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KAPITEL IV Stoeckers Niedergang (1886-1890)
ОглавлениеUm die Mitte der achtziger Jahre war die Politik der kaiserlichen Regierung auf zwei Hauptziele gerichtet: auf die Erwerbung von Kolonien und die Verstärkung der Armee. Die Zentrumspartei, die seit einigen Jahren der Regierungskoalition angehörte, zögerte, sich das Regierungsprogramm zu eigen zu machen. Bismarck brauchte zur Rückendeckung eine neue parlamentarische Mehrheit. Die Nationalliberale Partei hatte sich, nach ihren großen Verlusten und der Abspaltung ihres linken Flügels (1880), unter der Führung von Johannes Miquel reorganisiert und war nun darauf bedacht, sich mit dem Kanzler wieder gut zu stellen. In ihrer »Heidelberger Erklärung« vom 23. März 1884 proklamierte sie ihre Zustimmung zu Bismarcks Wirtschafts-, Militär- und Außenpolitik. Sie werde, hieß es in der Erklärung, »unablässig für die Erhaltung einer starken deutschen Heeresmacht eintreten und kein notwendiges Opfer scheuen, um die Unabhängigkeit des Vaterlandes allen Wechselfällen gegenüber sicherzustellen«109). Die Partei befürwortete auch nachdrücklich die Fortsetzung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie. Die Unterzeichner der Heidelberger Erklärung »werden bereitwillig der Reichsregierung die zur Abwehr staatsgefährlicher Umtriebe erforderlichen Machtmittel gewähren und erachten deshalb die Verlängerung des Sozialistengesetzes für dringend geboten«.
Reumütig und mit reorganisiertem Parteiapparat wurden die Nationalliberalen genau zu dem Zeitpunkt wieder regierungstreu, als Bismarck ihre Unterstützung am dringendsten brauchte. Sie gingen ein enges Bündnis mit den beiden konservativen Parteien ein, den Deutsch- und den Frei-Konservativen, und bildeten das sogenannte »Kartell«. Es wurde das parlamentarische Rückgrat der Regierung für das nächste Jahr und bewies seine Stärke in der »Kartell-Wahl« von 1887. Diesmal war der Reichstag aufgelöst worden, weil er dem Verlangen der Regierung, das Militärbudget wieder auf sieben Jahre im voraus zu bewilligen, nicht nachgegeben hatte110). Die Freisinnigen – so nannten sich die Fortschrittler seit ihrer Verschmelzung mit dem ehemaligen linken Flügel der Nationalliberalen – und das Zentrum waren bereit, den Heeresetat zu erhöhen, aber nur auf drei Jahre. Es war der Versuch, die parlamentarische Kontrolle über das Militär wenigstens in Spuren zu bewahren, ein schwaches Echo jenes Kampfes zwischen den Liberalen und Bismarck im Verfassungskonflikt von 1862–66. Auch diesmal setzte Bismarck seine Forderung durch. Zwanzig Jahre zuvor war ein siegreicher Krieg nötig gewesen, um die liberalen Kräfte zu spalten. Diesmal reichte schon die Kriegsdrohung. General Boulanger war französischer Kriegsminister geworden, und eine antideutsche kriegsfreundliche Gruppe gewann größeren Einfluß auf die Politik Frankreichs. Deutschlands Beziehungen zu Rußland waren zweifelhaft. Die verstärkte Propaganda für deutsche Kolonialforderungen hatte die deutsche öffentliche Meinung stark gegen England aufgebracht. »Das Vaterland ist in Gefahr!« wurde die Wahllosung der Kartellparteien. Die Einberufung der Reservisten für Wintermanöver gab der Kampagne der »Angstwahlen« die Atmosphäre eines unmittelbar bevorstehenden Kriegsausbruchs. So gelang es den drei »staatserhaltenden« Parteien des Kartells, mit 220 von 397 Reichstagssitzen eine ausreichende Mehrheit zu gewinnen. Die Freisinnigen verloren mehr als die Hälfte ihrer Mandate von 1884: von 67 blieben ihnen nur 32. Auch die Sozialdemokratie wurde durch die nationalistische Stimmung geschwächt: ihre Sitze verringerten sich von 24 auf 11. Dagegen konnten die Nationalliberalen ihre Sitze fast verdoppeln (51:99). Beim Zentrum allein änderte sich nichts: von den 99 Mandaten, die es 1884 errungen hatte, verlor es nur eins. Aber das Zentrum vermied einen ernstlichen Kampf gegen die Militärvorlage schon deswegen, weil der Papst Bismarcks Aussöhnung mit dem Katholizismus nicht gefährden wollte. Die Zentrumsabgeordneten enthielten sich der Stimme. Noch im Jahre 1887 konnte so Papst Leo XIII. den Kardinälen mitteilen, der Kulturkampf sei vorüber, und ein Jahr später, als der junge Kaiser Wilhelm II. zu einer aktiven Kolonialpolitik aufrief – »für die Abschaffung der Sklaverei« und um der christlichen Kultur willen – schwenkte das Zentrum zur Kolonialpolitik des Kartells um.
