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Diese Frau ist ihm ein Erlebnis.

Es ist nicht der landläufige Flirt, der sie zusammenbringt. Darüber ist Marion hoch erhaben. Aber sie freut sich über die Sportkameradschaft, die er ihr widmet. Da die Sonne den Schnee hier im weiten Talkessel unheimlich schnell zur Schmelze bringt, muss man zwei-, dreihundert Meter höher steigen, auf die Berglehnen, die gegen die Südsonne geschützt sind. Das werden strapazenreiche Aufstiege für eine Anfängerin wie Marion. Bernts Begleitung gibt ihr Sicherheit. Zweimal bleiben sie den ganzen Tag unterwegs und machen eine köstliche Mittagsrast in einer für Wintersportgäste geöffneten Alpenwirtschaft. Man liegt auf Liegestühlen in der Sonne, in wollene Decken verpackt, die man bald wieder wegstrampelt, pafft Zigarettenwölkchen in die stille Luft, trinkt guten Kaffee und plaudert.

Schade, heute abend trifft Marions Jungfer ein, die den komischen Namen Hansi führt. Dann werden sie nicht mehr so viel allein sein können. Marion erzählt offenherzig aus ihrem Leben. Es ist sehr bunt und wechselreich gewesen. Sie stammt aus Strassburg. Ihr Vater war der bekannte Kunsthistoriker an der Universität. Sie hat als blutjunges Ding die Goldschmiedekunst erlernt, als richtiger Lehrling, war auch ein paar Semester auf der Kunstgewerbeschule in München und hat dann eine Werkstätte in Zürich eingerichtet, die sehr rasch gute Aufträge bekam: die Firma Dubois & Hasse. Ihr Kompagnon Hasse, ein junger Architekt (er ist im letzten Jahr bei dem Drahtseilbahnunglück ums Leben gekommen), war der Geldgeber, denn das Vermögen ihrer Eltern war damals durch die Inflation kläglich zusammengeschrumpft. Auch nach ihrer Verheiratung ist sie noch immer für die Werkstatt tätig gewesen. Sie kann nicht ohne Arbeit leben. Und neue Entwürfe machen ihr Freude. Das Geschäft ist jetzt freilich nicht mehr so lukrativ wie früher, weil der Geschmack schlechter geworden ist und die reichen Leute von heute lieber protzig gefasste Brillanten als künstlerisch verarbeitete Halbedelsteine kaufen. Aber die Einnahmen haben sie doch noch immer über Wasser gehalten. Sie hat ja auch ihren Mann damit durchbringen müssen. Das ist jetzt gerade die grosse Schwierigkeit: bei der Scheidung auch diese Lösung durchzusetzen. In der ersten Verliebtheit hat sie leichtsinnigerweise ihren damaligen Bräutigam als stillen Teilhaber eingesetzt. Hasse war ausser sich gewesen. Natürlich nicht nur aus geschäftlichen Gründen. „Ich taumelte damals hin und her, wusste selbst nicht Bescheid über mich und war sehr unglücklich. Hasse hat ein Semester lang in München die Studentenbude mit mir geteilt. Da haben wir uns viel gezankt.“

„Nicht geliebt?“ wirft er ein, aufgestachelt, von ihrer entwaffnenden Offenheit immer wieder fast erschreckt.

„Auch geliebt. Gewiss. Was man so Liebe nennt, wenn die Frauensinne noch nicht eigentlich erwacht sind. Er hatte dann Glück mit seinem Hochhaus-Entwurf für St. Louis und reiste nach Amerika. Ich sollte Nachkommen. Aber da geriet Fritz in meine Lebensbahn, und nun war ich nicht mehr Herrin meines Willens. Wir kannten uns schon als Kinder. In Strassburg, ich war ein Backfisch, himmelte ich ihn immer wieder an, wenn er als Kadett auf Ferien kam. Wir Backfische schwärmten alle für ihn. Die ganze II und III der Höheren Mädchenschule. Ein wunderhübscher, frecher Bengel war er. Als Offizier hat er wohl nicht allzuviel getaugt. Er ist erst siebzehn ins Feld gekommen. Beim Zusammenbruch hat er dumme Geschickten gemacht. Von all dem erfuhr ich erst später. Als er im November achtzehn nach München kam, traf ich ihn. Ich war gleich wieder ebenso verschossen in ihn wie als Backfisch. Gelernt hatte er nichts. Er ist in allem der kleine Kadett geblieben. Ich nahm ihn nach Zürich ins Geschäft. Die Arbeit passte ihm ja nicht, aber er hatte immer Ideen für Neugründungen. In meinen Augen war damals alles herrlich, was er sagte und was er tat. Ich glaube, ich war noch eitler auf ihn, als er selbst es war. Ja, es ist verrückt, was in so einem Mädchenherzen herumtoben kann. Er ist ja auch heute noch der Beau, nach dem sie alle gucken. Seine schlanken, schönmanikürten, aristokratischen Hände, die nicht tätig sein können, weil sie eben viel zu vornehm dazu sind. Besonders hübsch sieht er zu Pferde aus. Sport versteht er. Eine Zeitlang war er Eintänzer auf Tanzdielen. Hatte er Geld, dann kümmerte er sich nicht um mich. Ging’s ihm schlecht, dann kam er an. Und ich war sofort wieder bezaubert.“

