Читать книгу Die verbotene Frucht - Paul Oskar Höcker - Страница 6
Viertes Kapitel
ОглавлениеIhre Menschenkenntnis trog übrigens nicht. Als sie auf ihrer Wanderung wieder in die Nähe der Gruppe kamen, hörten sie Frau von Druhsen eifrig auf Stangenberg einreden. Der Name Succo kam in jedem Satze vor.
„... Also es waren drei Brüder. Kuno von Succo, der als Oberlandesgerichtspräsident starb. Das war der Vater von dem jetzigen Oberstaatsanwalt. Der zweite Bruder war Philipp von Succo. Der starb sehr früh. Er war Major und hatte eine geborene von Zabell zur Frau.“
„Von Zabell mit zwei l“, warf die Gesellschafterin ein.
„Die Witwe lebt noch. Und deren Sohn muss es sein. Stimmt’s?“
Stangenberg war ihr hilflos ausgeliefert.
„Der dritte Bruder ist als einziger noch am Leben: Bodo von Succo. Ja — und denken Sie — in einer solchen Familie ... ach, Herr von Stangenberg, Sie wissen sicher noch Näheres ...“
„Gnädigste, Sie sind doch schon so eingehend unterrichtet!“
Aber sie ruhte nicht. Hier war sie ganz in ihrem Fahrwasser. Mehrmals sah sie ihre Gesellschafterin geradezu beglückt an. Als Stangenberg endlich ziemlich ausgepumpt die erstbeste Gelegenheit wahrnahm, um in den Rauchsalon zu verschwinden, fühlte sie sich imstande, der aufhorchenden Runde einen lückenlosen Tatbericht zu geben.
Also. Es hatte als ganz gewöhnliche dumme Kasinogeschichte angefangen. Der Referendar von Succo war Gast gewesen und war mit seinem Kompanieleutnant in einen heftigen Wortwechsel geraten. Der junge Offizier, schliesslich bis aufs Blut gereizt, hatte ihn dienstlich hinausgeschickt, Succo verweigerte den Gehorsam, ein regelrechter Skandal entstand — es gab ein Handgemenge — in plötzlicher Wut holte Succo aus und schlug seinem Vorgesetzten vor den versammelten Kameraden ins Gesicht. Die überwältigten ihn natürlich und schafften ihn hinaus, noch bevor sich der Offizier in den Besitz seiner Waffe gesetzt hatte.
Nun entsann sich sowohl der Dresdener Apotheker und Weltumfahrer als auch sein Nachbar: sie hatten darüber seinerzeit in den Tageszeitungen gelesen, schufen aber Verwirrung, denn sie brachten ein paar andere Fälle durcheinander. Die Sache lag ja schon so weit zurück.
Der Nachbar des Apothekers, ein junger, reicher Schlesier namens Schneider, dem man sofort den Namen „der Kohlenbaron“ gegeben hatte, bemühte sich — vergeblich —, ein Einglas ins Auge zu klemmen. „Es war ein Herr von Münchhoff“, sagte er.
„Nicht von“, belehrte die Baronin, „bloss Münchhoff.“
„Dann ist es zu einem Duell gekommen?“ fragte der Apotheker.
„Nein, der Ehrenrat hat es nicht geduldet, weil der junge Mann doch gleich in Untersuchungshaft gekommen und abgeurteilt worden ist.“
Der Schlesier hatte ein Lächeln aufgesetzt. „Zweifellos war’s doch ’ne Mädelsgeschichte. Nicht?“
Frau von Druhsen hob die Augenbrauen und räusperte sich. „Einzelheiten wollen wir lieber nicht erörtern.“
Nun räusperten sich auch die anderen.
„Jedenfalls schlossen Gefängnis und so weiter jeden Ehrenhandel mit der Waffe aus“, meinte der Kohlenbaron.
„Höchst peinlich für die Familie“, sagte das Gesellschaftsfräulein.
Der junge Schlesier machte wiederum einen Versuch, sein Einglas unterzubringen. „Ich erinnere mich, Münchhoff sollte von seinem Regiment gehalten werden, nahm dann aber doch seinen Abschied.“
Frau von Druhsen lehnte sich in ihrem Liegestuhl behaglich zurück. „Ich hatte mir’s doch gleich gedacht, dass mit diesem Mister Succo aus Kairo irgend was nicht stimmte.“
Und die Unterhaltung plätscherte in der angeschlagenen Tonart weiter.
