Читать книгу Simonetta - Paul Ott - Страница 7
4
ОглавлениеMaria ist schon lange vor Tagesanbruch aufgestanden, um die quengelnde Simonetta mit langen Tuchbahnen für die bevorstehende Reise einzuwickeln. Durch sorgsames Tasten und Ziehen glättet sie alle Glieder des Mädchens, massiert mit zärtlichen Strichen Arme und Beine und beginnt dann mit dem rechten Unterarm, um den sie einen dünnen Streifen Leinen abwärts wickelt, fährt um die gestreckten Finger herum, dann wieder über den Unterarm und den Ellbogen hinauf bis zur Schulter, um schließlich dasselbe mit dem linken Arm und den beiden Beinen durchzuführen. Zwischen Knöchel und Knie legt sie ein Stück Wolle, um Druckstellen zu vermeiden, bevor sie mit einer breiten Stoffbahn den Rumpf einwickelt und letztlich die gesamte Simonetta verschnürt wie ein Mumie, so dass nur noch der Kopf sich bewegen kann. So wirkt sie wie ein kleines Paket, und Maria ist sicher, dass sie dank dieser Prozedur weder krumme Beine noch verrenkte Glieder bekommen und dass sie ruhiger liegen und besser schlafen werde auf der langen Reise.
An diesem schönen Märzmorgen im Jahr 1454 begleitet der Kapitän Francesco Spinola, wieder aus Genua zurückgekehrt, die Gesellschaft die steilen Treppenstufen zum Strand hinunter: Cattocchia, Simonetta in den Armen der Sklavin, die Hebamme und einige Bedienstete der befreundeten Familie, welche zwei Truhen voller Habseligkeiten mittragen. Dort werden sie von den Felsen auf ein schwankendes Ruderboot gehoben und zur bereits reisefertigen Galeere „Santa Maria“ gebracht.
Das beinahe fünfzig Meter lange und fünf Meter breite Schiff macht trotz seiner Eleganz, welche durch den Bugsporn noch unterstützt wird, einen kriegerischen Eindruck. Denn obgleich die Reise nur von Portovenere nach Genua führen und auch bei schlechten Bedingungen nicht länger als bis zum Abend dauern soll, sehen die Passagiere schon vom Ruderboot aus die Kriegsinstrumente auf dem Vorderdeck, grobschlächtige Wurfgeschosse und aufgebockte Armbrüste, gehütet von einer kleinen, aber schlagkräftigen Mannschaft, welche es mit den Piratenschiffen zwischen Korsika und Genua jederzeit aufnehmen würde.
Bei der Galeere angelangt, müssen sie über eine kleine Strickleiter zum Bug aufsteigen. Die über hundert Ruderer sind bereit, verwegen blickende Männer. Es sind Freiwillige, die sich für den Küstendienst verdingt und den Winter als Besatzung im Kastell verbracht haben, während auf den neuen, schweren Handelsgaleeren über längere Strecken hauptsächlich Sklaven und von den Gerichten Verurteilte eingesetzt werden.
An zwei beinahe zwanzig Meter hohen Masten hängen an noch längeren antennenartigen Querbäumen Dreieckssegel, welche jedoch im Hafen gerafft sind und erst auf dem freien Wasser gehievt werden. Der leichte Wind aus Süden würde die Ruderer unterstützen und dem Schiff willkommene Fahrt geben. Über den Mittelgang zwischen den Ruderern hindurch, welche verhaltene, aber unüberhörbare Kommentare zu ihren weiblichen Passagieren abgeben, erklimmen sie das Hinterdeck, wo sie der Kapitän an einen Tisch im Kastell bittet. Diese erhöhte Plattform ist durch ein reich verziertes Tuch gedeckt, um die Sonne abzuhalten, welcher die Männer an den Rudern den ganzen Tag erbarmungslos ausgesetzt sein werden.
Um die Gesellschaft herum begeben sich zwanzig Soldaten in Stellung, die mit ihren Schilden einen Schutzwall bilden. Cattocchias Onkel hat für alles gesorgt! Als sie zur Abfahrt bereit sind, erschallt ein Kommandoruf, die Ruderer stehen auf und greifen in einer eingeübten Bewegung gemeinsam in die Riemen, worauf die Galeere schnell Fahrt gewinnt und den Weg nach Genua in Angriff nimmt.
Nach der Umrundung des Kaps von Portovenere wird die See etwas rauer, aber das Schiff schiebt sich ohne merkliche Erschütterung in schöner Regelmäßigkeit über das leuchtend grüne Wasser hin. Die Eleganz der gleichläufigen Bewegung täuscht über die harte Arbeit der stehenden Ruderer hinweg, nur die im Licht glänzenden Schweißtropfen lassen erahnen, welche Anstrengung für die kostbare Fracht unternommen wird. In diesem Moment greift Francesco Spinola in einen Beutel und zieht ein rot getigertes Kätzchen heraus, das sich heftig und angstvoll wehrt, aber gegen die kräftige Hand keine Chance hat.
