar eingetreten, um sich mit Zigarren zu versehen. So harmlos ihr Vorhaben war: sie empfand doch ein gewisses Schuldbewusstsein und dabei ein gewisses Prickeln.
In dem als Versammlungsraum dienenden Speisesaal des Hauptdecks sass nur eine kleine Gesellschaft beisammen. Die meisten schliefen auf den rundum laufenden Bänken. Alles war tadellos sauber, doch die Luft liess zu wünschen übrig. Es kostete Jutta also einige Überwindung, einzutreten.
Das älteste Töchterchen des französischen Kochs erkannte die fremde Dame sofort wieder und kam ihr lebhaft entgegen. Der Marseiller, ein grosser, rassiger Mensch mit mächtigem Schädel und gutmütigen, feuchten Augen, sass in der Ecke und schwatzte mit der zweiten Tochter; er trug den Arm in der Binde. So gut sie sich auf französisch ausdrükken konnte, erkundigte sich Jutta nach dem Unfall. Der Schiffsarzt hatte ihn getröstet: bis zum Antritt seiner Stellung in Assuan würde er schon wieder arbeitsfähig sein, denn es sei nur eine leichte Quetschung des vierten und fünften Fingers. Aber traurig war’s, dass er nun hier unten sitzen musste: bei den starken Bewegungen des Schiffs durfte er’s nicht wagen, die Treppe zu steigen, weil er sich dabei doch hätte anhalten müssen. Und seine „petites demoiselles“ hatten darum mit ihm zusammen Arrest. Fast die ganze dritte Schiffsklasse war seekrank geworden. Seine jüngste auch — die war sofort ins Bett gepackt worden. Aber die beiden ältesten nicht. Und sie bei diesem Seegang allein an Deck zu schicken, war nicht erlaubt.
„C’est moi qui vais faire vous promener, mes enfants!“ sagte Jutta mit raschem Entschluss zu den beiden schwarzäugigen Kleinen.
„Très aimable à vous, madame! — Eh bien, Augustins, Isabelle, que dites-vous?“ rief der Marseiller seinen Töchtern zu. Und die kleinen Damen zeigten sich sofort marschbereit. „Mais non, d’abord — pour aller au grand monde — il faut faire la coiffure!“
Er hatte offenbar Lebensart, der Koch. Neben ihm lag ein Handköfferchen aus Pappe, mit Segeltuch bezogen. Darin befanden sich Toilettengegenstände, eine Milchflasche und Bilderbücher in buntem Verein. Er holte daraus Kamm und Bürste. Das Schwesternpaar besass dichtes, wundervoll gepflegtes Haar. Jutta hatte es schon gestern bewundert. Der Papa versuchte ihre beim Spielen in Unordnung geratenen Zöpfe und breiten Schleifen mit seiner gebrauchsfähigen Hand für den „Ausflug in die grosse Welt“ herzurichten. Er tat das mit einem Anflug von Selbstironie und drolliger Wichtigkeit. Jutta lachte und nahm ihm Kamm und Bürste ab. Es erschien ihr praktischer, den ganzen üppigen Lockenreichtum in den gestrickten Mützen unterzubringen.
„Vous voilà en bon état“, lobte der Franzose, „comme les vraies Parisiennes! Au revoir, mes dames! Allons, allez!“
In diesem Augenblick trat der Schiffsarzt in die Tür: in seiner Begleitung Fritz von Succo.
Alle drei — der Papa wie seine beiden Töchter — empfingen den Schiffsarzt mit hellem Geschrei: „Monsieur le docteur! Imaginez-vous, monsieur, voici Madame, qui nous fait nous promener!“
Der Schiffsarzt, ein Deutscher, sprach ein so grausames Französisch, dass selbst Jutta Mühe hatte, ihn zu verstehen. Er sagte ungefähr: Gerade hätte er ein Viertelstündchen Zeit und hätte sich nach den Kleinen umsehen wollen, und der Herr hier, sein Bekannter, stellte sich gleichfalls zur Verfügung.
