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Über philanthropische Unternehmer

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Bonn, April 2019. Hinnerk hatte bestens geschlafen. Über Airbnb hatte er sich noch von Hamburg aus ein unauffälliges Zimmer im zweiten Stock eines Hauses in der Friedrichstraße besorgt, so daß er mit falschem Namen und falscher Kreditkarte hatte buchen können und nicht nach seinem Ausweis gefragt wurde, wie es jetzt immer häufiger bei Übernachtungen in normalen Herbergen der Fall war. Außerdem besaß das Personal hinter der Empfangstheke eines Hotels meist ein gutes Gedächtnis, was das Aussehen einiger etwas aus dem Rahmen fallender Gäste anging. Und mit seiner Größe und den blonden Haaren war er schon auffällig. Anonym zu bleiben, war auf jeden Fall besser.

Der Hüne warf die Barbourjacke über und schloß die Zimmertür ab. Wie immer befestigte er ein längeres Haar zwischen Türwange und Türblatt, um ungebetene Gäste bei seiner Rückkehr feststellen zu können. Man mußte für alle Gelegenheiten gewappnet sein.

Gestern abend, nachdem er seinen kleinen Auftrag erledigt hatte, war ihm ein französischer Bäcker in der Nähe aufgefallen. Vielleicht gab es dort ein anständiges Frühstück.

Tatsächlich hatte das »C’est-la-vie« schon geöffnet. Mit einem Pain au chocolat, einem Croissant und einem großen Milchkaffee von der Theke machte Hinnerk es sich in einer Ecke bequem, von der aus er die Eingangstür unauffällig im Blick behalten konnte. Alte Angewohnheit; man mußte stets mit allem rechnen.

Auf seinem Handy studierte er den Bonner Stadtplan und legte sich im Geist den Fußweg zu seinem nächsten Auftragsort zurecht; die dazugehörige Adresse war heute morgen per SMS gekommen. Jetzt mußte er nur noch auf den Einsatzbefehl warten. Da er wie immer vorbereitet war – die Pistole war gereinigt, das Magazin vorhanden und das Handy aufgeladen –, konnte auch dieses Mal nichts schiefgehen.

Hinnerk sah seine Tätigkeit als ehrliche Arbeit an, die der Gemeinschaft zugute kam. Wer sich nicht an Regeln hielt, mußte bestraft werden. Das erledigte er, bislang stets zur Zufriedenheit seines Auftraggebers. Gemeinschaft verstand er allerdings als diejenige, der er und Onkel Alberto angehörten. Dennoch traf Marc Aurels Lebensmaxime, auf die er in einer Zeitschrift gestoßen war und die er ausgeschnitten zu Hause über sein Bett gehängt hatte, auch auf ihn zu: »Arbeite! Aber nicht wie ein Unglücklicher oder wie einer, der bewundert oder bemitleidet werden will. Arbeite oder ruhe, wie es das Beste für die Gemeinschaft ist.«

Hinnerk biß ein Stück vom Schokoladenmilchbrötchen ab und trank einen großen Schluck Kaffee. Er ließ sich noch einmal seinen gestrigen Einsatz durch den Kopf gehen. Bestimmt hatte man den Toten schon entdeckt. Die kleine Uhr auf seinem Handy zeigte 08:33 an. Schade, daß es noch keine App zum Abhören des Polizeifunks gab. Es war immer gut zu wissen, was der Gegner gerade machte. Aber ihn würden sie, wie sonst auch, nicht entdecken. Dafür war er einfach zu unauffällig. Selbst große Leute wurden übersehen, wenn sie es darauf anlegten, und unsichtbar zu werden – darin war er Meister. Nur in Hotels mußte man, wie gesagt, aufpassen.

Okay, noch der heutige Einsatz, und dann würde er wieder nach Hamburg zurückfahren. Vielleicht sogar per Flix-Train. Die Beschreibung der Reise in die alte Hansestadt auf der Seite des Unternehmens klang gemütlich: alte Waggons der Bundesbahn, Sechser-Abteile, Fenster, die sich öffnen ließen, nur wenige Haltepunkte unterwegs – Nostalgie war etwas, das Hinnerk schätzte. Spaßeshalber warf er einen Blick auf die Abfahrtszeiten des Zuges aus Köln: 15:01 Uhr, das konnte er sogar schaffen. Wenn die Einsatz-SMS rechtzeitig kam.

