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KAPITEL III Konservativer Staat und soziale Demagogie
ОглавлениеDer Antisemitismus hatte gute Dienste geleistet, als es galt, politischen Katholizismus und preußischen Konservatismus zusammenzukoppeln, schwankende Liberale einzuschüchtern und nationalistische Instinkte zu entfesseln. Seine Wortführer konnten sich jetzt auf gute Beziehungen zur Staatsautorität berufen; wenn diese auch lässige Vorbehalte machte, kam ihr die Judenhetze doch recht gelegen. Der politische Antisemitismus wurde respektabel, weil es sich immer deutlicher zeigte, daß die Regierung ihm den Rücken stärkte. Eugen Richter, der Führer der Fortschrittspartei, sagte am 12. Januar 1881 im Reichstag:
»Die Bewegung fängt an, sich an die Rockschöße des Fürsten Bismarck zu hängen, und wenn er sie gleich ablehnt und in seiner Presse die Überschreitungen mitunter tadeln läßt, so fährt sie doch fort, sich an ihn anzuschmiegen und sich auf ihn zu berufen, gleichsam wie lärmende Kinder ihren Vater umdrängen.«80)
In Wilhelm I. fand Stoecker einen wohlwollenden Monarchen; er wußte die Anstrengungen seines Hofpredigers für Thron, Altar und nationalen Staat zu würdigen, wenn ihn auch Stoeckers öffentliche Agitation unangenehm berührte. Fürst Hohenlohe, damals deutscher Botschafter in Paris, bemerkte nach einem Besuch beim Kaiser am 29. November 1880:
»Der Kaiser billigt nicht das Treiben des Hofpredigers Stoecker, aber er meint, daß die Sache sich im Sande verlaufen werde, und hält den Spektakel für nützlich, um die Juden etwas bescheidener zu machen.«81)
Des Kaisers Besorgnis galt wohl weniger den Gefahren, die Stoeckers Agitation für die Juden barg, als vielmehr denen, die sie womöglich durch eine Aufwiegelung der Massen heraufbeschwören könnte. In seiner Unterhaltung mit dem Botschafter gab er jener Furcht Ausdruck, die einen Konservativen immer befällt, wenn er sich sozialer Agitation gegenübersieht, sei sie nun revolutionärer oder demagogischer Art. Andererseits war er von Stoeckers Verehrung angetan und hörte viel Gutes über den Hofprediger von dessen Freunden unter den hohen evangelischen Würdenträgern und der preußischen Aristokratie. Der Kaiser schwankte und spürte die Gefahren nur dunkel; Bismarck dagegen war sich ihrer völlig bewußt. Das zeigte sich eindeutig in den Folgen von Stoeckers Angriff auf Bleichröder.
Um die sozialdemokratischen Angriffe gegen Kirche und Staat abzuwehren, hatte Stoecker auf einer Massenversammlung am 11. Juni 1880 Bleichröders Namen in die Debatte geworfen. Sozialdemokraten unter den Zuhörern, so berichtete Stoecker später, »schmähten die christliche Kirche und Geistlichkeit, daß diese nichts für die Arbeiterwelt getan habe. Die jüdische Tendenz war unverkennbar. Daraufhin rief ich ihnen zu, sie möchten nicht bloß von uns, sondern auch von den Juden Hilfe fordern, z. B. von Herrn Bleichröder, der habe mehr Geld als alle Pastoren zusammen.«82) Eine Woche darauf beschwerte sich Bleichröder in einem Brief an den Kaiser über den Zwischenfall und die christlichsoziale Agitation im allgemeinen. Der im Archiv des Kaiserlichen Geheimen Zivilkabinetts von Frank gefundene Brief ist ein interessantes Zeitdokument, nicht zuletzt deswegen, weil er zeigt, wie sehr der jüdische Bankier sich mit Staat und Thron identifizierte. Bleichröder wies auf die revolutionären Gefahren hin, die Stoeckers politische Tätigkeit in sich trage. Von sozialdemokratischer Agitation unterschiede sie sich einzig dadurch, daß sie »gefährlicher, weil praktischer« sei. Die ganze Sache könne nur auf eine Revolution hinauslaufen.
