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Braune Bohnen
ОглавлениеBonn, April 2019. Ein gellender Schrei hallte durch das Lager der Kaffeerösterei. Marie Diepensiefen zitterte am ganzen Leib und deutete auf eine zusammengesunkene Gestalt zwischen den Jutesäcken mit den brasilianischen Kaffeebohnen. »Da, da, da …«, stotterte sie.
»Trio, oder?« sagte der Praktikant zu niemandem Bestimmten. Er interessierte sich für die Musik der Achtziger und nannte zu Hause schon eine beachtliche Vinyl-Sammlung sein eigen. Neugierig trat er näher.
Die Buchhalterin drehte sich um und barg ihren Kopf an der Brust des Praktikanten, der verlegen seine Arme um die ältere Frau legte und begütigend sagte: »Na, na, na.« Vorsichtig linste er über die ondulierten Haare von Frau Diepensiefen und versuchte, etwas im Halbdunkel zu erkennen. Plötzlich schaltete jemand die helle Deckenbeleuchtung ein, und er fuhr zusammen, woraufhin die Buchhalterin sich von ihm löste und aus der Halle rannte.
»Eins eins null«, rief sie laut. »Eins eins null. Ich erledige das.«
In der Tür kollidierte sie mit drei Packerinnen, die vom Lärm angelockt worden waren und nun, jeweils mit einer Hand über dem Mund, wie angewurzelt stehenblieben, als sie die Szene in sich aufgenommen hatten.
»Wer ist es denn?« fragte schließlich eine der drei Frauen und deutete auf die Leiche.
»Direktor Weyler«, sagte der Praktikant. Er war erfahrener Ego-Shooter. So schnell konnte ihn kein Toter aus dem Konzept bringen. »Kopfschuß. Vielleicht auch zwei. Nach meinem Dafürhalten jedenfalls.«
Eine der Packerinnen schluchzte auf und wischte sich mehrere Tränen aus den Augen.
Wahrscheinlich hat sie sich Hoffnungen gemacht, dachte der Praktikant. Junge mittellose Frau himmelt reichen Fabrikanten an und wird am Ende des Films von ihm erhört. Man liest das ja immer wieder. Daß er bei seinen Überlegungen verschiedene Genres durcheinanderwarf, störte ihn dabei nicht weiter.
»Was’n los?« fragte der untersetzte Mann, der gerade in die Halle gekommen war und sich an den Frauen vorbeidrängelte. Die Menge war inzwischen größer geworden; eigentlich war jede Art Abwechslung im eintönigen Packeralltag willkommen.
»Ey, Speedy«, sagte jemand zu ihm, »paß auf, wo du hintrittst!«
Ruben Gonzales richtete sich zu seiner vollen Größe von einem Meter fünfundsechzig auf und sagte: »Paß selber auf! Du stehst ja auch mitten im Weg. Und leg dich mit mir nicht an!« Befriedigt registrierte er, wie man ihm Platz machte. Vor der Leiche blieb er stehen. »Der ist tot«, sagte er fachmännisch. »Als ich noch in Kolumbien gearbeitet habe—«
»Kennen wir«, unterbrach ihn der Praktikant. »Du hast kistenweise weißes Pulver verpackt.«
Gonzales sah ihn empört an. »Du weißt gar nichts.«
Draußen war Sirenengeheul zu hören, und zwei Minuten später liefen zwei Streifenbeamte in die Halle. »Was’n los?« fragte der dickere der beiden.
»Ich mach das schon, Dieter«, sagte der jüngere Polizist.
»Okay, Roman, aber nur, weil du es bist.« Der Dicke machte bereitwillig Platz.
»Roman Roselski«, sagte der Jüngere. »Und das ist mein Kollege Dieter Derenthal.«
Der Praktikant verkniff sich ein Grinsen. »Zwei Rs, zwei Ds – R2D2«, flüsterte er Gonzales ins Ohr, der seinerseits grinste und dabei eine Reihe fleckiger, vom Tabak geschädigter Zähne zeigte.
Roselski betrachtete den Toten und beugte sich dann über ihn. »Sieht nach einem Schuß aus nächster Nähe aus.«
»Das Blut ist schon eingetrocknet«, sagte der Praktikant. »Ich würde mal sagen, der Schuß ist vor etwa«, er sah auf die große Wanduhr über dem Eingangstor, die acht Uhr zwanzig anzeigte, »zwölf Stunden abgegeben worden. Kann man am Rot der Wundränder sehen.« Er nickte energisch, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Derenthal sah ihn überrascht an. »Sind Sie vom Fach?«
»Nicht direkt«, antwortete der junge Mann. »Grand Theft Auto.«
Der dicke Polizist sah ihn verständnislos an. »Und das heißt?«
Roselski grinste. »Der junge Mann hat Erfahrung mit gewalttätigen Computerspielen.«
»Gewalttätig, naja«, sagte der Praktikant.
»Und jetzt?« Derenthal sah seinen Kollegen fragend an.
»Clear the lobby!« imitierte Roselski den Speaker des englischen Parlaments, auch mit der entsprechenden Lautstärke.
Derenthal, der kein ausländisches Fernsehen verfolgte, warf Roselski einen verständnislosen Blick zu.