Schneider stand draußen vor der Lagerhalle und rauchte.

»Du wirst mir immer unsympathischer«, sagte Krüger. »Nicht nur, daß du dauernd deine Frauen wechselst, jetzt hast du auch noch eine neue Zigarettenmarke.« Er deutete auf den dunkelbraunen Glimmstengel.

»Zigarillo«, sagte Schneider. »Und du bist mal schön ruhig. Wenn ich dich an deine Zigarren erinnern darf …«

»Das kann man beim besten Willen nicht als Rauchen bezeichnen, zweimal im Jahr. Und dann nur eine halbe. Und nur unter Zuhilfenahme von Rotwein. Oder Whisky. Und außerdem darf Carmen nicht dabei sein, weil sie sonst etwas von den Gefahren von Alkohol und Rauch sagt. Und ohne Carmen ist das Leben nur halb so schön. Also rauche ich nicht. Jedenfalls nicht richtig.«

Schneider sah seinen Freund etwas neidisch an. Eigentlich wäre er auch gerne fest liiert, nicht nur teilweise und das nur manchmal. Andererseits schien das Glück immer auf der anderen, nie auf der eigenen Straßenseite zu lauern. Um es zu erhaschen, mußte man die Straße überqueren. Er seufzte und warf den nur zu einem Drittel gerauchten Zigarillo auf den Boden. Mit der Fußspitze erstickte er die Glut.

»Das wird aber auf die Dauer teuer«, sagte der Praktikant und trat neben die beiden Kommissare. »Der schöne Zigarillo. Aber bei Ihrem Gehalt spielt das sicher keine Rolle.«

Krüger studierte das Gesicht des jungen Mannes, der für die Lagerhalle viel zu intelligent aussah. »Wie heißen Sie eigentlich?«

»Fabian. Fabian Schmücker.«

»Und was machen Sie beruflich?« fragte Schneider.

»Bohnen schleppen. Kaffeebohnen. Also braune. Nicht die blauen, die hier durch die Lüfte fliegen.«

Schneider lachte. »Aber hierhin zu passen scheinen Sie ja nicht.«

»Tue ich auch nicht wirklich«, sagte der junge Mann. »Ist nur ein Zubrot. Eigentlich studiere ich Psychologie. Sechstes Semester.«

»Sind Sie dann nicht bald fertig?« fragte Krüger. »Den Abschluß als Bachelor erhält man doch schon nach drei Jahren, oder?«

»Eigentlich ja, aber wir Psychologen studieren deutlich langsamer. Schließlich müssen wir lernen, die Menschen ganz zu durchschauen.« Er warf Schneider einen durchdringenden Blick zu.

Was kam jetzt? Der jüngere der beiden Kommissare fühlte sich sichtlich unwohl.

Krüger, der das Mienenspiel seines Freundes verfolgt hatte, grinste. Geschah ihm ganz recht, daß er auch einmal in die Defensive geriet.

»Sie machen einen etwas frustrierten Eindruck«, sagte Schmükker. Mit dem Fuß schob er den Zigarillo Richtung Schneider. »Das Teil qualmt noch.«

Der Kommissar nahm dieses Mal den Absatz seines Schuhs zu Hilfe und trat etwas harscher als beabsichtigt auf den Rest der Glut.

»Beruflich frustriert?« Der Praktikant schüttelte den Kopf und beantwortete die Frage selber. »Glaube ich nicht. Dafür sind Sie viel zu neugierig.« Er zeigte auf den kleinen Block in Schneiders linker Hand, auf dem dieser sich Notizen gemacht hatte. »Wahrscheinlich eher privat.« Er überlegte. »Soll ich raten?«

Krüger kam seinem Freund zu Hilfe. »Das reicht jetzt aber. Wir sind ja hier, um einen Mordfall aufzuklären, und nicht, um bei Ihnen auf der Couch zu liegen. Also: Was können Sie uns denn zu Ihrem Chef sagen?«