»Majestät«, schrieb er, »ich zittere nicht vor diesem letzten notwendigen Ereignis, wenn der Agitation nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Ich versuche mich darauf vorzubereiten, so schweren Herzens ich das Vaterland auch meiden würde … Ich weiß, daß die hohe Staatsgewalt in der letzten und höchsten Katastrophe zu meinem Schutze kommen wird. Aber ich glaube annehmen zu dürfen, daß der Versuch einer Gewalt gegen mich, der in den Reden des Herrn Hofpredigers Stoecker und Genossen gegen mich heraufbeschworen wird, nicht vereinzelt stehen bleiben könnte, daß er vielmehr nur der Anfang des Unglücks einer furchtbaren sozialen Revolution sein müßte.«83)
Der Kaiser sandte den Brief an Bismarck; der gab ihn an den zuständigen preußischen Minister, Robert von Puttkamer84), weiter mit dem Aufträge, die Sache zu untersuchen und geeignete Schritte gegen Stoecker vorzuschlagen. Als naher Freund Stoeckers nahm Puttkamer sich mehrere Monate Zeit, bevor er dem Kanzler einen Entwurf unterbreitete, den dieser am 16. Oktober 1880 ablehnte. Wie Frank einer Kopie im Archiv des Evangelischen Oberkirchenrats entnahm, begründete der Kanzler seine Ablehnung mit folgenden Worten:
»Ich kann der Gesamtauffassung Ew. Exzellenz nicht unbedingt beitreten. Die Tätigkeit des Hofpredigers Stoecker bleibt meines Erachtens auch dann eine bedenkliche, wenn die von ihm veranstalteten Versammlungen ihren tumultuarischen Charakter verlieren sollten. Die Tendenzen, welche er verfolgt, decken sich in mehreren Punkten mit denjenigen der anderen Sozialdemokraten. Ew. Exzellenz erlaube ich mir in dieser Beziehung auf die Rede aufmerksam zu machen, welche Herr Stoecker vorgestern in der Generalversammlung des Zentralvereins für Sozialreform gehalten hat. Er bezeichnete hier die Intentionen der Regierung als ungenügend und als das zu erstrebende Ziel die ökonomische Sicherstellung der Arbeiter in Fällen der Arbeitslosigkeit; er fordert die Normalarbeitszeit und die progressive Einkommensteuer. Daß letztere nur eine verhältnismäßig sehr geringe Erhöhung der jetzigen Einkommensteuer bedeuten würde, sollte er wohl wissen; seine Zuhörer aber wissen es nicht. Wenn er die Normalarbeitszeit verlangt, so arbeitet er auf den Ruin unserer Industrie zugunsten ihrer Konkurrenten in England, Belgien, Frankreich usw. hin, und wenn er die ökonomische Sicherstellung des Arbeiters in Fällen der Arbeitslosigkeit fordert, so muß er sich klar sein, daß dieses Ziel ein faktisch unerreichbares ist. Er regt unerfüllbare Begehrlichkeiten auf.
Was speziell die Judenfrage betrifft, ist es ein Irrtum, wenn angenommen wird, daß die reichen Juden bei uns einen großen Einfluß auf die Presse ausüben. In Paris mag dies anders sein. Nicht das Geldjudentum, sondern das politische Reformjudentum macht sich bei uns in der Presse und in den parlamentarischen Körperschaften geltend. Die Interessen des Geldjudentums sind eben mit der Erhaltung unserer Staatseinrichtungen verknüpft und können der letzteren nicht entbehren. Das besitzlose Judentum in Presse und Parlament, welches wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hat und sich jeder politischen Opposition anschließt, kann unter Umständen auch zu einem Bündnis mit der Sozialdemokratie, einschließlich Stoecker, gelangen. Gegen dieses richtet sich auch die Agitation des Herrn Stoecker nicht vorzugsweise; seine Reden sind auf den Neid und die Begehrlichkeit der Besitzlosen gegenüber den Besitzenden gerichtet.«85)
Bismarcks Sohn Herbert schrieb am 21. November 1880 dem Geheimrat Tiedemann, einem hohen Regierungsbeamten, sein Vater nehme viel mehr Anstoß an den sozialistischen als an den antisemitischen Tendenzen der Stoeckerschen Agitation.
»Auch gegen Bleichröder hetzt Stoecker nicht etwa, weil er Jude, sondern weil er reich ist. Für meine Beurteilung des Stoeckerschen Treibens sind namentlich die Versammlungsreden maßgebend, in welchen er den Arbeitern auf Kosten der wohlhabenden Klassen goldene Berge verspricht, vermittels der einzuführenden progressiven Einkommensteuer usw.… Wenn Stoecker sich bloß gegen die Ausschreitungen und das Überwuchern des Judentums in Presse und Parlament gerichtet hätte, würde Bleichröder keine Veranlassung gehabt haben, die Hilfe Seiner Majestät gegen seine Agitation anzurufen, und man hätte ihn gewähren lassen können: das Gefährliche ist aber die kommunistisch-sozialistische Tendenz der Stoeckerschen Aufreizung.«86)
Beide Bismarcks waren dafür, Stoeckers Partei unter Berufung auf das Sozialistengesetz für ungesetzlich zu erklären.