»Los, los, Mann.« Manchmal wurde es dem jüngeren Beamten zu viel mit seinem Kollegen. »Räum mal die Halle.«
»Geht doch«, murmelte Derenthal. »Immer und überall alles auf Englisch … ts, ts. Der Deutsche redet deutsch.« Letzteres versickerte aber in seinem nicht vorhandenen Bart und war ohnehin nicht politisch gemeint. Dazu hatte der dicke Streifenbeamte eine viel zu exakte Meinung zu Zeitgenossen, die nicht nachdachten und nur mit Führer durch die Gegend laufen wollten. Er scheuchte die kleine Menge aus der Halle und befestigte dann ein polizeiliches Absperrband am offengebliebenen Tor. »Und jetzt?«
»Jetzt rufen wir Krüger an«, sagte Roselski. »Der wohnt doch hier um die Ecke. Er kann weitermachen. Und du bist exkulpiert.«
Derenthal schüttelte den Kopf. Irgendwann reichte es mit Fremdwörtern.
Krüger gähnte und streckte sich. Schon acht. Noch hatte er aber Zeit für ein kleines Frühstück mit Carmen und käme anschließend mit der Straßenbahn trotzdem pünktlich um neun ins Polizeipräsidium in Ramersdorf. Die morgendliche Besprechung, die allerdings gerade begonnen hatte, würde wie seit Tagen – oder waren es nicht schon Wochen? – unergiebig sein, so daß Walther »mit th« Langenargen, sein Chef, bestimmt darüber hinwegsehen würde, wenn er ihm sagte, daß er für einen alten Fall ins Bonner Stadtarchiv hatte fahren müssen. Notlügen seien erlaubt, das hatte zumindest Martin Luther gesagt, wenn das auch schon etwas länger her war.
Es duftete verheißungsvoll nach Kaffee, als Krüger sich an den neuen Eßtisch in der geräumigen Wohnküche setzte. Jetzt, wo sie zwei Stockwerke bewohnten, hatten sie endlich für ihren Lieblingsraum mehr Platz. Alle guten Feiern fanden ohnehin in der Nähe des Herdes statt. Eigentlich brauchte man nur eine gemütliche Küche und ein großes Bett zum Glücklichsein.
Carmen hatte Brötchen aufgebacken und reichte Krüger eines, das beim Durchschneiden noch dampfte. Sie fing seinen Blick auf und sagte: »Das heißt auf Indianisch: Wir graben das Kriegsbeil aus.« Sie verfolgte die kleine Wolke, die sich bis zum Erreichen der Zimmerdecke längst aufgelöst hatte, und fügte hinzu: »Nein, warte, ich korrigiere: Wir haben den falschen Hasen von gestern unter die Erde gebracht.«
Krüger lachte. Eine Ehe war doch ganz nett, zumal er durchaus an der langen Leine gehalten wurde und immer wieder alleine unterwegs sein konnte oder im Wohnzimmer seinen Lieblingswhisky trinken durfte. Wobei er nicht Brief und Siegel für das liederliche Zusammenleben ohne Trauschein mit Carmen benötigte. Andererseits … Vielleicht sollte doch einmal er über einen Antrag nachdenken, ehe sie die Zeichen der Zeit erkannte und ihn entweder vor die Tür setzte – bei den modernen Frauen von heute wußte man ja nie – oder ihm ihrerseits mit einem eigenen Antrag zuvorkam. Und das paßte ja nun gar nicht, fand Krüger. Anträge waren etwas für wahre Männer, die sich trauten, sich trauen zu lassen.
Als er gerade zu seiner zweiten Tasse Kaffee greifen wollte, klingelte es an der Haustür Sturm. »Jaja«, sagte der Kommissar. »Immer sutje; ich komme ja.«
Ein zweites Sturmklingeln folgte.
Krüger ging zur Tür und öffnete. Etwas verständnislos studierte er das rote Gesicht von Dieter Derenthal, der nach Luft japste. »Wollen Sie nicht hereinkommen? Sie sehen ja völlig erledigt aus; dabei hat der Tag erst angefangen.«
»Sie … müssen … sofort … kommen«, stieß der dicke Polizist hervor.
»Ich muß gar nichts«, sagte Krüger etwas schärfer als beabsichtigt.
»Doch.« Derenthal holte tief Luft. »Drüben, in der Kaffeerösterei.« Er schwieg und schien den Faden verloren zu haben.
»So«, sagte der Kommissar, »jetzt kommen Sie doch erst einmal herein, setzen sich und trinken ein Glas Wasser. Dann sehen wir weiter. In Ihrem jetzigen Zustand kann man ja gar nichts verstehen.« Er bugsierte Derenthal in die Küche, nötigte ihn auf einen Stuhl und ließ eiskaltes Wasser in ein Glas laufen. »Austrinken!«
Mit sinnvollen Befehlen war Derenthal schon immer gut klargekommen; dann mußte er nämlich nicht selbst denken. Er kam Krügers Aufforderung nach und leerte das Gefäß in einem Zug. Dann wischte er sich den Mund ab und sagte: »Tut mir leid, aber Aufregung – und gleichzeitig Sport – ist nichts mehr für mich.«
Krüger unterdrückte ein Grinsen. »Ihr Kollege hätte doch auch kommen können, oder?«
»Der hat schon die Spurensicherung verständigt und mit Ihrem Chef telefoniert.«
»Was ist denn eigentlich los?«
»Der Besitzer der Kaffeefirma ›Wwe. Arntz’ Feine Kaffeebohnen‹ ist erschossen worden.«
Carmen hörte aufmerksam zu und fragte dann: »Und wo soll ich jetzt meinen Kaffee kaufen?«