An der Tür zum Rauchsalon stiess Stangenberg dann mit dem Ehepaar Succo wieder zusammen. Jutta merkte ihm eine Verlegenheit an: weil er, wenn auch ohne sein Verschulden, von der fremden Dame in den Klatsch mit hineingezogen worden war. Sie hatte ein besonderes Lächeln. Der Gegenstand selbst wurde zwischen ihnen aber nicht mehr berührt.
„Musst du nicht bald in die Kabine, dich umziehen?“ fragte Succo seine Frau.
Der Vorwand kam ihr gelegen. Sie sagte sich auch, dass ihr Gatte sich nun doch von Stangenberg ausführlich Bericht über die Auffassung der andern erstatten lassen wollte. Denn das Urteil der Welt war ihm ja Richtschnur in allem. „Ja, es wird Zeit. Aber lass dich nicht stören, Gustl. Ich spaziere bloss noch ein bisschen über Deck.“
So trennten sie sich.
Jutta war es ein Bedürfnis, noch ganz für sich etwas „See kneipen“ zu können.
Glanzlos war die Sonne untergegangen. Der Anblick der dunklen Flut hatte etwas Unheimliches. Das Wasser wies nur in der aus den Kajütenfenstern vom Licht getroffenen Bahn weisse Schaumkämme auf, sonst wirkte es wie eine schwarze, zähe Masse, die sich hob und senkte mit dumpfem Donnern und dröhnendem Anprall an die Bordwand.
Als Jutta später, um zur Kabine zu gelangen, das obere Promenadendeck hinter der Kommandobrücke betrat, begegnete ihr der Kapitän. Ihr Gatte hatte sich mit ihm bereits bei der Ankunft im Zahlmeisterbüro bekannt gemacht. Inzwischen hatte der Kapitän durch den Zahlmeister erfahren, dass die Inhaberin der Kabine Nr. 1 die Tochter des sehr einflussreichen Inspektors Plaschke war, der rechten Hand des Generaldirektors. Er sprach sie also daraufhin an und lud sie und ihren Mann ein, jederzeit und nach Gefallen die den Fahrgästen sonst gesperrte Kommandobrücke zu benutzen.
Sie folgte der Einladung sofort. Als Gäste des Ersten Offiziers befanden sich noch ein paar Herren dort. Es war auf deutsch eine lebhafte seemännische Unterhaltung zwischen ihnen im Gange.
Auf der Brücke selber war es dunkel. Aber man übersah von hier aus die verschiedenen hell erleuchteten Decks. Jutta verblüffte die Höhe über dem Bug, der sich in gleichmässigem Takt tief da unten in die Wogen senkte.
„Die Wolkenkratzer des Meeres“, sagte soeben einer der Herren drüben.
Der Kapitän leistete ihr noch ein Weilchen Gesellschaft und trat dann zu der Gruppe auf der andern Seite. Jutta versenkte ihre Hände über Kreuz in die Ärmel ihrer Pelzjacke, lehnte sich gegen die Brüstung und liess ihren Blick mit dem Bug wandern. Allerlei Erinnerungen an schöne, eindrucksreiche Stunden, die sie bei ihrem Vater auf der Kommandobrücke verlebt hatte, tauchten in ihr auf.
Die Herren drüben rauchten. Alle vier hatten die Arme auf das ziemlich hohe Geländer aufgestützt. Gegen den Nordwind schützte sie der Aufbau des Kompasshauses mit den anstossenden Staatskabinen.
Mit dem ihr vertrauten Rhythmus der Schiffsschraube, dem Gurgeln und Poltern der See und dem Rauschen in ihrem Ohr, das so klang, als spräche jemand in eine Muschel, vermischten sich die Stimmen der Herren drüben. Die der beiden Seeleute hatten den behaglichen, leicht ans bremische Platt erinnernden Beiklang. Die der beiden Gäste waren grundverschieden: die eine, etwas nasal, mit einem Anflug von englischer Trübung der Vokale, die andere sehr klangvoll und frisch, dabei warm und herzlich. Sie stellte sich unwillkürlich vor, dass ihr Besitzer — von dem sie in der Dunkelheit nur die Umrisse sah — ein offenes Bajuvaren- oder Rheinländergesicht mit blondem Haar und freundlichen Augen haben müsste. Unbedingt besass er Humor.