Soweit aber wollte wiederum der Kaiser nicht gehen. Er beendigte die Angelegenheit durch eine Mitteilung an den Hofprediger, worin er ihn tadelte, daß er in seinen an sich wohlmeinenden Bestrebungen Exzesse nicht vermieden habe. Der Kaiser sprach sein Bedauern darüber aus, daß Stoecker Begehrlichkeiten, zu deren Befriedigung auch er kein Mittel kenne, mehr erregt als beruhigt habe. Er habe die Aufmerksamkeit der Masse auf die Reichtümer Einzelner gelenkt und soziale Reformen vorgeschlagen, die über das Regierungsprogramm hinausgingen. Im ganzen aber blieb die kaiserliche Ermahnung schonend und entmutigte den Hofprediger nicht.
Während die Regierung noch die Bleichröder-Affaire beriet, hatte eine neue antisemitische Kampagne begonnen. Im Herbst 1880 machten sich Bernhard Förster, Max Liebermann von Sonnenberg, Ernst Henrici und andere antisemitische Führer der Berliner Bewegung daran, Unterschriften für eine Petition an den Reichskanzler zu sammeln. Ziel dieser sogenannten »Antisemitenpetition« war »die Emanzipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft, welche es auf die Dauer nicht zu ertragen vermag«87). Die Unterzeichner verlangten Verbot oder wenigstens Einschränkung der Immigration ausländischer Juden; Ausschluß der Juden von allen Regierungsstellen; beschränkte Zulassung von Juden bei den Gerichten, besonders als Richter; Ausschluß der Juden von Lehrerstellungen in Volksschulen; Verringerung jüdischer Lehrkräfte an höheren Schulen und Universitäten; Wiedereinführung des separaten Zensus für die jüdische Bevölkerung. Im April 1881 wurde die Petition mit etwa einer Viertelmillion Unterschriften Bismarck überreicht.
Im November 1880–die Unterschriftensammlung war noch im Gange – hatte die Fortschrittspartei im Preußischen Landtag eine Interpellation eingebracht; die Regierung wurde ersucht, eine Erklärung darüber abzugeben, welche Haltung sie gegenüber den Bestrebungen einnähme, jüdische Staatsangehörige ihrer bürgerlichen Rechte zu entkleiden. Es kam zu einer Debatte, die sich über mehrere Sitzungen hinzog. Der Vizepräsident des preußischen Ministerrats gab die kurze Erklärung ab, die Verfassung garantiere die Gleichheit aller Konfessionen, und die Regierung beabsichtige nicht, eine Änderung der gesetzlichen Stellung der Juden zuzulassen. Die Antisemiten schlossen daraus, die Regierung sei über die Interpellation ungehalten, und fühlten sich ermutigt, ihre Unterschriftensammlung nun erst recht fortzuführen.
Gegen Ende des Jahres 1880 schien die antisemitische Agitation im öffentlichen Leben Berlins zu dominieren. Eduard Bernstein beschreibt in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung« die damalige Lage:
»Es war wie eine Sturzwelle judenfeindlicher Reaktion. Eine ganze Presse, die ihr Ausdruck gab, schoß ins Leben. Antisemitische Flugschriften und Schimpfblätter wider alles, was jüdisch oder jüdischer Sympathien verdächtig war, wurden in Massen verbreitet; sie predigten gesellschaftliche Ächtung der Juden, und diese Ächtung wurde auch verschiedentlich in verletzender Form in die Tat umgesetzt … Mit Rüpelszenen, wie sie Berlin zuvor nicht gekannt, wurde, nachdem am 30. Dezember 1880 eine große Antisemitenversammlung in der Bockbrauerei durch Reden der B. Förster, E. Henrici, Ruppel, Liebermann von Sonnenberg und anderer Führer der Bewegung bearbeitet worden war, in der Silvesternacht 1880/1881 das neue Jahr eingeläutet. Organisierte Banden zogen in der Friedrichstadt vor die besuchteren Cafés, brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden, taktmäßig immer wieder »Juden raus!‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Eintritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüstheiten mehr. Alles natürlich unter der Phrase der Verteidigung des deutschen Idealismus gegen jüdischen Materialismus und des Schutzes der ehrlichen deutschen Arbeit gegen jüdische Ausbeutung.«88)
