Читать книгу Im Hintergrund der schöne Fritz - Paul Oskar Höcker - Страница 5
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ОглавлениеIm glattlaufenden Schlafwagen geht der Schaffner von Tür zu Tür und weckt. Es beginnt zu dämmern. In dreiviertel Stunden ist man in Basel.
Bernt balanciert schon vor dem Spiegel und rasiert sich. Er hat wie tot geschlafen. Aber ausgeruht sieht er nicht aus. Sein Bild missfällt ihm. Er wird im Mai dreissig Jahr — und sein Gesicht ist doch schon recht zerknautscht. Da er viel Sonnensport treibt, täglich mit den Kindern im Dachgarten oben auf der Villa turnt, selbst im Winter bei Schnee, ist er durchtrainiert, schlank, fast mager. Und seine Haut ist gesund bräunlich. Aber die Schläfen sind eingefallen und lassen ihn älter erscheinen. Nun ist auch sein Haaransatz zurückgetreten, die Stirn sehr hoch, man könnte schon beinahe von einer Glatze sprechen, so dünn ist die blonde Haarschicht oben. Vorbildlich gesund sind seine weissen, festen Zähne. Der Zahnarzt, von dem er sich und die Kinder kontrollieren lässt, schmeisst ihn stets mit humoristischer Entrüstung aus dem Sprechzimmer hinaus. Den Spiegel benutzt er nur beim Rasieren, das sind also auch die einzigen Minuten, wo er sich mal ins Auge sieht. Die Farbe seiner Augen ist im Pass braun angegeben, aber in Wirklichkeit ist sie braungrün schillernd. Besondere Kennzeichen? In seinem Elternhaus (er ist früh Waise geworden) hiess er der „fröhliche Bursch“; nach einer Björnson-Novelle hatte ihn seine Mutter so genannt, weil er so gern und so herzlich lachte. Aber wie all seine Altersgenossen, die im ersten Semester der Technischen Hochschule standen, als der Krieg ausbrach, hat er das Lachen zeitig verlernt. Flandern und Galizien! Rasch wurde er zum Offizier befördert. Im Flammenwerfertrupp holte er sich im Dezember 17 die dritte Verwundung. So kam er ins Heimatslazarett, im Mai 18 zur Nachkur ins Heilbad. In Wiesbaden lernte er Droeseke und Tochter kennen. Verliebt, verlobt, Kriegstrauung. Sofort ging’s wieder hinaus. Aber unmittelbar danach reklamierte ihn sein damals sehr mächtiger Schwiegervater für die kriegswichtige Fabrik. Als der Umsturz begann, leitete er das Berliner Büro. Die kleine Sibylle war noch in Schlesien geboren. Im Jahre 19 kaufte Droeseke dem jungen Paar die schöne Grunewaldvilla. Die grosse Sibylle hat das Glück darin ja nicht lang erlebt ... Und sie haben so gut zu einander gepasst. Gerade weil Sibylle das glückliche Gegenteil ihres Vaters war, des geizigen, schrulligen Mannes, der das Leben hasst und nur das Geld liebt ... Was haben sie doch oft gelacht, als junges Paar, wenn es ihnen einmal gelungen war, Papa Droeseke zu beschummeln ... Sibylle konnte ja ein solcher Kindskopf sein, so ausgelassen, und Gesichter schneiden, nein, woher hatte sie das bloss ...? Weder ihr Töchterchen noch Klaus haben auch nur eine verschwindende Ähnlichkeit mit ihr. Eigentlich ähneln sie beide ihrem Grosspapa, äusserlich und innerlich. Schade ...
Der Schlafwagenschaffner bringt die bestellte Tasse schwarzen Kaffee. Bernt nimmt zwei Schlucke und verzichtet auf den Rest. Das Handgepäck ist fertig gemacht. Er zündet sich eine Zigarette an und tritt auf den Gang. Eine schlanke junge Dame im kostbaren Breitfuchs steht am Gangfenster und blickt in den grauen Morgen hinaus. „Muss ich in Basel umsteigen nach Adelboden?“ fragt sie den Schaffner. Nein, sie könne im Zug bleiben bis Frutigen, aber hier in Basel würde der Schlafwagen abgehängt, es sei Aufenthalt genug, wegen der Zoll- und Passrevision.