„Und damals haben Sie ihn geheiratet?“

„Ich glaubte damals, ich müsste ihn heiraten, auf jeden Fall, es war teils Furcht, teils Hoffnung. Er war auch gleich bereit. Wir sind aufs Standesamt gegangen, nach Berlin gezogen — das Kind kam nicht lebend zur Welt —, und er war eine Zeitlang der denkbar beste, liebste, zarteste Ehemann. Er half mir oft durch seinen gewählten Geschmack, sein sicheres Urteil. Und er besorgte den geschäftlichen Verkehr mit Zürich. Das erforderte Gerissenheit damals. Und war viel wert. Denn von den Schweizer Franken konnte man eine Weile fürstlich leben.“

„Sonst tat er nichts?“

„Agenturgeschäfte da und dort. Pferdeverkäufe. Immer ist er auf dem Sprung, ein ganz grosses Geschäft abzuschliessen. Er hat manchmal fabelhafte Erfolge gehabt. Auch Spielerglück hat ihm oft geholfen. Da halfen ihm denn auch natürlich leichte Weiberchen, den Gewinn zu verzehren. Schliesslich musste ich einen Entschluss fassen. Wie mich’s durchgerüttelt hat, den Mut und die Stärke aufzubringen, um mich von ihm zu trennen ... Der Prozess war furchtbar, in allen einzelnen Stadien. Und ich will und muss jetzt von Berlin fort, denn solange er mich so bequem erreichen kann, hofft er noch immer.“

„Er hofft — auf Ihr Mitleid?“

„Ja. Und baut auf seinen Scharm.“

„Hm. Ist also noch immer unwiderstehlich?“

Sie hebt die Schultern und lässt sie mutlos sinken. „Manchmal könnte ich mich darum hassen. Ich bin wirklich nicht eingebildet, kenne meine Fehler ganz genau, aber ich weiss doch, dass ich wertvoller bin als er und zu schade für ihn. Das sage ich mir immer wieder vor, um den letzten Rest von Mitleid aus dem Herzen herauszureissen. Aber ich fürchte mich doch recht vor der Zukunft.“

Er liegt längst nicht mehr auf seinem Liegestuhl, sondern sitzt bei ihr, nahe bei ihr, in wirklicher Ergriffenheit, und nimmt nun ihre beiden Hände und drückt sie sanft. Es ist etwas rührend Kameradschaftliches in dieser Geste. Sie schliesst die Augen. Langsam rinnt eine Träne über ihre braungebrannte Wange.

„Sie sind viel zu jung, Frau Marion, als dass Sie in diesem Kampf nicht Siegerin bleiben sollten“, sagt er dann, indem er sich erhebt und über die sonnige Alm blickt.

Die vertrauliche Anrede ist ihm unwillkürlich über die Lippen gekommen. Er bereut sie fast, da sich nun sogleich ein trotziges, fast bitteres Lächeln auf ihrem Antlitz zeigt. „Sagen Sie nur ja nicht, Herr Bernt Olshagen: Ihre goldene Jugend, meine teure Frau Marion, wird Ihnen ja bald eine neue Liebe bescheren. Grässlich kitschig wäre das. Und ich hasse alles Pastorale. Denken Sie denn, ich würde noch einmal im Leben für Ehe oder Liebe zu haben sein? Oder gar für eine so überflüssige Liebelei wie die mit Hasse? Sich nehmen lassen wie einen Bonbon? Nein, ich habe alle Dummheiten, die man machen kann, endgültig hinter mir. Gott sei Dank. Amouren können mir kein Unglück mehr bringen. Und auch kein Glück.“

„Ich glaube, ich sprach gar nicht von Liebeserlebnissen. Aber, mein Gott, das Leben liegt vor Ihnen doch noch so gross und weit da, dass dieser Kummer, diese Verzweiflung, diese Not von heute Ihnen später einmal ganz winzig erscheinen wird.“

