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Zwei Meisterschüsse

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Bonn, April 2019. Krüger trank seinen Kaffee im Stehen aus. Beeilen mußte er sich nicht wirklich, da der Tote tot war und Derenthal nichts von Verdächtigen, die möglicherweise noch in der Nähe herumlungerten, gesagt hatte. Zusammen mit dem dicken Polizisten ging der Kommissar das kurze Stück am Poppelsdorfer Weiher entlang, überquerte die Kreuzung von Königstraße und Venusbergweg, passierte das »Bistrot Sud«, in dem er vor neun Jahren, als der Laden noch »Rietbrocks Weinhaus« hieß, den ersten Abend mit Carmen verbracht hatte, und betrat schließlich das Gelände der Kaffeerösterei. Er konnte nur einen kurzen Blick auf die schöne Gründerzeitfassade werfen, die mit ihren Spitzbogenfenstern eher an eine neugotische Kirche denn an eine Firma erinnerte, weil er sofort von Roselski in Beschlag genommen wurde.

»Es sieht übel aus«, sagte der Streifenpolizist.

»Geht es etwas genauer?«

»Na ja, der Tote. Und so.« Roselski verstummte. Er fühlte sich immer unsicher, wenn die Hierarchie in der Nähe war.

Krüger beschloß, sich selbst ein Bild zu verschaffen. »Führen Sie mich bitte zum Leichenfundort.«

Daß die Leute immer die Terminologie der Lehrbücher verwendeten, dachte Roselski. Andererseits – Tatort klang nach Sonntagabendfernsehen. Wahrscheinlich hatte der Kommissar mit seiner nüchternen Sprache recht. Gehorsam marschierte er vorweg und dirigierte Krüger durch ein im Originalzustand belassenes Kontor aus dem neunzehnten Jahrhundert – samt erhöhtem Podest für den Oberbuchhalter – und durch die Rösterei mit ihren großen Maschinen, die glänzten, als ob sie erst gestern montiert worden waren, bis zu einer kleineren Lagerhalle mit ihren Jutesäkken und einer hölzernen Lastenkarre.

Der Kommissar kam sich vor, als ob er in einem Industriemuseum gelandet wäre. Aber »Wwe. Arntz’ Feine Kaffeebohnen«, eine Institution in der Südstadt seit 1837, die mehr oder minder unbeschadet zwei Weltkriege überstanden hatte, war höchst lebendig und bei den Bonnern, aber auch weit darüber hinaus, in ganz Deutschland, beliebt, der Kaffee hervorragend und die Preise fair. Auch er schätzte den Kaffee, den Carmen immer mal wieder im Werksverkauf erstand.

Also kein Museum.

Krüger schnupperte. Feinkostläden hatten es ihm schon immer angetan, und Kaffeeläden ganz besonders. Sie dufteten nämlich vielversprechend, anders als Teeläden, in denen man den Geruch des Tees erst wahrnahm, wenn man seine Nase tief in eine Dose mit den getrockneten, geschroteten Blättern steckte. Schon im Kontor roch es hier nach Kaffeeröstung: ein leichter Hauch von gebrannten Mandeln, ein oder zwei versehentlich zu schwarz getoastete Kaffeebohnen, heißer Zucker und die tatsächlich noch per Dampf betriebenen Maschinen. Und heißes Öl. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Vor der abgesperrten Halle warteten einige Angestellte gespannt darauf, wie es weiterging. Roselski zeigte auf den Praktikanten. »Der junge Mann ist der Meinung, daß der Tote schon seit gestern Abend, äh, tot ist.« Er wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten.

Krüger aber nickte nur und näherte sich der Leiche.

Andreas Weyler war, wohl durch den Schuß bedingt, auf den Rücken gestürzt. Das Einschußloch befand sich in der linken Schläfe; die rechte Kopfhälfte war praktisch nicht mehr vorhanden, wie Krüger sah, als er sich vorsichtig über den Toten beugte. Wahrscheinlich hatte der Täter seine Patronen an der Spitze aufgebohrt, damit die Verletzung größer war. Wie hatte es im Handbuch für Waffenkunde geheißen? »Beim Einschlag in das Ziel pilzt die Geschoßspitze auf und zerlegt sich teilweise; dadurch wird die Energie sehr schnell abgegeben, und die Gefahr des Durchschlags durch das Zielmedium besteht nicht mehr.« Effiziente Arbeit, dachte er. Sieht nach einem Profi aus. Möglicherweise.

Am Tor entstand Unruhe, und Krüger drehte sich um.