Im Juni 1881 wurde der Reichstag aufgelöst, nachdem die liberale und sozialistische Opposition die Regierungsvorlage für eine obligatorische Unfallversicherung zu Fall gebracht hatte. Im darauffolgenden Wahlkampf erreichte der organisierte Antisemitismus einen Höhepunkt. Stoecker schreibt über die Stimmung der Wahlkampagne:
»Mit Naturgewalt brach sich die Überzeugung Bahn, daß die Hauptstadt des Deutschen Reiches nach den großen kriegerischen Siegen nicht in demokratischen jüdischen undeutschen Händen bleiben dürfe. Ein freudiges Arbeiten und Agitieren begann bei reich und arm, bei vornehm und gering … Zu dem in Hunderten von Volksversammlungen gesprochenen Wort kam das gedruckte hinzu. Der ›Reichsbote‹89) hatte schon das erste Aufflammen der christlich-sozialen Sache mit Freuden begrüßt, seitdem den Kampf mit seiner Teilnahme begleitet. Die ›Kreuz-Zeitung‹ verhielt sich einen Augenblick kritisch, stellte sich aber bald in die Reihen der Freunde. So war im Grunde alles, was sich in Berlin konservativ oder antifortschrittlich nannte, vereinigt und wirkte begeistert zusammen. Das Konservative Zentralkomitee, das viel geschmähte, viel gefürchtete C. C. C. kommandierte im Kampfe: Mit Gott für Kaiser und Reich.«90)
Am Vorabend der Wahl ließ Stoecker ein Flugblatt verbreiten, worin es hieß:
»Seit vier Jahren stehe ich in dem öffentlichen Leben von Berlin und bekämpfe offen und frei die Übermacht des Kapitals, unredliche Spekulation, schnöde Ausbeutung der Arbeit, großen und kleinen Wucher. Ich betrachte die Ansammlung des mobilen Kapitals in wenigen, meist jüdischen Händen als eine drohende Gefahr und als eine der Hauptursachen des sozialdemokratischen Umsturzes. Aber nicht bloß der Herrschaft des Mammons, auch den Revolutionsgelüsten der Sozialdemokratie, den unpraktischen und unerfüllbaren Versprechungen eines sozialistischen Volksstaates habe ich mich entgegengestellt und betont, daß die soziale Revolution überwunden werden müsse durch die gesunde soziale Reform auf christlicher Grundlage. Diese Reform steht gegenwärtig, von der starken Hand der Regierung angefaßt, als die größte Aufgabe der Gegenwart vor uns. Die Mitarbeit daran ist heute der wahre Fortschritt. Aber der Berliner Fortschritt, der sie mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln verhindern will, ist der Rückschritt … Will Berlin an der Spitze der sozialen und nationalen Bewegung bleiben, so muß es dem Fortschritt den Abschied geben … Herr Professor Virchow hat das Judentum verteidigt und für russische Wucherjuden (91) einen Aufruf unterschrieben … Ein fortschrittlicher Aufruf nennt ihn den Vertreter der Kultur und den Kandidaten der gebildeten Welt. Ich will keine Kultur ohne Deutschtum und Christentum; deshalb bekämpfe ich die jüdische Übermacht.«92)
Stoecker war es inzwischen gelungen, nicht nur Ladenbesitzer und Handwerker um sich zu scharen, sondern auch Offiziere und Beamte, Lehrer und Akademiker in freien Berufen – jene gebildeten Mittelstandsschichten, die sich immer stärker entfalteten, bisher aber wenig Interesse für die Konservative Partei bekundet hatten. Jetzt entstanden konservative Bürgervereine, und der 1881 gegründete Verein Deutscher Studenten gewann schnell an Einfluß. Die akademische Jugend, die bis 1848 liberalen und demokratischen Idealen gehuldigt hatte, dann aber in politische Gleichgültigkeit verfallen war, erwärmte sich langsam für die Idee des »nationalen« Staates. Die christlichsozialen Hilfstruppen der Konservativen waren eine Kraft geworden, auf die man im Kampf gegen die Liberalen nicht mehr verzichten konnte. Es gab sogar Anzeichen dafür, daß Bismarck die Christlichsoziale Partei anders einzuschätzen begann. Für Stoecker persönlich hatte er zwar noch immer nichts übrig und vermied es, mit ihm zu sprechen. Aus politischen Gründen schien es jedoch ratsam, Stoeckers Bewegung gegenüber eine weniger feindselige Haltung einzunehmen; offizielle wie auch private Äußerungen Bismarcks während dieser Periode zeigen, daß er sein Verhalten entsprechend geändert hatte.