„Ja, freilich, ein grosses Schicksal kann einen überrennen.“

„Eben.“

Der Schatten des kegelförmigen Hütli hat den sonnigen Almplatz erreicht und frisst sich weiter und weiter. Nun liegt schon die Bank, auf der das Kaffeegeschirr steht, im kalten Tiefblau. „Aufstehen, aufstehen!“ ermuntert sich Marion. Aber sie verzieht lachend das Gesicht dabei, denn der ganze Körper tut ihr weh. Sie ist heute wohl ein dutzendmal gefallen, und die Schneedecke liegt nur noch dünn über den Baumwurzeln. Zum Heimweg wollen sie frei über den Abhang abfahren, nicht die holprige Schurre an der Waldgrenze nehmen. Es ist für Marion ein neues, gewagtes kleines Abenteuer. „Morgen hat ja doch die ganze Schneeherrlichkeit ein Ende. Es ist sehr schade. Wahrscheinlich lasse ich Hansi gleich noch heute abend die Koffer packen.“

„Um nach dem Genfer See zu fahren? Fahnenflüchtig werden, so schnell? Das wäre schlechte Kameradschaft, Frau Marion.“

„Ich kann Ihnen doch nicht zumuten, mitzukommen, lieber Freund. Jetzt, wo Sie in die Abgründe meines Lebens so tiefe Einblicke getan haben. — Nein, nein, es ist viel besser, wir verleben unsere Rekonvaleszenzen allein, ein jedes für sich. Sie können mich von Fritz nicht ganz gesund machen, und ich kann Sie von Paula nicht heilen.“

„Das haben Sie nun schon gründlich besorgt, Frau Marion.“

„Wirklich?“ Sie hockt im Schnee und bindet ihre Ski fest. „Aber bilden Sie sich nur ja nicht ein, dass ich Ihnen nun auch gleich Ersatz bieten würde.“

„Ganz so vermessen ist meine Phantasie nun doch nicht.“

„Wollen wir einen Pakt schliessen, Herr Bernt Olshagen? Kameradschaft, ja sogar Freundschaft, gut. Aber sobald Sie merken, Sie verlieben sich in mich, dann schicken Sie mir einen netten Blumengruss zum Abschied und türmen.“

„Hm. Die Möglichkeit, dass umgekehrt Sie sich in mich verlieben können, wird gar nicht erst erwogen, Frau Marion?“

Eine Weile blickt sie ihn voll an. Ihre Augen haben allen Spott verloren. Es ist auch um ihren Mund ein weicherer Zug. „Eine Frau wie ich verliebt sich nicht mehr. Ich sagte Ihnen ja: mein grosses Unglück hat mich gegen kleinere Unfälle gefeit. Aber herzlich gut könnte ich Ihnen wohl werden, Bernt Olshagen. Sie sind ein seelisch sauberer Mensch. Trotz Paula und trotz — na, gewiss haben Sie doch noch manch andere Dummheit auf dem Gewissen. Aber gerade weil ich Sie in den paar Tagen schätzen gelernt habe, soll ein guter Klang zwischen uns bleiben. Keine törichte Verliebtheit, deren man sich hinterher schämen müsste. Handschlag. Bitte. Und Pupille. Ach, Sie sehen mich ja gar nicht an.“

„Würden Sie mich missverstehen, wenn ich Sie trotz allem bitte: lassen Sie mich mitkommen nach dem Genfer See?“

Sie nimmt seine beiden Hände und hebt ihr Gesicht zu ihm empor. Fast flehend sieht sie ihm in die Augen. „Aber bitte: nicht einander quälen!“ Ihre Stimme schwankt ein wenig.

Er muss schlucken, indem er ihr’s verspricht. Die Kehle ist ihm trocken und eng geworden. Glut erfüllt ihn, Glut.

Der Platz liegt jetzt in tiefem Schatten. Höchste Zeit, im Schnee abzufahren. Er sucht die geeignete Stelle aus und macht ihr’s vor. Sie fällt oft, die Tour wird noch eine anstrengende Strapaze für sie. Die letzte Strecke im Tal zeigt sich besonders eklig, denn mit Sonnenuntergang ist leichter Frost eingetreten. Auf der Kammstrasse liegt Glatteis. Aber beider Stimmung ist gut. Etwas Junges ist in sie gefahren. Dampfend kommen sie im Hotel an. Die Sterne funkeln schon am blauschwarzen Samthimmel.