Der Zufall bringt sie dann in dem neuen Schweizer Wagen zusammen; er hat nur dieses eine Abteil erster Klasse. Und es ergibt sich, dass sie beide in Frutigen den Zug verlassen werden. Das Postauto habe unmittelbar Anschluss nach Adelboden, versichert der Schweizer Schaffner. „Aber es wird Nacht werden, bis man dort ankommt?“ fragt die Reisende etwas unbehaglich. Sie kenne Adelboden nicht, erklärt sie dem Fahrtgenossen, wisse daher nicht, wo man dort am besten unterkomme. Bernt ist das Grand Hôtel empfohlen worden; er hat sich telegraphisch ein Zimmer vorausbestellt. „Gewiss ist der Hausdiener an der Bahn, Sie können dann gleich erfahren, ob noch Platz im Hause ist oder wo sonst.“
Bernt freundet sich unterwegs nicht gern an. Er bleibt auf der Weiterreise zurückhaltend. Die Mitreisende ebenso. Aber es ergibt sich, dass sie viel gereist ist. In Zürich und München weiss sie gut Bescheid. Sie ist durchaus Lady, auch offenbar die Begleitung einer Jungfer gewohnt. Sie brauche ein zweites Zimmer für ihre Bedienung, die in ein paar Tagen nachkommen soll, sagt sie in Frutigen dem Hausdiener vom Adelbodener Grand Hôtel. Oh, es gebe Platz genug oben, die Hauptsaison sei doch jetzt vorbei ...
Unheimlich schön ist die nächtliche Fahrt bergauf im Postauto auf den beschneiten Serpentinen, die sich längs des Tals emporschrauben. Der Scheinwerfer beleuchtet nur immer einen kleinen Ausschnitt aus der schneeverzauberten Welt. Mehrere hundert Meter geht es ununterbrochen steil empor. Zuweilen tut sich der Blick in jähe dunkle Schluchten auf, die links oder rechts von der Poststrasse abstürzen. Der mächtige Kasten rollt über Brücken, passiert kleine Gebirgsdörfer. Alles ist dick verschneit.
Im Hotel klingt Tanzmusik aus der Halle. Das übliche Bild: Ladys in Abendtoilette, Gents im Smoking. Meistens Engländer und Holländer, berichtet die Empfangsdame. Die Ankömmlinge haben reichlich Auswahl unter hübschen Zimmern. Es ist alles gut durchgeheizt und sehr behaglich.
Eine kleine Stunde später sitzt Bernt, frisch umgezogen, an seinem Tischchen im sonst leeren Speisesaal beim Essen. Auch die Reisegefährtin erscheint. Sie hat nur eine kleine schwarze Abendtoilette ausgepackt, aber ein kostbarer handgestickter Seidenschal gibt ihr Relief. Vom Menü wählt sie bloss eine Kleinigkeit aus. Die Empfangsdame kommt und erkundigt sich nach weiteren Wünschen. Hauptsorge der Neuangekommenen ist: kann sie gleich morgen früh einen gewandten Skilehrer bekommen? Ja, gewiss, das ist der junge Berner, der in der Halle als Eintänzer tätig ist. Auch Bernt bedarf seiner, wenigstens bei der Besorgung der Bretter, denn er hat für den kurzen Ausflug seine Ski nicht mitgenommen. Also stellt hernach in der Halle die Hotelbesitzerin den Sport- und Tanzlehrer den Ankömmlingen vor. Ein Sportgespräch beginnt. Und sie vermittelt auch die Bekanntschaft der Reisegefährten, wobei die Namen genannt werden.
„Olshagen?“ fragt Marion. „Etwa aus Berlin-Grunewald?“ Sie ist leicht verdutzt und lächelt dann. „Oh, ich entsinne mich ... Nein, ist das drollig!“ Und als die Wirtin ins Büro abgerufen wird, erzählt sie ihm eine kleine Begegnung, die sie vor ein paar Tagen mit einer reizenden jungen Dame aus Stettin gehabt hat.