Stoecker geriet durch die Kartellbildung in eine schwierige Lage. Es war wichtig für die neue Koalition, Reibungen unter den Teilnehmern zu vermeiden. Die Nationalliberalen jedoch, die vor nicht so langer Zeit noch als die »Partei der Juden« bekannt waren, wußten, daß sie von Freisinnigen und Sozialdemokraten wegen ihres Bündnisses mit einer Partei, die Stoecker deckte, angegriffen werden konnten. »Wir müssen uns davon frei machen«, schrieb der nationalliberale Führer Rudolf von Bennigsen an Miquel, »daß eine Unterstützung des Stoeckerschen antisemitischen Demagogentums uns durch die Gegner noch weiter angehängt wird.«111) Vorsicht und Mäßigung in antisemitischer Agitation waren jetzt unumgänglich, um Konservative und Nationalliberale beieinander zu halten. Stoeckers Bewegung lag als Hindernis auf dem Wege der neuen Verbindung.
Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Bismarcks Sprachrohr, forderte am 23. September 1885 Stoecker mit scharfen Worten auf, die Tätigkeit der christlichsozialen Bewegung auf das Gebiet der kirchlichen Wohlfahrtspflege zu beschränken. Die Konservativen wurden merkbar vorsichtiger in der Auswahl von Wahlkandidaten und unterließen es, notorische Antisemiten für Berlin aufzustellen.
Stoeckers enge Verbindung mit den Konservativen wurde jetzt auch für die Christlichsoziale Partei eine schwere Belastung. Er war im preußischen Landtag und im Reichstag zu einem Wortführer der Konservativen geworden. So war die Christlichsoziale Partei durch ihren Vorsitzenden in all die politischen Gefahren verstrickt worden, die sich aus der Art und Weise ergaben, wie Bismarck mit Parteien und Parteigruppierungen umsprang. Einerseits profitierte sie von den Vorteilen, die sich aus der Unterstützung der Regierung durch die Konservativen ergaben, andererseits aber mußte sie, wenn die Konservativen gegen Bismarck auftraten, alle Nachteile einer Oppositionspartei in Kauf nehmen. Das konnte angehen, solange die Konservativen das Bündnis mit den Antisemiten nicht als Hindernis für eine vorteilhaftere politische Verbindung empfanden. Das gerade taten sie jetzt. Die konservativ-nationalliberale Allianz bedeutete den Untergang für die Berliner Bewegung als einer Koalition antiliberaler und antisemitischer Gruppen. Nur der unentwegte Kreuzzeitungsflügel polemisierte gegen das Kartell und trat für eine Zusammenarbeit der Konservativen mit dem Zentrum ein. Gestützt auf diese rechte Opposition konnte Stoecker weiterhin Bismarcks »Politik der Mitte« angreifen. Die Christlichsoziale Partei aber fand sich in einer ausweglosen Situation: solange die Regierung sich auf die Nationalliberalen stützte, eine der beliebtesten Zielscheiben für Stoeckers antisemitische Attacken, und solange das Kartell zusammenhielt, blieb der Partei nichts anderes übrig, als die Regierung selber zu bekämpfen. Aber »eine Oppositionspartei unter Führung eines Hofpredigers war … in Preußen ein unmöglicher Gedanke«112).