In einer Kabinettssitzung am 14. November 1881 erklärte der Kanzler, er sei »nur gegen die fortschrittlichen, nicht gegen die konservativen Juden und ihre Presse«93). Am 26. November sagte er seinem Landwirtschaftsminister, »die Judenhetze sei unopportun gewesen, er habe sich dagegen erklärt, aber weiter nichts dagegen getan wegen ihres mutigen Eintretens gegen die Fortschrittler«94). Noch am 2. April desselben Jahres hatte er im Reichstag versichert, er habe nichts mit der antisemitischen Bewegung zu tun95); am 14. Oktober aber ließ er seinen Sohn Wilhelm wissen, daß er die Wahl Stoeckers für sehr wünschenswert halte. Graf Wilhelm von Bismarck hatte vor einer konservativen Wahlversammlung in Berlin Ausführungen gemacht, die eine Debatte in der Presse hervorriefen. Der Kanzler ermahnte deshalb seinen Sohn, sich in Zukunft vorsichtiger auszudrücken:
»Wenn Du sprichst, so müßtest Du allerdings Stoecker unterstützen, weil sein Gegner Fortschrittler ist: aber die Identifizierung mit Stoecker paßt der Regierung nicht, und es wird nie Glauben finden, daß Du etwas anderes als Regierungsmeinung aussprichst. Stoeckers Wahl ist dringend zu wünschen: einmal als Nichtwahl des Gegners, dann weil er ein außerordentlicher, streitbarer, nützlicher Kampfgenosse ist, aber sobald man für ihn eintritt, indossiert man der Wirkung nach alles, was er früher gesagt hat, resp. alle anderen Antisemiten, und das kann doch en bloc nicht von mir kontrasigniert werden.«96)
Einige Tage vor der Wahl, am 5. November 1881, gestattete der Kanzler einer Zeitung, eine private Äußerung von ihm zu zitieren, nämlich, »die Juden tun, was sie können, um mich zum Antisemiten zu machen«97). Der Artikel berichtete auch, der mutige Kampf Stoeckers und der Berliner Bewegung gegen die Fortschrittspartei fände durchaus die Billigung des Kanzlers, der seine anfängliche Abneigung gegen Stoecker überwunden habe und jetzt aufrichtig die Tapferkeit und Begabung dieses Redners bewundere; falls es zu einer Stichwahl zwischen dem liberalen Kandidaten und Stoecker komme, werde Bismarck offen für den letzteren stimmen. Nach den Wahlen soll der Kanzler gesagt haben:
»Ich wollte erst diese Agitation für Stoecker als Antisemit nicht, sie war mir unbequem und ging zu weit. Jetzt aber freue ich mich darüber, daß der Hofprediger gewählt ist. Er ist ein tätiger, furchtloser, standhafter Mann und hat ein Maul, das nicht tot zu machen ist.«98)
Es ist bezeichnend für die damalige öffentliche Meinung in Deutschland, daß sowohl der organisierte Antisemitismus wie auch seine liberalen Gegner sich auf Äußerungen stützten, die der allmächtige Reichskanzler im Laufe seiner langen politischen Tätigkeit irgendeinmal getan hatte. Ob Bismarck wirklich ein Freund oder ein Feind der Juden war, ist viel diskutiert worden. Eingehend hat man seine offiziellen Reden und privaten Unterhaltungen, die Briefe und Memoiren seiner Freunde wie die seiner Feinde daraufhin untersucht. Otto Jöhlingers Buch »Bismarck und die Juden«99) enthält eine gründliche Zusammenstellung solchen Materials, nur hat der Verfasser das Thema recht apologetisch behandelt. Der eigentliche Kern der Kontroverse, der politische Aspekt, kommt bei ihm wie auch in den meisten anderen Fällen zu kurz.