Und da ist nun Hansi, die sehr gewandte Jungfer, und betreut ihre Herrin auf Schritt und Tritt. Schade. Man rückt dadurch wieder ein Stückchen voneinander ab.

*

Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag regnet’s. Die Dorfstrasse schwimmt. Die bekannten ältesten Leute können sich einer so schauderhaften Saison nicht entsinnen. Aber die jüngeren Hotelgäste nehmen das Wetterpech nicht allzu tragisch. Die Nachmittage gehören jetzt dem Teetanz, und für die Abende werden die grössten Überraschungen vorbereitet. Heute hier ein Maskenball, morgen drüben in der Bernina ein spanisches Fest, überall die Tanzbar mit Konfettiwerfen, mit Gasballons, Puppen, Fächern, Kastagnetten, Papierhüten, seidenen Manteaus ... Und die Spielbank wird eröffnet, das Pferdchenspiel ... Das Hotelleben ist jetzt plötzlich viel lustiger geworden, die Abende dehnen sich bis in den Morgen, weil man vom Sport nicht ermüdet ist, die Gesellschaft schliesst sich zusammen, der Flirt lebt auf ...

Manche Naturfexe machen trotz Schneematsch und Regen meilenweite Spaziermärsche in die Umgegend. Man sinkt freilich auf den verschiedenen Strassen bis über die Knöchel ein. Marion trägt für dieses Sudelwetter die hellgelben Rohrstiefel, die fast bis in die Kniekehle reichen.

Der Hoteldiener hat schwere Arbeit, in das feine Leder dann wieder Grund zu bringen.

Die Wetterberichte am Schwarzen Brett des Kurvereins und der Poststation werden studiert. Man telephoniert mit Montreux, mit Lugano, mit dem Oberengadin. Eine Dame aus dem Grand Hôtel hat mit ihrem Sohn gesprochen, der im Erziehungsinstitut in Zuoz untergebracht ist. Dort oben haben sie noch immer den köstlichsten Wintersport: viel Schnee auf den Abhängen, bei Tag Sonne, bei Nacht Frost, seit Wochen schon, ohne jede Störung.

Aber Marion hat keine Freude mehr am Winter. Sie hat sich die warmen Sportanzüge übergetragen. Es lockt sie, ihre hübschen, duftigen, hellen Frühjahrskostüme auszupacken. Auf dem Quai von Montreux, heisst es, gehen die Damen jetzt mittags schon ganz sommerlich.

Also auf zum Genfer See!

Marion hat es leichter als Bernt, ihre Adresse zu verändern. Ihre Post ist nie umfangreich. Nur mit der Züricher Firma, Dubois & Hasse, steht sie in regelmässigem Briefverkehr. Aber Bernt muss Berlin benachrichtigen, Heinersbach, Stettin. Und die Berichte von Zuhause müssen umgeleitet werden. Ein halber Tag vergeht damit, auf dem Postbüro die telephonischen Anschlüsse abzuwarten.

Die Hausdame ist am Fernsprecher im Grunewald so voller Eifer, alle ihre Beschwerden auf einmal vorzubringen, dass sie sich kaum verständlich machen kann. Ihre ganze Art ist ihm längst unausstehlich. Dann kommen die Kinder an den Apparat. Sibyllens helle Stimme trägt sehr gut, der Kinderbass von Klaus gelangt nur als matt kitzelndes Geräusch hierher. Sie sind beide gesund, gottlob, und freuen sich darüber, dass Tante Adi in ihrem Auto wieder abgefahren ist. Über die Hausdame schweigen sie, denn sie steht neben ihnen.

„Das ist nun die fünfte Hausdame, seitdem ich Witwer bin“, sagt er hernach zu Marion. „Ich hatte eine ehemalige Lehrerin, eine verwitwete Exzellenz, eine Bürgermeisterstochter, eine Pfarrerswitwe und jetzt eine frühere Pensionsinhaberin. Ob sie zwanzig sind oder fünfzig, hübsch oder garstig, temperamentvoll oder abgeklärt: heiraten wollen sie mich alle. Rettungslos. Es ist zum Verzweifeln.“

„Es wird Ihnen letzten Endes auch nichts anderes übrigbleiben, lieber Freund. Wenn wir erst wieder in Berlin sind, dann helfe ich Ihnen mitsuchen und auswählen.“

„Unterstehen Sie sich.“

„Sie werden’s gar nicht merken.“

„Glauben Sie, ich bin so leicht zu verführen? Ich denke, ich habe mich die vier Jahre hindurch tapfer genug gewehrt.“

„Kunststück, wo Paula Ihnen so liebereich über alle Anfechtungen hinweggeholfen hat. Oder wollte auch die gute Paula letzten Endes von Ihnen geheiratet sein?“