„Wir wollen dich Lucrezia taufen und dir etwas zu fressen geben, damit du groß und kräftig und eine erfolgreiche Jägerin wirst, welche die Mäuse und Ratten davon abhält, unsere Vorräte anzuknabbern“, sagt der Kapitän und schlägt das Kreuzzeichen über dem Tier, das von der ganzen Prozedur nichts begreift und, nachdem es der Hand entkommen ist, so schnell wie möglich in einer dunklen Ecke verschwindet.
Langsam gleitet die Galeere an den felsigen Abstürzen vorbei, zwischen denen sich dann und wann ein Flecken zeigt, eine Ansammlung ärmlicher Fischerhütten, meist aus Holz, Häuser, die in Genua immer mehr von festen Steinbauten verdrängt und wohl bald für immer aus dem Stadtbild verschwunden sein werden.
Die Reise führt entlang der Cinque Terre, fünf Dörfer, welche von den Felsen herunter nur durch steile Treppen zu erreichen sind: Riomaggiore, Manarola, Corniglia, Vernazza und Monterosso. Während der Böttcher, der Hüter des Wassers, regelmäßig seine Schiffsjungen schickt, um Gäste und Ruderer zu erfrischen, erläutert der Kapitän den Verlauf der Küste, welche Cattocchia zum ersten Mal von der Meeresseite her sieht.
Bei Lévanto gibt es endlich Platz für ein kleines Dorf, die Felsen lassen etwas Raum offen, bleiben jedoch in ihrer bedrohlichen Gestalt bis Genua vorherrschend. Der Weg über Land führt durch die Täler hinter der ersten Bergkuppe, er ist zwar umständlicher und langwieriger, jedoch ist normalerweise kein privater Transport auf Galeeren möglich, da diese vor allem während der Sommermonate sämtlich im Einsatz stehen zum Transport von Waren oder zum Schutz von Handelskonvois. Einzig der winterlichen Flaute haben es die Frauen zu verdanken, dass sie zu einer so bequemen und schnellen Fahrt gekommen sind.
Der Koch bereitet gegen Mittag mit einfachen Mitteln eine stärkende Mahlzeit zu, welche von den Ruderern eingenommen wird, indem jeweils einer aus der Reihe sich setzt und die beiden anderen weiterrudern, so dass keine Pause, kein Innehalten in der Vorwärtsbewegung entsteht.
Auf dem Kastell jedoch haben sie Zeit genug, um in Ruhe und begleitet von einem schweren Wein die Mahlzeit zu genießen. Zur Überraschung aller lässt Francesco Spinola eine kleine Truppe von Musikanten auftreten, fünf Spieler mit Einzelinstrumenten, eine Leier, eine Fiedel, eine einfache Flöte, Hand- und Schellentrommel, abwechslungsweise wird gesungen. Die Truppe ist einige Tage zuvor vom Karneval aus Florenz gekommen und hat die Gelegenheit wahrgenommen, mit nach Genua zu fahren. Sie unterhält die Gesellschaft mit Tanzmelodien und mit respektlosen Liedern, noch ganz versunken in die festliche Trunkenheit der vergangenen Saison.
So vergeht die Zeit sehr rasch, und nach dem Essen hat sich die Landschaft verändert, die steilen Felsen treten etwas zurück und weichen auf der Höhe von Sestri Sandbänken, welche dem gebirgigen Land vorgelagert sind. Francesco Spinola fühlt sich wohl in seiner Rolle und unterhält die Frauen mit Anekdoten aus der Geschichte ihrer Heimatstadt, von tollkühnen Seefahrern, die unbekannte Gegenden hinter den gewaltigen Sandwüsten entdeckt haben, Madeira, Kapverden, Senegal heißen die Orte mit dem verführerisch fremden Klang.
Aber es ist auch vom schmerzhaftesten Verlust zu berichten, den die Christenheit erlitten hat, vom Fall der Stadt Konstantinopel nach dem Angriff der Türken. Das oströmische Reich hat aufgehört zu bestehen, Cattocchia hat davon gehört, es ist aber im letzten Jahr geschehen, als sie ihre Schwangerschaft mehr in Anspruch genommen hat als politische Probleme. Der Kapitän will sich auch nicht über die möglichen Folgen dieser Niederlage äußern. Aber eines ist sicher: Die genuesischen Besitzungen in der Ägäis sind nun stark gefährdet, ebenso wie der Handel mit dem Osten und damit die Vermögen vieler alteingesessener Familien, welche in den Fernhandel investiert haben.