„Bien des chances, mes petites demoiselles!“ sagte der Koch lachend.
Inzwischen hatten die beiden Herren aus allen Taschen Mandarinen hervorgeholt. Wie sie die Früchte auf dem Tisch aufhäuften, liessen die beiden Mädchen Juttas Arm sofort los und tanzten jubelnd und in die Hände klatschend um die neuen Gönner herum. „Oh, oh, oh, voyez done! Oh, que vous êtes gentils! Oh, quelle charme! Six, sept, huit, — onze, douze, quatorze!“
Die Mehrzahl der Früchte kollerte zu Boden: hier im Vorderteil des Schiffes waren die Schlingerbewegungen besonders stark. Am Auflesen beteiligten sich alle, auch Jutta, und Mademoiselle Isabelle, der stupsnäsige Fratz von sechs Jahren, machte sofort ein lustiges Spiel daraus: sie sammelte in ihr rasch aufgeschürztes Röckchen, liess aber alles wieder seitwärts zu Boden gleiten, so wie sie’s wohl im Zirkus von den Clowns einmal gesehen haben mochte.
Es war eine sehr lustige Szene, alles lachte über den drolligen Knirps.
Und so kam es denn auch ganz ungezwungen zu einer kurzen Unterhaltung — auf französisch — zwischen Jutta und dem „Ägypter“. Man sprach über den Unfall des Marseillers, das Glück dabei, dass es noch so gut abgelaufen war, und lobte die bei dem starken Seegang so tapferen kleinen Mädchen. Beide Kinder bewaffneten sich mit je vier, fünf Mandarinen, Augustine hängte bei Jutta ein, Isabella links beim Schiffsarzt, rechts bei dem neuen Bekannten, und so zog der Trupp fröhlich aus der Unterwelt zum Deck der dritten Klasse empor.
Grau in Grau waren Himmel und See. Über den Bug und den im Gummimantel steckenden Posten am Bugspriet spritzte der Gischt. An der vordersten Spitze des Schiffes hielt sich sonst kein Mensch auf. Hinter den mit Segeltuch bespannten Güterstapeln war aber ein trockenes Plätzchen verfügbar, um mit den Kindern irgendein Spiel vorzunehmen. Ein paar Mitglieder der italienischen Varietétruppe hatten sich stark vermummt im Schutz der Güterstapel auf Liegestühlen von Segeltuch niedergelassen. Als Isabella ohne weiteres die Mandarinen zu einem Fangballspiel mit den drei Erwachsenen benutzte — an dem sich das ältere Schwesterchen natürlich sofort beteiligte — streckte zuerst der Kapellmeister, dann ein anderes Mitglied der Truppe die Nase aus der Vermummung. Eine der Früchte flog daneben. Sofort schossen die beiden Artisten empor, schleuderten die Decken von sich und machten Jagd auf die Mandarine. Es war so komisch, die beiden Leutchen auf dem schwankenden Schiff sich Haschen zu sehen — einer suchte dem andern die Beute abzujagen, wobei sie mehrmals das Gleichgewicht verloren — dass sie alle fünf gespannt den Ausgang des Kampfes abwarteten. Die kleinen Marseillerinnen feuerten sie zuerst durch ihre Rufe an, dann riss es sie aber doch dazu hin, die Jagd des Artistenpaares selbst mitzumachen.
Und daran anschliessend entwickelte sich trotz dem Rollen und Stampfen der „Holstein“, trotz Kälte, Wind und überholender See, ein so lustiges Spiel zwischen diesen Stockfremden, die den verschiedensten Nationen, den verschiedensten Klassen angehörten, dass Jutta sich und den Gatten und seine gesellschaftlichen Anschauungen ganz und gar vergass.