„Wer kann in diese schwarzen Frauenherzen hineinsehen.“

„Ich traue allen Frauen das Schwärzeste zu.“

Er spricht mit ihr über viele Dinge, die er bisher nur immer ganz allein hat durchdenken müssen. Es sind darunter auch richtige Hausfrauensorgen. Gegen die Hausdame, die jetzt in der Herbertstrasse das Heft in der Hand hat, muss er einen steten Kampf führen, weil sie in ihren Ansichten über Ernährung, Kleidung und sportliche Betätigung der Kinder ganz unglaublich rückständig ist: für dick einmummeln, in Wolle verpacken, viel Fleischnahrung und so weiter — und die Kinder bleiben dabei überzart, ewig anfällig. Er ist ja leider nur so wenig in Berlin. Wenn er ein paar Tage mit den Kindern zusammen sein kann und er sie schon frühmorgens in den Dachgarten heraufpfeift, um mit ihnen zu turnen, auch ein bisschen zu toben, dann kommen sie immer fröhlich angerannt und sind gleich wie ausgewechselt.

Marion kann zuweilen auch ganz bürgerlich sein und herzlich teilnehmen an solchen häuslichen Sorgen. Ihr Element ist das freilich nicht. Sie spottet lieber, reizt Widerspruch heraus. So ist’s auch im Fall der Zwillingsfamilie. Bernt hat einen glückstrahlenden Brief von der kleinen Mie bekommen. Die Firma Droeseke & Co. hat ihr noch für ein halbes Jahr das Gehalt ihres verstorbenen Bruders ausbezahlt. Nun kann sie also ihre beiden Nichten in Büsum unterbringen. Bernt möchte das junge Ding am liebsten ins Haus nehmen. Als junge Tante für die Kinder, gleichviel; wenn irgend jemand, so ist die kleine Mie in so einer Vertrauensstellung denkbar. Marion lächelt natürlich wieder ihr spöttischstes Lächeln. „Sie wird Sie genau so rettungslos heiraten wollen wie die andern, lieber Freund.“

Das streitet er ihr energisch ab. „Sie ist ja noch ein halbes Kind, trotz ihrer einundzwanzig Jahre.“

„Wetten wir?“

Er muss herzlich lachen. „Der Versuch ist nicht weiter gefährlich.“

Am Nachmittag, mitten im Packen, fällt ihm der kleine Disput wieder ein. Er stellt sich die kleine Mir als Hausmütterchen in der Herbertstrasse vor. Sie wird schon aus Heller Dankbarkeit seinen Anordnungen folgen. Repräsentieren kann sie nicht, braucht sie auch nicht. Ist die jetzige Hausdame etwa eine würdige Repräsentantin? Er wird die Hausdame entlassen und zum Ersten die kleine Mie engagieren.

„Da macht wieder einmal einer einen dummen Streich!“ zitiert Marion, als er ihr berichtet, dass er den Brief abgeschickt hat.

„Was haben Sie nur gegen das arme kleine Ding?“

„Das will ich Ihnen sagen: Sie sind immer so gerührt, wenn Sie von der schrecklichen Zwillingsfamilie erzählen. Und ich hasse Sentimentalitäten fast ebensosehr wie jeden Armeleutgeruch.“

„Von beiden werden Sie wohl nichts merken, Frau Marion, wenn Sie meinem Haus die Ehre Ihres Besuchs geben.“

„Hab’ ich Ihnen das etwa schon versprochen?“

„Ich will doch meine Wette gewinnen. Sie müssen sich davon überzeugen, dass die kleine Mie die erste ist, die keine schwarzen Heiratsabsichten hat.“

„Um was wetten wir eigentlich?“

„Überlegen Sie. Ich halte jeden Einsatz.“

Dann sitzen sie wieder im Postauto und fahren durch Regen und Schneematsch nach Frutigen hinunter. Die Reise nach Montreux ist umständlich, aber in ihrem letzten Teil sehr lohnend. Der Himmel wird von Stunde zu Stunde lichter. Hinter Gstaad bricht die Sonne durch. Als sie von Caux aus zum See hinunterfahren, liegt das Rundbild im Zauber eines unvergleichlich schönen Sonnenuntergangs vor ihnen. Die Schneegruppe der Dent du Midi jenseits des Sees hält die Glut, nachdem die Sonne im westlichen Seezipfel hinter Genf hinabgesunken ist, noch lange fest. Von Gold geht das Farbenspiel der vielgezackten Wand in Purpur und Violett über.