Die guten und die traurigen Nachrichten müssen mit Wein begossen werden, und immer wieder stößt die Gesellschaft an auf Simonetta und wünscht ihr eine prächtige Zukunft in dieser unsicheren Zeit. So erreichen die fröhlichen Leute schon früh am Abend ihre Heimatstadt, das stolze Genua, das schon von weitem im Licht der tief stehenden Spätwintersonne übers Meer hin leuchtet. Cattocchia ist vom Schmerz des Heimwehs überwältigt, sie preist die Stadt, die beherrscht wird von Geldverleihern und Kaufleuten, von der Bank San Giorgio, welche die Geschäfte der Gemeinde finanziert. In den steil abfallenden Berg hinein schmiegt sie sich, die sehr oft mehrstöckigen Häuser sind rundherum eingeschlossen von einer doppelten Mauer. Darüber liegen die Olivenwälder wie ein dritter schützender Ring.
Vom gewaltigen Kastell her fällt der Blick über einen weiteren Wald, diesmal von Wohntürmen, rosa in der Farbe der Ziegelsteine die einen, schwarz von grob behauenem Bossenmauerwerk die andern. Unter ihnen wogt die unübersichtliche Ansammlung grauer Schieferdächer. Die Stadt scheint ins Meer hinein zu fließen und fügt sich zu einem dritten Wald, dem der beweglichen Schiffsmasten im Hafen.
In dieser Ansammlung von vielleicht sechzigtausend Menschen wird Simonetta aufwachsen. Die Stadt verspricht gleichzeitig die bedrückende Enge der in Mauern und Bergflanke Eingesperrten und der gegen das Meer und andere Welten hin offenen Seelen. Diese doppelte Schwermut, die der inneren Sammlung und der Sehnsucht nach Weite, wird das Leben des Mädchens bestimmen.
Nachdem die Galeere mit der gebotenen Vorsicht um die eben fertig gestellte Mole herum gebogen ist, sieht Cattocchia den Hafen vor sich und hinter den Schiffen verdeckt die kleineren Molen und Landestege, an denen die Ladung aus aller Welt gelöscht wird. Seiden- und Baumwollstoffe aus dem Osten für den Westen, Woll- und Leinenstoffe, welche den umgekehrten Weg nehmen; Mastix und Alaun aus den Ostkolonien, Getreide von den Inseln und vom Festland, Gerste, Öl, Wein, gesalzener Thunfisch und schließlich Korallen für die heimische Industrie.
Sie fahren vorbei am Kai der Cattaneo, welcher so niedrig ist, dass er wie so oft bei hoher und stürmischer See und besonders jetzt im Frühjahr vom Wasser überspült wird. Dann kommen die Kais, welche ihre Namen von den Gütern haben, die auf ihnen entladen werden, der des Weins aus dem Westen, jener der Messerschmiede, dann derjenige der Hölzer oder Fischverkäufer, zuletzt der Zollkai. Auf der andern Hafenseite befinden sich die Anlegestelle der Calvi und letztlich die ursprüngliche Mole, an deren Landseite die Mühlen liegen, gegen die Seeseite zu die alten Schmelzöfen, die nun in Salzlagerhallen umgewandelt worden sind.
Sie jedoch steuern den eigenen Kai, jenen der Spinola an, wo sie bereits ungeduldig erwartet werden von den Hausangestellten, die sie mit süßem Gebäck empfangen. Cattocchia steigt als erste aus, etwas trunken von der Fahrt und auch vom Wein, den sie überreichlich und ungewohnt früh im Tag genossen hat. Nach ihr klettert die Hebamme vom Schiff, auch sie durchaus den leiblichen Genüssen zugetan, vor allem, wenn sie einen Tag jenseits der Konventionen auf dem Meer genießt. Schließlich erscheint die einzige Nüchterne, die Sklavin Maria, welche Simonetta sicher in ihre Heimatstadt bringt. Mit ziemlichem Lärm entsteigt auch der Kapitän der Galeere und überlässt die notwendigen Arbeiten seinem Steuermann, während er seine Nichte zu ihrem Wohnhaus begleitet.
Die ungezwungene Gesellschaft erweitert sich zum Zug durch die Innenstadt, nachdem allerorts bekannt geworden ist, dass die Cattocchia Cattaneo Spinola mit einer Tochter nach Hause gekommen sei. Die Stadt ist kaum wieder zu erkennen, so viel ist in den letzten Monaten gebaut worden. Es herrscht eine Zeit des Umbruchs, der neuen Mode wird Tribut gezollt. Die Paläste behalten zwar die himmelwärts strebenden schlanken Linien, die streng und unnahbar wirken, die Häuser werden jedoch vergrößert, indem sie mit eleganten Portalen aus dem schwarzen Marmor von Promontorio ausgestattet werden, geschmückt mit Medaillons der römischen Cäsaren. Übertrumpft werden sie von andern, welche den weißen Marmor aus Carrara verwenden und die Pfeiler mit verschlungenen Blättern und Blüten verzieren sowie in den Architraven mythologische Szenen ausführen lassen. Das sind die modernen Hausherren, aber die meisten ziehen als Schmuck noch immer den heiligen Georg vor. Nach ihm ist mit San Giorgio auch die älteste und bedeutendste Bank benannt, welche vor wenigen Jahren den wundervollen Palast von Guglielmo Boccanegra in Besitz genommen hat.