Bernt hat noch immer die knabenhafte Angewohnheit, zu erröten, wenn er in Verlegenheit gerät. Marion bemerkt es und lacht herzlich. Sie hat ein wohliges, etwas rollendes Lachen. „Nein, Sie brauchen nichts von mir zu befürchten, Herr Olshagen, ich bin verschwiegen wie ein Kalifengrab. Und jedenfalls — haben Sie keinen schlechten Geschmack bewiesen.“
„Ich bin völlig entwaffnet. Aber nachdem sich’s nun einmal so getroffen hat, gnädige Frau, müssen Sie schon ein übriges tun und mir den Besuch der jungen Dame etwas eingehender schildern. Ich war nämlich doch stark überrascht von dem Anruf.“
Sie setzt sich auf einen kleinen Schaukelstuhl am Backsteinkamin, wippt ein wenig und blickt lustig zu ihm auf. „Paula ist so nett! Nein, ist sie nicht?“
Nun lacht er auch. „Paula ist eine rechte kleine Provinzialin. Bei ihrem ersten Schritt aufs Berliner Pflaster blamiert sie mich in so haarsträubender Weise.“
„Vor wem? Vor mir doch nicht? Ach, Herr Olshagen, wenn eins sich blamiert hat, dann bin ich’s. Ich war der Tolpatsch, ganz allein ich. Jetzt tut mir’s tatsächlich leid. Aber diese Wohnungsgeschichte hat mir natürlich schon viel Kopfzerbrechen gemacht. Ich hab’ es nun meiner Jungfer überlassen, mit einem der Bewerber abzuschliessen. Es ist Verlass auf ihr Urteil. Aber vielleicht wird es doch ein Reinfall. Und Paula wäre so glücklich gewesen ... Nein, aber nun kein Wort mehr davon ... Übrigens hat mir die Art, wie Sie mich am Telephon abblitzen liessen, doch sehr gefallen.“
„Ich hoffe, dass ich nicht unhöflich war.“
„Durchaus nicht. Korrekt waren Sie. Diplomat in jeder Silbe. Sind Sie’s von Beruf, Herr Olshagen?“
„Nein, ich bin Geschäftsmann. Sehr gehetzt, muss ich wohl sagen. Es hat sich gerade in den letzten Tagen viel zusammengedrängt. Da wird man nervös, vielleicht auch ungerecht.“
„Sehen Sie, nun tut’s Ihnen doch leid, dass Sie Paula so lieblos behandelt haben ... Nein, nein, nein, ich fange nicht mehr davon an.“ Sie steht auf und nickt ihm zu. „Jetzt muss ich Kräfte sammeln für morgen früh. Um zehn Uhr meine erste Skilektion. Sicher werde ich mich wie der dumme August im Zirkus anstellen. Und dann ist die Reihe zu lachen an Ihnen.“
„Ich hoffe das Schlimmste — um mich rächen zu können.“
Amüsiert von dem kleinen Geplänkel trennen sie sich.
Bernt geht noch einmal ins Empfangsbüro und liest ihren Namen. Frau v. Dette-Dubois. Er hat sie unterwegs fliessend Französisch sprechen hören. Aber Ausländerin ist sie nicht. Ihr Gepäck ist umfangreich, alles sehr gediegen, mit den Hotelzetteln erster Fremdenstationen bekleistert. Ihre Toilette ist kostbar, alles verrät Geschmack, besonders künstlerisch ist der wenige Schmuck, den sie trägt.
Sie hat der Empfangsdame erklärt, dass sie sich für länger als fünf Tage nicht binden möchte. Vielleicht führe sie gleich zum Genfer See hinunter, wenn sie dem Skisport keinen Geschmack abgewinnen könne. Zunächst wartet sie aber ihre Jungfer hier ab.
Es wäre schade, wenn er die nette Gesellschaft gleich wieder verlieren sollte.
*
Aber keine Sorge, er verliert sie nicht.
Am ersten Morgen ist Marion der Mittelpunkt des Interesses auf dem ganzen Übfeld. Sie steckt in einem praktischen Sportkostüm, in dem sie wie ein schlanker Junge von sechzehn Jahren wirkt. Die Sportmütze steckt sie bald in die Tasche. Auf ihren blonden Scheitel scheint die Sonne. In wenigen Stunden ist ihr Gesicht, ihr Hals rotgebrannt. Sie entwickelt einen fabelhaften Eifer. Niemand will glauben, dass dies ihre erste Lektion sei. Jedenfalls ist sie sehr begabt für den Sport. Bernt übt sich zuerst ein bisschen ein, unternimmt ein paar Aufstiege auf die nächsten Abhänge, fällt, wälzt sich im Schnee und kommt dann dampfend und gut gelaunt die Strasse durch den Wald vom Känzli abgefahren, die Stöcke schwingend. Schon von weitem erkennt er den blonden Etonkopf seiner Reisegefährtin.
„Skiheil!“ grüsst er. „Skiheil!“ gibt sie zurück. „Oh, Herr Olshausen, ich bin nun schon dreimal den Übhügel abgefahren, ohne zu purzeln. Ich bin mächtig stolz. Aber ich glühe auch schon wie ein Backofen.“
Der Berner Lehrer lobt sie sehr. Nur der Schnee sei schon so arg weich. Die Luft sei auch föhnig. Wahrscheinlich gebe es einen Umschlag.
„Tauwetter?“ fragt Bernt entsetzt.