Sie sitzen am Fenster, schweigend, vertieft in den Anblick. Unwillkürlich haben sie einander die Hand gegeben. „Oh, Hochzeitsreisende!“ sagt ein älterer Herr, der in Les Avants die Wagentür öffnet, und zuckt diskret zurück.

Nun fahren sie beide auseinander. „So halten Sie Ihr feierliches Gelübde?“ sagt Marion in gespielter Entrüstung. „Sie kompromittieren mich ja.“

„Hab’ ich etwa gelobt, das zu vermeiden? Ich habe mich bloss verpflichtet, mich nicht in Sie zu verlieben.“

„Es scheint Ihnen bei malerischen Sonnenuntergängen schwer zu werden. Ich werde ein andermal Vorsorge treffen müssen. Wo steckt auch nur wieder Hansi? Ist sie etwa schon im Komplott mit Ihnen?“

*

Im Kurhotel bekommen sie Zimmer auf demselben Flügel, aber in verschiedenen Etagen. Marion hat sich ein ganzes Etablissement genommen: Schlafzimmer mit Bad, Kammer für die Jungfer und Salon mit einer grossen Veranda, auf der man in der Sonne schmoren kann, wenn nicht gerade die „Bise“ weht.

Bernt kompromittiert sie nun tatsächlich in ganz unverantwortlicher Weise. Die Winterpensionäre, die jeden Kurgast genau kennen und alle Ankömmlinge haarscharf abtaxieren, sind sehr bald darüber unterrichtet, dass der Herr von Nr. 377 die meiste Zeit des Tages und des Abends der Dame von Nummer 173—175 widmet. Sie machen zusammen Ausflüge im Privatauto des Hotels oder zu Fuss, sie nehmen zusammen den Nachtischmokka auf der Veranda der Dame, sie besuchen die Tanztees in den verschiedenen Hotels, sie soupieren nicht im grossen Speisesaal, sondern im Wintergarten, kurz, sie sind unzertrennlich und kümmern sich um keinen fremden Menschen, der Herr ist abends zu Besuch im Salon von Nr. 173—175, wie lang, wie spät, das kann man ja nicht wissen, kurz, sie scheinen sehr glücklich miteinander zu sein, es ist ein Skandal ...

Aus der Kurliste erfährt man die Namen. Verschiedene Deutsche aus Industrie- und Handelskreisen kennen den Herrn auch persönlich. Aber er hat ihnen noch keine Gelegenheit gegeben, ihn anzusprechen. Ganz abwesend blickt er über sie hinweg, wenn er sich an der Seite der schönen jungen Frau befindet. Es ist Herr Bernt Olshagen von der Firma Droeseke & Co. Grosse Nummer im europäischen Waggonbau. Die Dame scheint eine Französin zu sein. Aus der Jungfer ist nicht allzuviel herauszubekommen; sie ist in Diskretion bereits geübt. Eine Züricherin will wissen, dass Mme. Dette-Dubois die Inhaberin des Juweliergeschäfts Dubois & Hasse sei. Eine Strassburgerin will sich ihrer aus ihrer Mädchenzeit entsinnen als der Tochter des Kunsthistorikers Dubois von der Universität. Eine rassige Person, ohne Frage. Verheiratet? Unvermählt? Witwe? Geschieden? Natürlich geschieden.

Vom Kurhaus flattert der Hotelklatsch lustig weiter. Man hat in diesen faulen Frühlingswochen am Genfer See ja so blutwenig anderes zu tun, als ein bisschen Menschenkunde zu treiben. Und es gibt tausend Kanäle, die das Geplätscher weiterleiten. So erreicht es auf irgendeinem Tausendmeilenweg schliesslich auch das Herrenhaus von Heinersbach in Schlesien.

Und die Freifrau von Tross kommt mit dem Brief einer Freundin, die sich in Beauregard in Montreux aufhält, aufgeregt zu Onkel Edu, dem Seniorchef, und berichtet triumphierend über den neuesten Exzess von Bernt Olshagen. Wahrscheinlich ist diese Person, mit der er sich da im Kurhotel unmöglich macht, niemand anders als jenes Fräulein Paula aus Stettin. Sein langjähriges Verhältnis, das nicht einmal richtig Deutsch sprechen kann. Die armen Kinder! In der Herbertstrasse geht dabei alles drunter und drüber. Sie hat aus der Nachbarschaft Dinge erfahren ... Aber natürlich verhindert man dort jede regelrechte Aufsicht. Und was wird aus dem Geschäft? Ist denn noch Verlass auf einen solchen Mann? Was sagen die anderen Direktoren dazu? Kann Bernt in Berlin einfach alles stehen und liegen lassen? Nun geht fein eigenmächtiger Urlaub schon in die dritte Woche. Da muss doch endlich mit energischer Hand eingegriffen werden. Etwa nicht?