So gab er gerade eine höchst drollige Schilderung des Arabervolks. Sie widersprach durchaus den Darstellungen, die Jutta bisher von den Vergnügungsreisenden gehört hatte.
„Man muss sich eben nur vorstellen: sie sind Kinder geblieben“, sagte er lebhaft. „Sie haben alle Untugenden unerzogener Kinder — aber auch alle Vorzüge. Ich möchte meine arabischen Arbeiter um keinen Preis mit europäischen vertauschen. Trotz ihrer fast märchenhaften Faulheit. Diese Naivität, diese Liebenswürdigkeit und Geschäftigkeit — und ihre putzige Art, Ehrgeiz zu betätigen. Nein, ich komme mit meinen Eingeborenen vorzüglich aus.“
„Die Reisenden versündigen sich viel an ihnen“, sagte der Kapitän in seiner etwas bedächtigen Art, „wenigstens in den grösseren Städten, in den Häfen. Die Korruption kommt von Europa.“
„Nicht die Korruption. Aber bedenken Sie: die Bibel, der Schnaps und der Assessor — für ein Naturvolk ist das zu viel Kultur auf einmal.“
Die Herren lachten, und das Gespräch ging weiter. Jutta verstand nicht alles, hatte auch nicht die Absicht zuzuhören, obwohl sie’s fesselte. Noch mehrmals gab’s ein gemütliches Lachen von allen vier Herren.
„Verleben Sie den Sommer denn auch dort?“ fragte jetzt der Kapitän drüben.
„Juli und August am Libanon, sonst das ganze Jahr in Bedracheïn bei Kairo. Unweit vom alten Memphis.“
Der Libanon — Memphis. Was das für Klänge waren! Sie hatte sich nun auch mit beiden Ellbogen auf das Geländer aufgestützt und atmete tief die Luft ein. Dabei beugte sie sich unauffällig ein wenig vor, um ihn zu sehen.
„Wenn er doch nur weitererzählen wollte!“ sagte sie zu sich.
Auch drüben schien der Wunsch zu bestehen. Sie hörte den Kapitän in gemütlichem Ton etwas sagen, worauf die andern Herren wieder lachten. Und der „Ägypter“ fuhr zu plaudern fort.
„Gut, meine Herren. Ich sagte Ihnen schon, ich habe da einen arabischen Diener, den kleinen Achmed. Ein kluger Bursche. Treu wie ein Hund — gegen mich demütig, ohne dabei zu kriechen, und im Grunde doch von einem brennenden Ehrgeiz und Stolz. Und wollen Sie mir’s glauben: mit seinen feinen Bemerkungen — er radebrecht ein bisschen Deutsch und Englisch — beschämt der kleine ‚Wilde‘ oft manchen Kultureuropäer.“
„Die Geschichte aus Bremen, erinnern Sie sich noch?“ warf der Erste Offizier ein. „Die müssen Sie sich auch mal erzählen lassen, Herr Kapitän.“
„Eine Moritat von Achmed?“
„So was Ähnliches. Wir hatten ihn an Land mitgenommen, und im Hotel — es war da eine grössere Herrengesellschaft in ziemlich vorgerückter Stimmung — umzingelt ihn plötzlich eine Kette von befrackten Gentlemen, die einen Tanz rund um ihn herum ausführen, ihm die Zunge zeigen und in eine Art Kriegsgeschrei ausbrechen. Es sollte ein Scherz sein. Aber mein Achmed blieb sehr ernst. Und als ich dazukam und ihn befreite, fragte er mich ganz traurig: ‚Oh, Sir, warum glauben diese Gentlemen, dass ich schlecht bin? Weil ich dunkel bin? Achmed dunkle Haut, aber weisses Herz.‘“
Sie lachten.
„Und bei den verehrten Landsleuten“, sagte der Kapitän, „war’s eben umgekehrt.“
Jutta empfand sofort Zuneigung für Achmed — und auch für seinen Herrn.