»Zu Herrn Weyler?« Schmücker überlegte. »Ausgesprochen beliebt war er bei den Angestellten. Hat sich um den ganzen Laden gekümmert, war immer auf dem Laufenden, was ich so in der kurzen Zeit, seit ich hier bin, mitbekommen habe, Einkauf, Verkauf, Buchhaltung, Personal – was so anlag. Als er hörte, daß ich Student bin, hat er zwei Euro pro Stunde draufgelegt und gesagt, er habe als Student auch immer zu kämpfen gehabt, er wisse noch sehr gut, wie es ihm damals gegangen sei.«

»Ein altruistischer Unternehmer, interessant«, sagte Schneider. »Ich dachte immer, alle Kapitalisten seien egoistisch.«

»Nicht alle«, sagte Krüger versonnen. Ihm fiel wieder ein, was seine Mutter über einen Hamburger Unternehmer gesagt hatte, der sich vorbildlich um seine Angestellten gekümmert hatte. So’n netten Menschen war das.

»War er verheiratet?« unterbrach Schneider seine Gedanken.

Der Praktikant schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Er besaß jedenfalls keinen Ehering, den er auch trug. Und ob er eine Freundin hatte?«

Der junge Mann dachte wirklich mit; Krüger war angenehm überrascht. Bei der Polizei wurden auch Psychologen gebraucht – mal sehen.

»Ich glaube nicht«, antwortete Schmücker sich erneut selbst. »Außerdem habe ich hier nie eine Frau gesehen, der man ansah, daß sie sich für Herrn Weyler interessierte. Jedenfalls keine seines Alters. Natürlich haben sich einige Angestellte Hoffnungen gemacht …«

Der junge Mann beobachtete tatsächlich sehr genau, dachte Krüger; ich lasse ihn mal reden. Er nickte dem Praktikanten aufmunternd zu. »Jemand im Besonderen?«

»Frau Diepensiefen, die Buchhalterin, Anna Karenina, eine der Packerinnen, Frau Müller, die Sekretärin …«

»Das sind schon sechs«, sagte Schneider, während er sich Notizen machte.

Krüger grinste, denn er glaubte zu wissen, was nun kam.

»Nein, nein«, sagte Schmücker. »Drei. Das andere war nur die jeweilige Funktion im Betrieb.«

»Man nennt es Apposition«, sagte der sprachverliebte Kriminalhauptkommissar. »Etwas Hinzugesetztes beschreibt das Substantiv näher.«

»Hast du eigentlich keine Arbeit in der Duden-Redaktion gefunden und mußtest deswegen zur Polizei?« fragte Schneider etwas spitz. Irgendwann waret auch mal juut.

»Anna Karenina«, sagte Krüger versonnen. »Eine starke Frau.«

»Kaum«, sagte der Praktikant. »Eher ein graues Mäuschen. Und an ihrem Deutsch arbeitet sie noch.«

»Es ist immer besser«, fügte der Kommissar hinzu, noch ganz in Gedanken, »beim Original zu bleiben.«

Schmücker grinste. »Also, nochmal zu den Frauen. Ich glaube nicht, daß da jemals etwas Ernsthaftes gewesen ist. Vor allem, warum sollte eine der drei ihren Chef umbringen, der doch immer nett war?«

»Vielleicht«, sagte Schneider langsam, »hat er einer die Ehe versprochen und sich dann für eine andere entschieden.«

»Könnte sein«, sagte Krüger. »Eines der beiden klassischen Mordmotive. Eifersucht.«

»Und das andere?« Der Praktikant sah ihn neugierig an.

Von der Welt weiß er doch noch nicht so viel, dachte Krüger. »Geld«, sagte er. »Eigentlich geht es immer um Geld. Wenn ich die Eifersucht aber nochmal aufgreifen darf: Ehe bedeutet auch Absicherung, in vielen Fällen. Und die Aussicht darauf dann plötzlich zu verlieren … Wir behalten das mal im Auge.«

»Apropos Geld«, sagte Schmücker. »Davon hat Herr Weyler wirklich genug gehabt. Jede Menge.«

Hansen

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