Man kann leicht nachweisen, daß die persönlichen Beziehungen des Kanzlers zu Juden wie auch sein allgemeines Verhalten ihnen gegenüber freundlich waren; natürlich wahrte er stets aristokratische Distanz. Als er einmal im Gespräch mit einem Freund auf die Ursache der antisemitischen Bewegung zu sprechen kam, bemerkte er, es sei eine Tatsache, daß Juden anderen Bevölkerungselementen im Geschäftsleben überlegen seien100). Damit erkannte er nur eine Fähigkeit an, von der er–dank Bleichröder–selbst profitierte, die er aber nicht allzu gerne sich selber nachsagen lassen wollte, obwohl er außerordentliches Talent für die Verwaltung seiner privaten Geschäftsangelegenheiten zeigte. In jenem Gespräch fügte er hinzu, diese Tatsache und ihre Folgeerscheinungen könnten nicht geändert werden, ohne zu Methoden wie denen der Pariser Bartholomäusnacht zu greifen; daran aber dächten nicht einmal die wildesten Antisemiten. Bismarck sprach als ein Aristokrat, der sich über rein geschäftliche Angelegenheiten der Konkurrenzwirtschaft nicht ernstlich aufregen kann. Die bereitwillige Anerkennung jüdischer Begabung für gewisse Berufe war weit verbreitet im kaiserlichen Deutschland und keineswegs auf konservative Kreise beschränkt. Diese Anerkennung fand ihre genehme Kehrseite in der Überzeugung, für bestimmte andere Berufe seien Juden durchaus ungeeignet, nämlich für solche, deren Angehörige sozusagen von Natur aus hof- und satisfaktionsfähig zu sein hatten (100a).
Es kommt in unserer Betrachtung weniger auf Bismarcks persönliche Neigungen und Abneigungen an als auf die Beweggründe seiner politischen Handlungen. Ihm das Hochkommen des konservativ-klerikalen Antisemitismus zur Last zu legen, wie es einige Geschichtsforscher getan haben, wäre ebenso falsch, wie ihn davon freizusprechen, den politischen Antisemitismus als einen willkommenen Verbündeten in seinem Kampf gegen Liberale und Sozialisten geduldet und oft genug gefördert zu haben. Bismarck muß als der erste große Manipulator des Antisemitismus im modernen Deutschland betrachtet werden, und zwar gerade deswegen, weil er weder rassische noch religiöse Vorurteile gegen Juden hatte und die Juden als solche gar nicht sein Ziel waren, als er die antisemitische Agitation unterstützte.
Nach 1881 begann Bismarck, sein Interesse an Stoecker zu verlieren. Trotz der offiziellen und inoffiziellen Förderung, die den Konservativen zuteil wurde, und trotz der Unterdrückung der Sozialdemokratischen Partei hatten die Wahlen den Antisemiten nicht den erwarteten großen Sieg gebracht. Aber es ging auch ohne sie. Im neuen Reichstag gab es eine Mehrheit, die willens war, die Regierung in ihrem Programm zu unterstützen. Das lag hauptsächlich an dem Zerfall der Nationalliberalen Partei. Ihr linker Flügel unter Bamberger und Forckenbeck, der gegen den neuen Kurs der Regierung war, fiel ab und konstituierte sich als Liberale Vereinigung. Die »Sezessionisten«, die später, 1884, zur Fortschrittspartei stießen und mit ihr eine neue Organisation bildeten – die Freisinnige Partei – errangen im Reichstag von 1881 siebenundvierzig Sitze, zwei mehr als die Nationalliberalen, die jetzt auf den fünften Platz zurückgefallen waren, während sie im Reichstag von 1874 die stärkste Fraktion gebildet hatten.
In Berlin jedoch durfte sich die antisemitische Bewegung über den Ausgang der Wahl freuen. 1878 hatten die Konservativen nur 14 000 Stimmen erhalten, gegenüber 86 000 fortschrittlichen und 56 000 sozialdemokratischen; 1881 aber brachten sie es auf 46000 gegen 89000 fortschrittliche und 30 000 sozialdemokratische Stimmen. Stoecker selbst wurde gewählt–zwar nicht in Berlin, aber in dem streng protestantischen Wahlbezirk Siegen in Westfalen. Von 1881 bis 1908, mit Ausnahme der Wahlperiode 1893 bis 1898, war er im Reichstag und von 1879 bis 1898 auch im preußischen Abgeordnetenhaus. In beiden Parlamenten schloß er sich sofort der konservativen Fraktion an.
Die Jahre 1881 bis 1884 können als die Zeit des größten Stoeckerschen Triumphes angesehen werden. Die kaiserliche Botschaft, mit der Bismarck sein Sozialreformprogramm dem neugewählten Reichstag vorlegte, mußte dem christlichsozialen Führer als ein persönlicher Sieg erscheinen. Die Regierungsvorlage, stellte er fest, »ist nach der einen Richtung hin, als Programm der Sicherung der Arbeiter-Existenz auf Grund von christlich gedachten Korporationen, nahezu die Erfüllung der christlich-sozialen Hoffnungen«101). Den Text der Botschaft, der emphatisch von den »sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens« sprach, pries Stoecker als den Beginn einer neuen kulturellen Entwicklung, als einen der Höhepunkte in der Geschichte des sozialen Gedankens. Die geistige Einheit zwischen seiner Bewegung und der staatlichen Autorität schien hergestellt zu sein.
