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Genuß im Stil der neuen Zeit

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Hamburg, März 1963. Im Lagerhaus roch es nach Kaffee, ein fast überwältigender Geruch, der alle anderen Sinne betäubte. Mit seiner Mutter trank Claus morgens immer Tee, aber vielleicht mußte er diese Gewohnheit nun ändern. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er sah sich um.

Große Kaffeesäcke verdeckten die Bodenfliesen mit ihren bunten Mustern. Eine Handkarre blockierte eine Tür mit dem Schriftzug Registratur; weiter hinten führte eine Treppe in den ersten Stock. Die Wände waren in einem hellen Braunton gestrichen; das untere, mit dunkelbraunen Holzbrettern vertäfelte Drittel glänzte matt. Zu sehen war niemand.

»Herr Konrad, 1. Stock« hatte es auf dem Schild geheißen. Claus nahm seinen Mut zusammen und betrat die unterste Treppenstufe, die leise knarrte. Langsam ging er nach oben.

Im ersten Geschoß sah es ähnlich nüchtern aus wie im Parterre: ein Holzfußboden, gedeckte Wandfarben, braune Türen, in die des Lichts für den Flur wegen Fenster eingelassen waren, ein großes Schwarzes Brett, auf dem neben einem Hinweis auf ein Orgelkonzert im Michel nur Aushänge der Firmenleitung befestigt waren, ein Rollwagen mit Aktenordnern, ein Schirmständer aus einem Elefantenfuß, der einen schwarzen Herrenschirm enthielt, ein—

»Kann ich dir helfen?«

Leise hatte sich hinter Claus eine Tür geöffnet. Erschrocken drehte er um, als wäre er ertappt worden, weil er sich hier nicht aufhalten dürfe. »Äh, ja, ich suche …, Herr Konrad …« Er stotterte und schwieg wieder, von sich selbst enttäuscht.

»Du hast das Schild unten gelesen, nicht wahr?« fragte der Herr. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit Weste, aus deren rechter Seitentasche eine goldene Uhrkette zu einem der Knopflöcher führte. Seine Schuhe waren blank poliert.

Claus nickte. »Ich dachte, vielleicht …« Die imposante Gestalt seines Gegenübers schüchterte ihn ein. Wahrscheinlich hatte er sein Glück längst verspielt. Er riß sich zusammen. »Sie suchen jemanden für Lagerarbeiten, oder?«

»Die Firma, nicht ich persönlich. Wie heißt du denn?«

»Claus Möller.«

»Ein schöner Name«, sagte der Herr und streckte die Hand aus. »Petersen. Harry Petersen.«

Claus wurde blaß. Direkt dem Chef in die Arme zu laufen …

»Keine Sorge. Du siehst aus, als ob du arbeiten willst und nicht mußt, nur weil jemand aus deiner Familie denkt, du seiest für die ausgesuchte Arbeit geeignet. Was hast du denn bisher gemacht?«

Der junge Mann senkte seinen Blick. »Mittelschule. Und danach Menck & Hambrock«, sagte er sehr leise. Fast flüsterte er die Worte.

Petersen aber hatte gute Ohren. »Maschinen? Ottensen?«

»Ja.« Claus schaute noch immer nach unten.

»Und die haben dich entlassen?«

»So ähnlich.«

»Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, nur weil ich der Inhaber dieser Firma bin.«

Claus hob seinen Kopf und sah in ein offenes, freundliches, leicht gerötetes Gesicht, das ihn interessiert betrachtete. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und schilderte die verpatzte Arbeitsaufnahme von heute morgen. »Das war wirklich Pech«, sagte er abschließend.

»Aber du bist schon mal zu spät gekommen, oder?«

»Ja.« Herrn Petersen schien man alles sagen zu können, ohne daß es einem zum Nachteil ausgelegt werden würde. »Zweimal.«

»Ein strenger Chef also.«

»Nur der Vorarbeiter.«

»Dort hat dir die Arbeit keinen Spaß gemacht?«

»Nicht wirklich. Man kam nie an die frische Luft, und der Lärm in der Maschinenhalle …«

Petersen sah ihn mitfühlend an. »Und du meinst, du kommst hier besser klar?«

»Bei Ihnen sicher.«

Petersen lachte. Es war ein offenes, ehrliches Lachen, das aus seinem runden Bauch kam und ansteckend klang.