Za, tatsächlich, es sind schon mehrere Stockungen eingetreten. Vor allem müsste jetzt der Abschluss mit den Rumänen getätigt werden. Alles ist längst vorbereitet, aber gewisse mündliche Vereinbarungen sind zu berücksichtigen ...

Bernt Olshagen erhält einen telephonischen Anruf um den andern. Aus Heinersbach und aus Berlin. Er ist nicht immer erreichbar. Da hagelt’s denn Telegramme. Das wichtigste und dringendste: Sonnabend ist die Konferenz der Europäischen Waggonzentrale — er soll den Vorsitz führen!

Nun erwacht er aus dem traumhaft schönen Schlendrian. Verstört, tiefe Falten auf der braunen Stirn, kommt er mit einem Packen von Depeschen in ihren Salon. „Ich soll heimreisen. Plötzlich gebärden sie sich alle, als sei meine Gegenwart dort unersetzlich.“

Sie kennt nun schon die ungeheure Macht, die sie über ihn ausüben kann.

Gerade waren sie im Begriff, das kleine Gepäck zur Dampfschifflände vorauszuschicken, um zu folgen, sobald das Schiff sichtbar wird. Der Ausflug nach Evian-les-Bains! Unbändig hat er sich darauf gefreut. Er ist taumelig gewesen in allerlei Erwartungen. Es ist nun wieder ein gottgeschenkter Frühlingstag heute. Der See tiefblau, der Himmel seidig, die Alpenriesen tragen Neuschnee, die gekreuzten weissen Fischersegel schweben vor leichtem Lenzwind auf dem Wasser, es riecht nach Narzissen und Veilchen, die Welt hier ist so jung und fröhlich ...

„Heimreisen. Es ist auch wirklich höchste Zeit, lieber Freund“, sagt sie und sieht ihn seltsam prüfend an. „Wann geht Ihr Zug? Ich glaube. Sie können den Frankfurter Express noch erreichen, wenn Sie sich sputen.“

„Ich habe nicht die Absicht, mich zu sputen. Papa Droesekes Unruhe teile ich nicht. Warum drängen Sie auch noch?“

„Ich dränge aus ernsten Gründen, die mir erst in dieser Minute so recht klar geworden sind.“

„Das Schicksal der Waggonfabrik macht Sie plötzlich so besorgt, Marion?“

„Nein, Bernt. Wichtigeres. Das meinige.“

Nun steht er in ihrem Salon an der offenen Verandatür, durch die das Sonnenlicht hereinflutet, dicht vor ihr und nimmt ihre Hände, vereinigt sie in den seinen und presst sie. „Marion, wir fahren nach Evian. Der heutige Tag gehört noch mir. Wenn ich morgen abreise, komme ich zur Konferenz noch immer zurecht.“

„Nein, ich will nicht mehr. Das war ein Ruf gerade zur rechten Stunde.“

Auf dem Liegestuhl ist das kleine Handgepäck aufgebaut. Nur zwei Köfferchen, die Handtasche und die Pelzjacke. Hansi soll nicht mitkommen nach Evian. Nach langen, langen Bitten hat er’s erreicht, dass sie den Ausflug allein mit ihm machen wird. Kein Wort darüber, wie und wo sie drüben übernachten werden. Aber aus matter Abwehr, matt scherzenden Unklarheiten, matten Drohungen hat er das nahende Glück herausgehört. Es schreit in ihm vor Verlangen, diese ganze Zeit des halben Gewährens und jähen Zurückweichens ist eine süsse Qual gewesen, die nun ihr Ende erreichen muss.

„Marion,“ sagt er schluckend, mit enger, trockener Kehle, „es ist schade um jeden Tag, um jede Stunde. Komm mit. Drüben sind wir frei. Hier lauern tausend Augen.“

„Vielleicht brauche ich die gerade. Bernt, Sie haben mir versprochen ... Nein, nein, diese Warnungen kommen gerade zurecht. Ich war ja auch schon im Begriff, mich ganz zu verlieren.“

Nun reisst er sie an sich, sucht ihren Mund. Aber sie wirft den Kopf zurück und wehrt sich.

Fernher, von Villeneuve, klingt das Glockenzeichen des Dampfers, der sich nach Territet in Bewegung setzt. In zwanzig Minuten ist er an der Lände von Montreur.