Eine anerkennende Geste von Allerhöchster Stelle ließ auch nicht auf sich warten. Im Frühling 1882 machte der Kaiser der Berliner Bewegung seine Aufwartung, indem er am Vorabend seines Geburtstages Stoecker und einigen von dessen Mitarbeitern eine Audienz gewährte. Dr. Cremer, Professor Dr. Adolph Wagner und der Berliner Kaufhausbesitzer Rudolf Hertzog(102) waren anwesend. Stoecker hielt eine Ansprache und verlas eine Gratulationsadresse.
»Da sagte unser Kaiser«, berichtet Stoecker, »der in seiner schlichten königlichen Rede den Nagel so oft auf den Kopf trifft: ›Wenn das vergangene Jahr den Herrscher des autokratischsten Landes, den russischen Kaiser, und den Präsidenten des freiesten Volkes, der aus der Wahl dieses Volkes hervorgegangen ist, das Leben gekostet hat, wer ist dann noch sicher?‹«103)
Solange diese Interessengemeinschaft mit der Regierung andauerte, war Stoeckers Stellung so stark, daß auch einige peinliche Vorfälle sie nicht ernstlich erschüttern konnten. Einer davon war ein Skandal, den er 1883 in London durch zwei Reden hervorrief, die Bismarck in Wut brachten und den Kaiser ungnädig stimmten. Stoecker hatte der Einladung zu einer Luther-Gedenkfeier in London Folge geleistet und dort in zwei öffentlichen Versammlungen über die Sozialreformbewegung und seine Christlichsoziale Partei gesprochen; die liberale Stadt war aufgebracht. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung zog der Lord Mayor die schon erteilte Erlaubnis für einen Vortrag im Mansion House, seiner amtlichen Residenz, zurück; die Veranstaltung mußte anderswo abgehalten werden. Deutsche Sozialdemokraten, vom Sozialistengesetz ins Exil getrieben, kamen in großer Zahl und sprengten die Versammlung. Stoecker mußte durch eine Hintertür fliehen. Der »Sozialdemokrat« berichtete darüber:
»Unsere Genossen waren hergekommen, nicht um zu diskutieren, sondern um Herrn Stoecker und in seiner Person Bismarck, seinem Patron, und den regierenden Klassen Deutschlands ihren Haß und ihre Verachtung in möglichst unzweideutiger Weise kundzugeben, auf die Mundtotmachung unserer Genossen in Deutschland zu antworten.«104)
Nicht weniger peinlich gestaltete sich ein Beleidigungsprozeß, den Stoecker 1884 gegen eine Berliner Zeitung anstrengte; sie hatte während der Wahlkampagne unter dem Titel »Hofprediger, Reichstagskandidat und Lügner« einen Artikel erscheinen lassen, in dem Stoecker unter anderem des Meineids bezichtigt wurde. Auf Monate hielt der Prozeß Berlin und ganz Deutschland in Spannung; er gestaltete sich zu einer politischen Niederlage für Stoecker, obwohl der angeklagte Redakteur schließlich wegen Formalbeleidigung zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten, herabgesetzt auf drei Wochen, verurteilt wurde. Da er als Jude einer Konfession angehöre, die der Nebenkläger Stoecker dauernd angegriffen hatte, wurden ihm mildernde Umstände zugebilligt. Das Gericht erklärte ausdrücklich:
»Derjenige müßte seinen Glauben und den seiner Väter nicht lieb haben, der schließlich nicht tief gereizt und innerlich empört würde, wenn er Angriffe sieht und wieder sieht auf seinen Glauben und die Gleichberechtigung seines Glaubens, zumal wenn diese Angriffe von einem Geistlichen kommen.«105)
Zwei hervorragende Rechtsanwälte, einer von ihnen selbst ein Jude, vertraten den Angeklagten; für die Atmosphäre der Verhandlung war es bezeichnend, daß der vorsitzende Richter sich wiederholt versprach und den Nebenkläger – Stoecker – als Angeklagten bezeichnete. Bald darauf wurde Stoecker wirklich zum Angeklagten, als ihn ein liberaler Gegner in seinem Wahlbezirk wegen Verleumdung vor Gericht brachte. Er kam mit einer Geldstrafe davon.