Wider Erwarten lachte Claus auch.

»Gut«, sagte der Inhaber der Kaffeerösterei, »dann komm mal mit. Ich stelle dich Herrn Konrad vor.« Er drehte sich um und ging die wenigen Schritte bis zu einer Tür am Ende des Flurs. Stellv. Geschäftsleitung war an ihr zu lesen. Petersen klopfte und trat dann ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

Claus folgte ihm.

Hinter einem breiten Schreibtisch saß ein kleiner Mann mit schütterem Haar. Er trug ein weißes Hemd unter einer dunkelgrauen Weste; ein Schlips fehlte. Die Ärmel waren hochgekrempelt und von schwarzen Ärmelhaltern umschlossen. Das vor ihm aufgeklappte große Buch legte er zur Seite, faltete die Hände zusammen und sagte nur: »Herr Petersen.«

Ein Blick folgte, dessen Inhalt Claus nicht zu definieren wußte. Unmut aufgrund der Störung? Ein wenig Neugier darüber, was der Chef wollte? Oder nur Rücksichtnahme, weil er eigentlich in seine Arbeit vertieft war, seinem Vorgesetzten gegenüber aber nicht unhöflich sein wollte?

»Ein neuer Mitarbeiter fürs Lager«, sagte Petersen. »Weisen Sie ihn bitte ein. Vor mir aus kann Claus Möller sofort anfangen.«

Die nächste Stunde verbrachte der junge Mann mit Herrn Konrad und seinen spartanischen Schilderungen des Kontoralltags. Manches Mal sah er ihn von der Seite an und versuchte, aus seinem Verhalten schlau zu werden. Konrad führte ihn durch alle Stockwerke, blieb aber einsilbig. Die Holzfußböden knarrten.

Fast auf allen »Böden«, wie die Stockwerke hießen, roch es nach Kaffee. In einem Raum wurden die gelieferten Kaffeebohnen im Rohzustand geprüft, in einem anderen lagen bereits fertig geröstete, in unterschiedlichen Brauntönen gefärbte Bohnen vor leeren Tassen; wahrscheinlich fanden hier Tests statt, um Qualität und Geschmacksrichtung für die Festlegung des Preises zu nutzen. Ein dritter Lagerraum war zur Gänze leer.

Herr Konrad kratzte sich am Kopf. »Das wollte ich dir eigentlich zeigen. Hier lagen gestern noch bunte Kaffeesäcke aus Guatemala mit südamerikanischen Urwaldmustern; wahrscheinlich hat Petersen sie wieder weggegeben.«

Claus versuchte sich vorzustellen, wie Urwaldmuster aussahen, scheiterte aber mangels Vorbilder. Außerdem irritierte ihn, daß Herr Konrad von »Petersen« gesprochen und das »Herr« einfach weggelassen hatte. So redete man eigentlich nicht von seinem Chef.

Schließlich schwirrte ihm der Kopf. Herr Konrad hatte ihn mit Fachausdrücken versorgt und ihm am Ende des Rundgangs ein schmales Buch in die Hand gedrückt, Söhns Kleine Kaffee-Kunde, das er bis morgen durchzulesen habe. Wahrscheinlich würde er ihm anschließend noch Fragen dazu stellen, dachte der junge Mann.

»Wenn du willst, darfst du auch noch einmal allein durchs Kontor gehen«, sagte Herr Konrad zum Abschied. »Nur der vierte Stock, den wir ja auch ausgespart haben, ist für dich tabu. Dort möchte ich dich nie antreffen!«

Claus wanderte fasziniert durch das Geschäftshaus. Vor allem überraschte ihn die Tatsache, daß das Gebäude auf der Rückseite am Kehrwiederfleet im Wasser zu stehen schien, aus jedem Fenster aufs Neue, obwohl er um die Insel wußte. Ob das Parterre bei Hochwasser im Wasser lag? Es war schon vernünftig, die kostbaren Waren erst ab dem ersten Stock aufwärts zu lagern.