Sie tat nichts halb, sie widmete sich jeder Sache, die sie fesselte, gleich mit Leib und Seele. In der Pension zu Koblenz war sie die beste Tennisspielerin gewesen, im Golfspiel hatte sie einmal kurz vor ihrer Verlobung den Sieg über eine berühmte englische Schlägerin davongetragen.
Die Mandarinen flogen in dem unregelmässigen Siebeneck auf die kurzen hellen Anrufe von Hand zu Hand. Blitzgeschwind und ohne Verabredung hatte sich etwas wie eine Spielregel zwischen ihnen entwickelt. Es warfen immer zwei übers Kreuz, das ging so reihum, und der siebente hatte indes einen Fangball zu tun. Wenn einer einen Wurf verfehlte, so rannten die andern, bis er wieder im Besitz seines Geschosses war, im Geschwindschritt von Platz zu Platz, was bei den schwankenden Schiffsbewegungen ein Kunststück war. Man hörte Rufe in allen Sprachen, helles Lachen — das Jauchzen der Kinder.
Die Ausgelassenheit lockte bald Zuschauer an. Oben auf dem Promenadendeck waren schon mehrere der unermüdlichen Spaziergänger stehengeblieben und musterten die Gruppe.
Jutta bereitete es Vergnügen, ihren jeweiligen Mitspieler zu necken: wenn der Kapellmeister, der sich rasch die Leitung des Spiels angeeignet hatte, sein „ecco!“ oder „eccolo!“ hinausschmetterte, dann zögerte sie noch mit ihrem Wurf, so dass er vergeblich zufasste und komisch verdutzt den Mund aufriss, oder sie warf ihren Ball so hoch sie konnte, so dass alles durcheinander lief, um ihn zu fangen. Zwei Mandarinen waren schon — unter einem allgemeinen Schreckensruf — über Bord gegangen. Der Schiffsarzt, der ungeschickteste der Spieler, war der Übeltäter. Augustine, deren Wangen vor freudiger Aufregung glühten, holte eilends neuen Vorrat aus der Kajüte. Am geschicktesten fing Juttas kühne Würfe immer der „Ägypter“ auf. Er war ein ebenso guter Ballspieler wie sie. Ein paarmal tauchte Juttas Blick mitten im Eifer des Spiels mit einer Art verwunderter Neugier in den seinen. Und dabei hatte sie die Empfindung: was er doch für ein hübsches, offenes Gesicht besass — und was für helle, lustige, liebe Augen!
In jähem Schreck brach sie indessen plötzlich das Spiel ab.
Unter den Zuschauern oben hatte sie Herrn von Stangenberg bemerkt.
„Au revoir, mes petites, au revoir!“ rief sie den beiden Kindern noch lebhaft zu. In der nächsten Sekunde hatte sie dann schon die eiserne, leiterähnliche Treppe, die zum Promenadendeck emporführte, erklommen. Sie eilte auf Stangenberg zu, hängte burschikos bei ihm ein und zog ihn mit sich fort, atemlos, immer noch lachend.
Aber das Lachen klang jetzt ein bisschen erkünstelt.
„Ich traute erst meinen Augen nicht ... was war denn das, Sie verwegene kleine Frau?“
Sie schmiegte sich an ihn wie ein Backfisch an die Erzieherin: als ob es gälte, den Erlass einer Strafe abzuschmeicheln.
„Nicht ausplaudern, bitte, bitte.“
Allerliebst war sie in ihrer Kopflosigkeit, ihrer Bestürzung. Und es lag trotz aller Angst auch jetzt ein schalkhafter Zug in ihrem Wesen.