An Propagandamaterial gegen Stoecker fehlte es also nicht. Seine politischen Gegner ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, die Prozesse nach Kräften auszuwerten. Der Vorsitzende der Fortschrittspartei begrüßte nach dem gegen den Redakteur angestrengten Prozeß dessen Anwälte in einer öffentlichen Erklärung, in der es hieß:
»Die antisemitische Bewegung konnte durch nichts besser charakterisiert werden als durch die gerichtliche Feststellung der sittlichen Qualitäten ihres Hauptführers.«106)
Die liberale Presse begrüßte die Gerichtsentscheidung mit der größten Genugtuung; sogar die Konservative Korrespondenz, das halboffizielle Organ der Konservativen Partei, brachte einen unfreundlichen Artikel über Stoecker, und selbst der kaiserliche Hof, der sich von öffentlichen Auseinandersetzungen solcher Art fernzuhalten pflegte, sah sich schließlich gezwungen, Stellung zu nehmen. »Seine Majestät waren darauf hingewiesen worden«, daß Volksaufwiegelung unvereinbar sei mit dem Amte eines Hofpredigers, dessen »politisches Treiben geeignet sei, auf Allerhöchstdieselbe zu reflektieren«, wie aus den Akten des Kaiserlichen Zivilkabinetts hervorgeht107). In der Tat trug sich der alte Wilhelm I. ernstlich mit dem Gedanken, Stoeckers Rücktritt von seinem Amt zu verlangen, als dieser durch einen hochgestellten Bewunderer gerettet wurde, Prinz Wilhelm, den späteren Kaiser Wilhelm II. In einem handschriftlichen vierseitigen Brief an den Kaiser vom 5. August 1885, den Stoeckers Biograph Frank im Preußischen Hausarchiv später einsehen und inhaltlich wiedergeben, aber nicht textgetreu veröffentlichen durfte108), meldete der Prinz seinem Großvater, die Juden hätten den Prozeß absichtlich herbeigeführt, um Stoecker eine Falle zu stellen; als Beweismaterial für die Heimtücke der jüdischen Presse fügte er Zeitungsausschnitte bei. Er wußte auch zu berichten, das deutsche Volk sei über dieses jüdische Manöver sehr erbost, und man habe ihn selbst gebeten, seinen Großvater über den Hintergrund der Intrige aufzuklären. Gestützt und getrieben von Sozialdemokraten und Fortschrittlern – schreibt der Prinz – hätten die Juden es unternommen, Stoecker zu vernichten; es sei bedauerlich, daß das Judentum durch seine Presse im deutschen Reich genügend Macht errungen habe, um sich auf einen solchen Anschlag einlassen zu können. Er habe sich entschlossen, dem Kaiser zu schreiben, nachdem er erfahren habe, daß die Juden sogar am kaiserlichen Hof Einfluß besäßen.
Dann geht der Brief dazu über, Stoeckers Verdienste um die Sache der Monarchie zu preisen. Der Prediger habe gewiß manche Fehler, aber er sei der beste Förderer der Hohenzollernmonarchie und ihr mutigster und angriffslustigster Vorkämpfer unter dem Volke; in Berlin allein habe er den Sozialdemokraten und der Fortschrittspartei 60 000 Arbeiter abspenstig gemacht. Schließlich hob der Brief noch Stoeckers Anstrengungen für die Wohltätigkeits- und Sozialbestrebungen hervor, wodurch er die Sympathien Augusta Viktorias, der Gattin des Prinzen, gewonnen habe. Die Prinzessin machte sich den Appell ihres Gemahls zu eigen; sie flehte den Kaiser an, sie nicht eines ihrer besten Mitarbeiter auf dem Gebiete praktischen Christentums zu berauben. Der Prinz hatte Erfolg: der Kaiser erneuerte nur seine Warnung, Stoecker solle in Zukunft seine soziale und politische Tätigkeit mehr mit den Erfordernissen seiner hohen Stellung in Übereinstimmung bringen.
Aber Stoeckers Stern war im Sinken. Die ihm von oben gezeigte Gunst verebbte, als sich der Kurs der Regierungspolitik wieder einmal änderte. Zur selben Zeit ging die Führung des politischen Antisemitismus in die Hände von Männern über, die nicht von Traditionen eingeengt waren, auf die der Hofprediger Rücksicht nehmen mußte. Ein neuer Typ von Antisemitismus begann sich auszubreiten, frei von christlicher oder konservativer Färbung und oft im Gegensatz zu den Interessen der Kirche und der Junker. Das Zentrum der neuen Bewegung lag nicht mehr in Berlin, sondern in den Provinzen, besonders in Sachsen, Westfalen und Hessen.