»Wenn Sie mich bitte durchlassen wollen, damit ich meine Arbeit tun kann, oder?« Seine sonore Stimme verschaffte Professor Altendorf augenblicklich freie Bahn. Er bückte sich leicht, um unter dem Absperrband hindurchzutreten, und kam auf den Kommissar zu. »Herr Kriminalhauptkommissar, wie nett, Sie bei der Arbeit anzutreffen. Oder?«

Krüger war sich nie sicher, wieweit die Sätze des Bonner Rechtsmediziners reine Ironie waren. »Ganz meinerseits«, sagte er daher vorsichtig. »Sie kommen sogar persönlich!« Das war jetzt wieder stilistisch völlig mißglückt. Unpersönlich konnte man ja nicht kommen, außer vielleicht über Skype.

Altendorf überhörte Krügers Lapsus. »Es ist immer gut, regelmäßig selbst an der Verbrecherfront aufzutauchen, sonst verliert man den Bezug zur Realität.« Er trat an den Toten heran. »Hat schon jemand Bilder gemacht?« Er sah sich fragend um.

»Ich«, sagte der Praktikant, der, von der Hofseite kommend, unversehens hinter Krüger aufgetaucht war. Er hielt dem Kommissar sein Handy hin.

»Das geht ja nun gar nicht.« Krüger war wütend. »Und schon alles in die unsozialen Netzwerke hochgeladen, oder?«

Der Praktikant schüttelte den Kopf. »Dort treibe ich mich nicht herum. Facebook ist nur noch etwas für über Sechzigjährige«, er warf Krüger einen prüfenden Blick zu, »Instagram etwas für Kindergartenmütter, die die schönsten Kuchenbilder teilen wollen, Snapchat verstehe ich nicht, und Twitter … Wenn selbst die amerikanische Präsid-Ente dort ihren Müll absondert, ist das für mich ein Grund mehr, das Programm nicht zu benutzen.« Er zeigte auf sein Mobiltelefon. »Das hätte ich gerne zurück, wenn Sie’s nicht mehr brauchen.«

Krüger hatte die Galerie-App des Smartphones aufgerufen und scrollte durch etwa zwanzig Fotos von der Leiche, der Halle und der Schaulustigen. Die Bilder waren von einer bemerkenswerten Qualität.

Der Praktikant sah, wie der Kommissar anerkennend nickte, und sagte bescheiden: »Huawei.«

»Gesundheit«, sagte Derenthal, der das Handy neidisch betrachtete.

Roselski grinste.

Zwei Männer von der Spurensicherung in weißen Ganzkörper-Overalls kamen in die Halle gelaufen. »Macht Platz. Weg da. Nicht so dicht an die Leiche. Ihr kontaminiert die gesamte Szenerie!«

Zweistimmig klangen die Sätze sogar musikalisch, dachte Krüger. Gehorsam trat er zur Seite, um Altendorf und die Leute von der KTU ihre Arbeit machen zu lassen.

Der Rechtsmediziner kniete sich hin und deutete auf das Einschußloch. Dann sagte er etwas zu den beiden Männern, die ihn überrascht ansahen. Einer der beiden holte aus dem mitgebrachten Koffer ein Vergrößerungsglas und reichte es Altendorf. Dieser wiederum hielt es über die linke Schläfe des Toten, angelte einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche und stellte augenscheinlich die Verlängerung des Schußkanals nach – aus dem Kopf der Leiche in die Luft davor. Fragend sah er auf.

»Könnte sein«, sagte schließlich einer der beiden weißgekleideten Techniker.

Altendorf erhob sich wieder und drehte sich dem Kommissar zu. »Sie haben zugesehen?«

Krüger nickte. »Aber nichts verstanden.«

»Lehrling und Meister«, sagte der Rechtsmediziner jovial. »Ich verstehe.« Er zwinkerte Krüger zu. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind zwei Schüsse gefallen. Der zweite war so genau gezielt, daß er fast den gleichen Weg wie der erste genommen hat. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen. Sagen wir um drei?«

Der Kommissar überlegte, ob er blaß werden sollte, entschied sich aber dagegen. Ihm würde bestimmt etwas einfallen, um seine Teilnahme an der Leichenöffnung zu umgehen. Die Nummer mit Schneiders rechtzeitigem Telefonanruf, um ihn zu einem dringenden Fall dazuzuholen, also von der Obduktion wegzurufen, funktionierte ja nicht mehr; Altendorf hatte ihn schon beim zweiten Mal durchschaut. Hoffentlich kam er auf einen neuen Ausweg. Es gab keine Hilfe – wie immer im Leben.

»Ein Profi«, sagte Schneider, der so leise hinter Krüger getreten war, daß dieser zusammenfuhr.

»Mann, mich so zu erschrecken«, sagte der Kriminalhauptkommissar und legte die Hand auf seine Brust, dorthin, wo er das Herz vermutete. »Du bist bloß Kriminalkommissar. Du darfst das Leben deines Vorgesetzten nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Mein Herz arbeitet nach Carmens Kaffee heute morgen zu Hause und dem Kaffeeduft hier ohnehin schon auf Hochtouren.«

»Soll ich einen Stuhl holen?« fragte Altendorf. Sein Grinsen war nur noch als dreckig zu bezeichnen.

Hansen

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