Die Treppe in den vierten Stock war tatsächlich mit einer kleinen Messingkette abgesperrt. Was dort oben wohl sein mochte? Aber als Ehrenmann, als der er sich ansah, hielt er sich natürlich an die Ge- und Verbote im Haus.

Als er schließlich wieder auf dem Weg nach unten war, stieß er fast mit einem Lagerarbeiter zusammen, der schnaufend einen Sack nach oben schleppte, so daß sein Gesicht nicht zu erkennen war. »Soll ich mit anfassen?« fragte Claus neugierig. Vielleicht konnte er den ersten Tag in der Kaffeerösterei mit einem guten Werk abschließen.

»Kannst du gerne«, antwortete der Mann und ließ den Sack fast auf die Füße des neuen Mitarbeiters fallen.

Überrascht sah Claus ihn an. Der Lagerist war kaum älter als er. »Ich heiße Claus«, sagte er daher.

»Hans. Hans Schmidt.«

Die beiden jungen Männer waren fast gleich alt, wie sich rasch herausstellte. Hans arbeitete seit einem halben Jahr bei Petersen, der ihn ebenfalls von der Straße weg eingestellt hatte.

»Wohnst du denn hier auch?« Das Haus war schließlich groß genug, dachte Claus.

»Nee, in Bahrenfeld.«

»Wunderbar, ich auch; dann können wir ja morgens zusammen zur Arbeit fahren.«

Hans nickte. »Das machen wir.«

Claus wechselte abrupt das Thema. »Darfst du denn in den vierten Stock?«

»Nee, aber ich kriege noch raus, warum das verboten ist. Ich muß nur noch auf eine passende Gelegenheit warten.«

Die beiden trugen den Sack zusammen bis in den dritten Stock und gingen anschießend nach draußen, vor die große Eingangstür des Handelshauses.

»Kleine Pause«, sagte Hans und angelte eine Packung Zigaretten aus seiner Joppe. Er zog eine Lord Extra heraus und zündete sie mit einem Benzinfeuerzeug an. »Hab ich von meinem Onkel geerbt, der es von einem amerikanischen Soldaten bekommen hat. Auch eine?«

»Hast du nichts Stärkeres als diese Frauenzigarette?« fragte Claus. »Das soll der Genuß unserer Zeit sein?«

Er spielte auf die aktuelle Werbung an.

Hans lachte. »Nur weil da weniger Nikotin drin sein soll, machst du dich darüber lustig? Rauch ist Rauch.«

Claus schwieg betreten. Er war längst bei Gauloises gelandet, die man so schön im Mundwinkel hängen lassen konnte. Aber er wollte nicht unhöflich sein. »Ist schon in Ordnung. Ich möchte bitte auch eine.«

Die beiden rauchten und verfolgten eine junge Frau in einem dunkelblauen Kleid mit weißen Punkten, das allmählich aus der Mode kam. Aber sie sah hübsch aus, hatte einen forschen Gang und schien die Aufmerksamkeit des männlichen Teils der Bevölkerung zu genießen. Schließlich verschwand sie in einem der benachbarten Speicher.

Hans seufzte. »Wär doch schön, auch eine Herzdame zu haben.«

Claus pflichtete ihm bei. »Meine bisher einzige hat sich letztes Jahr lieber für einen Studenten entschieden.«

»Weißt du, unser Leben hat ja gerade erst angefangen«, sagte Hans. »Da kommen sicher noch einige flotte Bienen.«

So ging die unbeschwerte Unterhaltung noch einige Zeit weiter. Die beiden wußten nicht, daß einer von ihnen in wenigen Monaten sterben würde.

Hansen

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