„Aus Spiez und Thun und Frutigen wird schon Regen gemeldet heute vormittag.“
„Wehe Ihnen!“ droht Bernt. Besorgt hält er Umschau. Ein Wolkenkranz lagert am Horizont. Von den Dächern der Heuschober tropft es. Die Sonne schmort den Schnee.
„Heute nachmittag muss es noch halten,“ sagt Marion, „das ist das Berner Oberland mir schuldig.“ Eifrig nimmt sie ihre Übungen wieder auf, Bernt leistet ihr Gesellschaft.
Immer weicher wird der Schnee. Die Hotelgäste ziehen ermüdet ab, ein Trupp nach dem andern. Da und dort hört man auch schon den Gong zum Lunch rufen. Aber Marion übt noch immer weiter. Bernt bewundert ihre Ausdauer. Er ist schon etwas erschöpft und setzt sich auf seinen Ski in die Hocke. Endlich hat auch sie genug. Sie verabschiedet ihren Lehrer und kommt zu Bernt, seinem Beispiel folgend. Aber da sie die Ski nicht ganz horizontal ausgerichtet hat, gerät sie ins Rutschen. Er will ihr helfen, doch das duldet sie nicht, weil es nicht sportgemäss sei. Sie zwingt es dann auch.
„Fabelhaft selbständig!“ erkennt er an.
Nun sitzt sie in der Bratsonne nahe bei ihm. Das ganze Schneefeld ist leer geworden. Aus dem Dorf klingt das Juchzen der Kinder, die an dem Abhang eine waghalsige Kurvenbahn für ihre Rodel ausprobieren. Die Luft ist so warm geworden, dass man beim Sprechen nur noch ganz kleine Atemfähnchen sieht.
„Ich muss ja auch selbständig sein,“ sagt sie, „in allem. Hab’s nur leider viel zu spät gelernt. Wie alle Frauen. Ich sagte es Ihnen wohl noch nicht: ich kämpfe jetzt schon seit einem Jahr um meine Freiheit.“
„Oh — ein Scheidungsprozess?“ fragt er, unwillkürlich die Stimme etwas senkend, obwohl sie hier ganz allein sind.
Sie hat ihre Schienbeine mit den Armen umklammert, stützt das Kinn auf die Knie und blickt über das weite Tal hin. „Viel durchgemacht hab’ ich. Ich hab’ Zeiten erlebt — na, ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal selig wie ein Kind in der Sonne sitzen und mich so meines Daseins freuen würde.“
„Das tun Sie also jetzt?“
Sie nickt heftig. „Die Aussicht, frei zu werden. Endlich, endlich. Und sein Leben neu geschenkt in der eigenen Hand haben. Ach, und es dann festhalten für immer, nie mehr, nie mehr abhängig werden. Ihr Männer wisst ja gar nicht, wie gut ihr’s habt. Ihr könnt euch eine nette kleine Paula nehmen, für ein fröhliches Weilchen, und sie dann wieder in die Ecke stellen, wenn’s euch nicht mehr passt. Für uns Frauen aber ist es gleich Schicksal.“
„Für alle?“
Sie zuckt die Achseln. „Vielleicht für Paula nicht. Aber das Risiko einer Ehe ist doch viel gefährlicher für uns als für euch. Am gefährlichsten das einer Liebe. Es kann die Vernichtung bringen.“
„Also haben Sie Ihren Mann sehr geliebt?“
„Sehr.“
„Lieben ihn noch?“
„Ich weiss nicht. Er ist nicht etwa ein Bösewicht. Nein, nein. Ein Taugenichts vielleicht. Aber man möchte doch immer noch die Hand über ihn halten, damit er sich nicht ganz verliert.“
„Das ist ein schwerer Konflikt.“
„Aber er panzert einen gegen neue Gefahren, und das ist gut so.“
„Neue Gefahren?“
„Nun ja, wenn man noch ein bissel jung ist.“ Sie lacht fast trotzig vor sich hin. „Man könnte ja vielleicht das Unglück haben, sich noch einmal zu verlieben. Aber inzwischen ist man dann gottlob so weise geworden, so abgeklärt ... Unsinn, ich will jetzt meinen Lunch haben, den habe ich mir redlich verdient, und es ist grausam von Ihnen, Herr Olshagen, mich in so abgrundtiefe Gespräche zu verwickeln, über die man sein Schweizer Pensionsfrühstück vergisst!“ Sie ist wieder frisch und lebhaft, richtet sich mit Hilfe der Stöcke auf, und gemeinsam schlurfen sie dann durch den weichen Schnee der triefenden Dorfstrasse dem Hotel zu.