„Nu sagen Sie bloss: da war doch Succo bei, der Referendar?“
„Bscht —“ Sie hielt ihm die Rechte vor den Mund und klammerte sich mit der Linken noch fester an ihn. „Wir machten bloss mit den Kindern ein bisschen Unsinn. Das sind die kleinen Marseillerinnen — und überhaupt: er weiss doch gar nicht, wer ich bin!“
„Meine Gnädigste, na, hören Sie ...“
Sie entzog ihm hastig den Arm und blieb stehen. „Wenn ich durchaus eine Strafpredigt haben soll, dann hol’ ich sie mir lieber von meinem Mann!“
Man konnte nicht wissen, ob sie das noch im Scherz oder ob sie’s im Ernst sagte. „Die würde dann jedenfalls schärfer ausfallen, meine Gnädigste, als mir’s zusteht.“
„Ist es Ihnen recht, wenn wir jetzt unsern Tee nehmen? — Gut. Also im Damensalon.“ Sie lachte. „Nein, besser im Rauchzimmer, wo Sie behaglich schmauchen dürfen. Um Sie einzuwickeln. Bin ich nicht nett?“
Sie traten in den mollig erwärmten Raum ein. Hauptsächlich Herren waren zugegen. Geraucht wurde aber nur wenig. Die Luft war gut. Jutta machte flott die Bestellung und suchte Teegebäck aus, das sie vom Barkeeper einwickeln liess. Ein Steward musste das Päckchen sofort den kleinen Marseillerinnen nach der dritten Klasse hinüberbringen. An dem einzigen noch freien Tisch nahm sie Platz; Stangenberg liess sich ihr gegenüber nieder. Sie hatte noch ganz heisse Wangen vom Spiel, vom Wind.
„Sie haben mir noch immer nicht meine Frage beantwortet, verehrter Freund“, begann sie nun übermütig.
„Fishing for compliments! — Nein, was sind Sie für eine gefährliche kleine Frau! — Stürzen sich da in die tollsten Abenteuer ... Ja, lachen Sie nur! ... Und hinterdrein reizen Sie einen — das heisst, nein, Sie sind so reizend — dass man Ihnen auf Tod und Leben den Hof machen möchte ...“
„Was Sie doch hoffentlich nicht tun werden?“ fragte sie mit einem drolligen Augenaufschlag.
„Jawohl, gerade. Und Sie wissen’s, sehen einen mit Grazie in der Gefahr versinken ...“
„Gefahr? Für mich nicht, ich schwör’s Ihnen.“
„Aber für mich.“
„Wieso?“
„Man ist dann Mitschuldiger. Und — das wollen Sie eben.“
Der Tee kam, und sie bediente ihn. „Ich merke mir alles, was Sie sagen. Und wenn mein Mann nicht mehr seekrank ist, erstatte ich ihm Bericht.“
„Sie wären wahrhaftig imstande. — Wollen wir nicht lieber einen Vergleich schliessen?“
„Nun wollen Sie mich mitschuldig machen.“ Sie lachte wieder. „Ein bisschen Milch gefällig?“
„Ja. Nein. Ja. Danke. — Ein paar Augen haben Sie, ein paar Augen —“
„Für einen ehemaligen Rittmeister sind Sie seltsam leicht in die Irre zu führen.“
„In die Irre. Das ist das rechte Wort. Mit Ihren kleinen Händen reichen Sie einem Tee. Tee mit Milch. Und mit den Augen: Champagner.“
„Wie gesagt, ich merke mir alles.“
„Bitte.“
„Das sagen Sie so, wie die tollen Kerle auf der Bühne etwa: ‚Racker!‘“
„Es sollte aber ‚Sphinx‘ heissen.“
„Ich finde, wir unterhalten uns furchtbar geistreich. Das halten wir bis Alexandrien gar nicht aus. Wenn Sie Ihren Tee getrunken haben, dürfen Sie mich noch auf die Kommandobrücke begleiten. Dann Handkuss und Erholungspause bis zum Essen. Ich muss auch wieder mal nach meinem Mann sehen.“
„Aha, das Gewissen schlägt.“
„Vielleicht.“
Jutta traf den „Ägypter“ nach dem Diner noch mehrmals auf dem Promenadendeck. Er grüsste nicht, sah sie auch kaum an. Sie sagte sich: ein richtiger Landsmann würde nach der Begegnung bei den Kindern drüben doch sicher die Gelegenheit wahrgenommen haben, sich vorzustellen. Ihm schien es gar nicht einzufallen, sich ihr zu nähern. War es nur die kühlere, zurückhaltendere Reisegewandtheit — oder hatte er inzwischen vielleicht in Erfahrung gebracht, wer sie war?