„Ich habe das Menschenmöglichste geleistet, Marion, um mein Versprechen zu halten. Du weisst nicht, was ich gelitten habe.“

Sie macht sich frei und eilt zur Verandatür. Mit den erhobenen Armen, in die sie das Gesicht presst, wirft sie sich an den Türpfosten. „Du sprichst nur von dir, Bernt. Mir war es vielleicht noch schwerer.“

„Marion —!“

„Was willst du aus mir machen?“ sagt sie fast tonlos. „So geht es doch nicht, so geht es doch nicht! Du darfst mich nicht herabwürdigen, Bernt! Ich bin nicht Paula!“

„Meine Frau bist du, Marion! Herrin, Königin, Göttin, was du willst!“

Plötzlich wirft sie sich herum und blickt ihn schweratmend an. Tonlos sagt sie: „Küsse mich, Bernt. Ich habe dich sehr, sehr lieb. Ich weiss das jetzt erst, wo ich dich verlieren soll.“

„Du sollst mich doch nicht verlieren, Marion —!“ Unter heissen, wilden, fast schmerzenden Küssen stammelt er’s. Hingegeben hängt sie in seinen Armen.

Katzengleich, auf leisen Sohlen, ist Hansi eingetreten und hat das Handgepäck vom Liegestuhl ausgenommen, um es dem draussen wartenden Etagenportier zu übergeben. Bernt hört und sieht nichts. Ein Sturm geht durch ihn, macht ihn atemlos, sein Herz klopft laut, keine Silbe kann er sprechen, sein Mund vermählt sich dem ihren, er fühlt ihren schlanken, weichen Körper, ihre Wärme, saugt ihren Duft ein.

Aber Marions immer wachen Sinnen entgeht auch in diesen Sekunden kein äusserer Vorgang. Sie hat gross die Augen aufgeschlagen, als Hansi das Gepäck aufnimmt, und sie tauscht einen kurzen Blick des Einverständnisses mit ihr, mitten in der Umarmung, mitten im Kuss, und ein Lächeln macht ihre Lippen noch weicher, noch gewährender.

Durch die Stille über dem Wasser ein neues Schiffszeichen. Und der Ruf des Bootsmanns: „Territet!“ Eine Wolke von aufgescheuchten Möwen huscht an der Veranda vorbei. Man hört ihr Kreischen erst, als sie schon hundert Meter weiter sind.

Wie aus einem fremden Leben kehrt Bernt in die Wirklichkeit zurück. „Komm, Marion, komm!“

Sie küsst ihn noch einmal. „Geh voran, Bernt“, flüstert sie. „An Bord treffen wir uns ... Oh, das Gepäck ist schon weg. Hansi muss es abgeholt haben ... Du, ob sie uns gesehen hat?“

„Du lässt mich nicht umsonst auf dich warten —? Marion! Bestimmt?!“

„Ja, ja, nein, nein, bestimmt. Du wilder Mensch! Du! Ach, ich hab’ ja solche Angst vor Evian!“

Sie wollen darüber beide lachen, aber wieder fliegen sie einander in die Arme und küssen sich, bis sie ins Taumeln geraten.

Wenige Minuten später verlässt Bernt das Hotel. Ein Page hat ihm die Handtasche abgenommen und folgt ihm damit auf dem Fusse zur Dampferstation.

Im Augenblick, als der „Rousseau“ am Quai anlegt, erscheint Marion in ihrem flotten fliederfarbenen Complet. Ihre Jungfer bringt den Pelz, der Etagenportier trägt die beiden Handkoffer, ein Page die Tasche, den Entoutcas und die Reisedecke.

Das Schauspiel einer Dampferlandung gilt hier immer als amüsante Unterbrechung des faulen Kurlebens. Auf den Hotelbalkons steht man einzeln und in Gruppen und beobachtet den Ab- und Zugang. Manche benutzen den Krimstecher dazu.

Marion weiss, dass sie wieder einmal den Mittelpunkt des Interesses bildet. Aber sie gibt auf dem Landungssteg ihrem Freund ganz freimütig die Hand und setzt sich mit ihm sogleich ans Heck des Schiffes, das in der vollen Sonne liegt, offen allen Blicken.

„Sie folgen uns nun, die tausend Augen, denen wir entfliehen wollten“, sagt sie und nickt einer flüchtigen Hotelbekannten zu, die ihr vom Quai aus mit dem grünseidenen Sonnenschirm nachwinkt.

„Ich sehe sie nicht. Ich sehe nur dich. Die Welt ist für mich versunken. Liebste, Liebste —!“

Im Hintergrund der schöne Fritz

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