Rings um den Hafen brodelt das Leben. Neben der alten Mole finden sich die Handwerker, welche sich um die Schiffe kümmern: die Beilmeister, die Segelmacher, die Böttcher, die Anker- und Ruderfabrikanten. Unter dem ständigen Schlagen ihrer Hämmer erdröhnt die Luft den ganzen Tag. Daneben brennen unaufhörlich die Öfen der Metall- und Waffenschmiede.
Von dieser Mole aus folgt die Straße dem Hafen, dessen Ufer nicht ausgebaut und dementsprechend schmutzig ist, denn befestigt sind nur die Kais. An ihr liegen die Geschäfte der Tischler, der Händler von Pech, Teer, Werg und der Kaufleute, welche Büchsen, Hellebarden, Rüstungsteile, Schwerter und Messer an den Mann bringen. Dann öffnet sich der geräumige Platz für den Handel mit Getreide, Öl und Fischen.
Die andern Handwerker haben ihre eigenen Viertel, in denen sie ihren Geschäften nachgehen, die Metzger arbeiten in Sosiglia, die Goldschmiede nahe dem Platz der Banken, die Schildmacher und Vergolder in der Nähe der Stadtkirche San Lorenzo, die Hellebardiere in Santa Maria di Castello, und der bedeutende Erwerbszweig der Färber in der Vorstadt San Stefano, jener der Wollhändler hat gar einem eigenen Viertel den Namen Lanaiuolo gegeben.
Die fröhliche Menge muss sich ihren Weg bahnen durch die menschenüberfüllten Gassen in Hafennähe, in der sich Leute aus vielen Völkern tummeln, welche stets beschäftigt wirken. An ihrem Aussehen und ihren Kleidern lässt sich häufig die Herkunft der Menschen erraten, welche sich vor allem in den Läden der Stoff- und Seidenhändler sowie der Juweliere aufhalten, um hier ihre Geschäfte zu tätigen. Unter sie mischen sich braungebrannte und wettergegerbte Seeleute, die eine neue Heuer suchen, sowie Kalfaterer, die unterwegs zum Arsenal sind, um Schiffe zu reparieren oder zu konstruieren. Da sind auch die kleinen Diebe nicht fern und die Quacksalber sowie selbsternannte Heiler, die Pillen und Pülverchen gegen alle möglichen Krankheiten feilbieten, mit denen man sich in fernen Ländern anstecken kann. In den engen, im diesigen Licht des fortgeschrittenen Tages schon dunklen Gassen, in den Hinterhofkneipen und düsteren Gasthäusern tummeln sich auch andere, von der Kirche verstoßene Seelen, welche ihre Körper gegen Geld anbieten zu einem Liebesdienst, Knaben und Mädchen sowie Frauen in nicht mehr feststellbarem Alter.
So kommt es immer wieder zu einem kleinen Aufruhr um geschuldeten Liebeslohn, eine gestohlene Geldbörse oder um Tabletten, welche die Darmtätigkeit beruhigen sollen, jedoch eine gegenteilige Wirkung haben. Dann heißt es jeweils, sie hülfen nur bei Christen, und die Religion stehe nicht jedem ins Gesicht geschrieben. Solche Auseinandersetzungen ereignen sich immer wieder auch zur Freude der Notare, welche ihre Tische im Freien aufgeschlagen haben, um Verträge zu beurkunden und Versprechen für Wohlverhalten schriftlich zu fixieren. Daneben sind die Organe des Staates ständig unterwegs in ihren verschiedenen Funktionen; sie haben Briefe auf sich, Befehle und Ratschläge an Genueser Händler, welche über die gesamte Christenheit und darüber hinaus verstreut sind, und immer wieder wird ein Schiff gesucht, welches solche Schriftstücke mitnehmen kann.
In diesem Trubel bahnt sich die Gesellschaft ihren Weg hinauf in die ruhigeren Wohngegenden, um endlich, nach einem Umweg über das Haus der Cattaneo, im Viertel San Luca anzukommen, wo Cattocchias Vater Marco Spinola auf sie wartet mit einem Bankett zu Ehren der Enkelin, die er heute zum ersten Mal sehen wird.