Noch nie hatte sie vor ihrem Gatten ein Geheimnis gehabt. Sie war ihm gegenüber selbst in den kleinsten Kleinigkeiten und Harmlosigkeiten offen. Hätte sie so wie sonst mit ihm verkehren können, so wäre ihr’s ganz unmöglich gewesen, ihm ihre Begegnung mit dem Vetter auch nur ein paar Stunden lang zu verschweigen. Aber Gustav lag ohne Teilnahme da. Sein Magen hatte restlos alles Verfügbare hergegeben. Sprechen konnte er nicht, hören wollte er nicht, ansehen sollte sie ihn nicht. Er hatte nun seit rund dreissig Stunden nichts als Eiswasser in kleinen Schlucken zu sich genommen.
Natürlich stand es bei ihr felsenfest, dass sie ihm die Sache noch an Bord mitteilen würde. Zugleich sagte sie sich aber — und sie empfand die Wendung selbst als etwas ihr Fremdes —, dass sie bis dahin wohl noch mehr zu beichten haben würde.
Ein ganz bestimmter Trotz hatte sich in ihr eingenistet. Kein Trotz gegen ihren Gatten persönlich. Nein, es war ein Groll gegen jene ganze „Clique“, die sich vermass, einen Menschen wegen einer Jugendverfehlung einfach aus der Liste der Lebenden zu streichen. Der in ihren Augen noch Lebenden.
Fritz von Succo konnte sie sich nun einmal nicht als „Verbrecher“ vorstellen. Was sie für ihn sofort eingenommen hatte, das war sein Humor. Sie war allen Menschen gut, die ein bisschen Humor besassen. Oder auch nur Humor verstanden. Selten genug waren sie ja. Und noch ein paar Züge, die sie an ihm kennengelernt hatte, so unwesentlich sie für einen andern sein mochten, gaben ihrem Urteil über ihn eine freundlichere Richtung. Sie dachte an die Geschichten von Achmed, an sein forsches Auftreten dem Neapolitaner gegenüber, an die nette Gesinnung, die sich in seinem Besuch bei den armen kleinen Marseillerinnen verraten hatte. Es war doch wohl etwas Feineres in ihm, als das, was ihr Gatte immer mit dem Spottwort „Humanitätsduselei“ abtat.
Sie fühlte Teilnahme für ihn. Weniger für seinen „Fall“. Dass Gustavs Darstellung der heiklen Angelegenheit streng aktenmässig gerecht wurde, daran trug sie nicht den geringsten Zweifel. Aber anderes verstand sie nicht; zum Beispiel dass die leibliche Mutter von Fritz sich bloss dieses leidigen Skandals halber von ihm losgesagt haben sollte. Und sie fragte sich: Wie war es möglich, dass er das überwinden konnte? Er — der als einziger von sämtlichen seefest gebliebenen Fahrgästen der armen kleinen Gefangenen aus der dritten Klasse gedacht hatte, der also doch Herz damit verriet?
Rätsel, Rätsel, wohin sie sah.
Und eine brennende Ungeduld erfüllte sie, diese Rätsel zu lösen.
Ihr Trotz wuchs insgeheim mit der Ungeduld. Er richtete sich auch gegen Stangenberg, der ebenso hoheitsvoll Fritz von Succo abgeurteilt hatte und sein bisschen Mitwisserschaft nun ausnutzen wollte, um eine gewisse Macht über sie auszuüben.
So kam’s, dass sie das unbewusst begonnene Versteckspiel bewusst fortsetzte — und dass es anfing, sie zu reizen, ja sie mehr und mehr auszufüllen.