Der rauchte ein paar Züge, dann fuhr er in munterem Tone fort: „Als wir unsere Gastfreunde auf Rhodos verliessen — es waren da zwei ganz allerliebste Mädels von sieben und neun Jahren im Haus — da bat er mich um Vorschuss, der Boy. Anderthalb Pfund. ‚Hallo, Achmed, was soll’s damit?‘ frag ich. Denn das ist doch ein Vermögen für den Burschen — ich gab ihm monatlich achtzehn Schilling. Er druckst und schämt sich. Aber endlich kommt’s ’raus. In der Hauptstrasse hat er zwei Puppen gesehen, wunderschöne, blonde Puppen, die zusammen anderthalb Pfund kosten, und die will er zum Abschied den beiden kleinen Misses schenken. Das gefiel mir. ‚Zahl du ein halbes Pfund — hier, den Rest will ich beisteuern‘, sag ich. — ‚O no, Sir‘, wehrte er ängstlich. — ‚Was, Boy, du willst nicht annehmen?‘ — ‚Oh, Sir, es muss mir machen Arbeit, selbst zu verdienen — sonst es nicht Freude für mich, den Misses zu schenken‘, sagte Achmed, der kleine Wilde.“
Am liebsten wäre Jutta jetzt hinübergegangen, um dem Fremden zu sagen, dass sie die ganze Geschichte von Achmed allerliebst fände.
„Warum haben Sie den Boy diesmal nicht mit an Bord gebracht?“ fragte der Kapitän.
„Der Klimawechsel bekommt ihm nicht. Er hütet nun meine Wirtschaft in Bedracheïn. Da ist er Koch und Mädchen für alles, Sekretär, Groom und Reitknecht. Jedenfalls: verlassen kann ich mich bombenfest auf den schwarzköpfigen kleinen Boy.“
Bedracheïn — den Namen kannte sie aus dem Baedeker. Das war die Bahnstation am Nil für die Pyramiden von Sakkarah.
„Sie leiten dort die Zuckerfabrik?“ fragte der Kapitän.
„Stimmt. Das Dorf selbst ist aber nicht weiter sehenswert. — Lediglich Achmed.“
In diesem Augenblick zündete sein Nachbar mit einem Sturmstreichholz seine kurze englische Holzpfeife an. Beim Aufflackern der prasselnden kleinen Flamme glitt der helle Schein über die Gesichter der Versammlung.
Und Jutta durchfuhr ein jäher Schreck.
Der „Ägypter“, den sie sich als blonden, jovialen Landsmann vorgestellt hatte, war brünett, er hatte ein glattrasiertes Gesicht mit sehr energischem Schnitt und grossen, klugen, hellgrauen Augen: es war Fritz von Succo — der von ihrem Gatten verleugnete Vetter.
Es bedurfte nun für sie einer inneren Umformung. Was man ihr von seiner brutalen Tat gesagt hatte, das wollte mit dem Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte, nicht recht zusammenstimmen.
Dennoch war von ihrem Gatten schon so viel Korpsgeist auf sie übergegangen, dass sie merkte: ihre Zuneigung für Achmeds Herrn und Gebieter geriet rasch wieder ins Sinken, ins Schwinden.
Und ihr nächster Entschluss war der: sie wollte möglichst unbemerkt die Kommandobrücke verlassen.
Die Herren sprachen so angeregt, dass keiner nach ihr hinsah, als sie sich der Treppe zuwandte.
Aber noch auf der untersten Stufe zögerte sie und lauschte zurück. Es lag nahe, dass der Kapitän nun ein Wort über sie sagte. Und dann musste die doppelte Vertretung des Namens an Bord zwischen ihnen doch zur Sprache kommen. Man würde ihn nach Verwandtschaft oder sonstigen Beziehungen fragen — so wie vorhin ihren Mann. Was er dann wohl erwiderte?
„Jutta?“ klang’s fragend aus dem Halbdunkel vor ihr. Ihr Mann stand an der Tür zum Kabinengang; er hielt die Klinke schon in der Hand. „Das erste Signal. Man muss sich schleunigst umziehen. Wo hast du denn gesteckt?“
„Ich? — Oh, bloss da oben, auf der Kommandobrücke.“
Sie wusste selbst nicht, weshalb sie ihm nicht sofort etwas über die Begegnung mit seinem Vetter sagte. Schwieg sie aus Schonung für ihren Mann? Um das leidige Gespräch, das ihm nun fast den ganzen Tag schon verdorben hatte, nicht noch einmal aufzurollen? Oder tat sie’s, um den guten Eindruck nicht preiszugeben, der in ihr noch mit ihrem Vorurteil kämpfte?
Während sie in die Kabine eintraten, sprach sie, sich ein wenig überstürzend, bloss über die Einladung des Kapitäns und seine Liebenswürdigkeit.
Aber insgeheim ärgerte sie sich über ihre seltsame innere Unfreiheit.