Noch mehr kompromittierte sich Stoecker, als er in eine Intrige gegen Bismarck verwickelt wurde; sie stand unter Graf Alfred von Waldersees Führung, der damals stellvertretender Chef des Generalstabes und Generalquartiermeister der Armee war. Bismarck hatte Waldersee im Verdacht, auf die Kanzlerstellung zu aspirieren und sich bei Prinz Wilhelm, dem Thronfolger, einzuschmeicheln. Auf Anregung des Prinzen lud Waldersee im November 1887 eine Anzahl Würdenträger ein, die darüber beraten sollten, wie Gelder für die Berliner Stadtmission aufgebracht werden könnten. Prinz und Prinzessin Wilhelm, Stoecker, der preußische Innenminister von Puttkamer und andere Minister, Hofleute und führende Konservative waren anwesend. Waldersee sprach über die Dringlichkeit, »anarchistische« Tendenzen mit geistigen und materiellen Mitteln zu bekämpfen; die Mission müsse ein Sammelbecken werden für alle diejenigen, die treu zum König hielten und patriotischen Idealen huldigten. Er regte an, aus allen Teilen des Reiches ein Komitee zur Förderung der Mission zusammenzurufen und unter das Patronat des Prinzen zu stellen. Mit Wärme ging der Prinz auf diesen Vorschlag ein, denn er sei besorgt über die geistige Verkommenheit der Berliner Massen und über die Kräfte sozialer Zerstörung, die nur durch christliche und soziale Gesinnung überwunden werden könnten.
Die liberale und regierungsfreundliche Presse zog sofort die politischen Folgerungen aus der Zusammenkunft und griff den Kreis um Waldersee als einen ehrgeizigen klerikal-konservativen Klüngel an, der versuche, den künftigen Kaiser für seine eigenen Zwecke einzuspannen.
»An demselben Abend brach in Berlin und Wien der Sturm los«, schrieb Stoecker später darüber. »Was die Berliner Juden aus Furcht vor Strafe nicht den Mut hatten, zu sagen, das sagten die Wiener; es war ein schlimmes Treiben … aber … gefährlich war es nicht. Was ging diese Fremdlinge, die Feinde unseres Glaubens, ein christliches Hilfswerk an? Man konnte ihre boshaften Äußerungen verachten und tat es auch. Da mit einem Male hörte man ein Pfeifen wie das eines herannahenden Föhns im hohen Gebirge. Die ‚Norddeutsche Allgemeine Zeitung' warf sich mit einem wilden Artikel auf die Christlich-Sozialen … Jetzt schrieb das offiziöse Blatt: die christlich-soziale Partei sei einseitig konfessionell und überhaupt keine politische Partei; sie sei das tote Gewicht der Berliner Bewegung, mit dem sich die Kartellparteien nicht amalgamieren sollten; nicht sie sei der Sauerteig der Berliner Bewegung, sondern der Antisemitismus allein. – Dieser Artikel war das Signal zum allgemeinen Angriff. Von wem er ausging, konnte nicht zweifelhaft sein …«113)
Bismarck erklärte später, weder er noch sein Sohn sei der Verfasser dieses und der darauf folgenden Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen gewesen114). Aber wie ernst er die intime Zusammenkunft des Prinzen mit Waldersee und Stoecker nahm, zeigen seine Memoiren. Im dritten Band seiner »Gedanken und Erinnerungen«, in dem er seine Beziehungen zu Prinz Wilhelm beschreibt, befaßt sich das erste Kapitel fast nur mit der Waldersee-Angelegenheit und dem daraus entstandenen Briefwechsel mit dem Prinzen über Stoecker. Er riet dem Prinzen dringend ab, die Schirmherrschaft über die Mission zu übernehmen, und »sich vor der Thronbesteigung schon die Fessel irgendwelcher politischen oder kirchlichen Vereinsbeziehungen aufzuerlegen«115). Diese Auseinandersetzung legte den Keim für die Entfremdung zwischen dem Kanzler und dem künftigen Herrscher.
Hinter jener dringenden Warnung Bismarcks lag mehr als persönliche Rivalität mit Waldersee. Zwar sollte der Hieb auf Stoecker gewiß Waldersee als möglichen Kanzler des Prinzen Wilhelm ausschalten; es ist bekannt, wie eifersüchtig und mißtrauisch Bismarck gegen Persönlichkeiten war, in denen er potentielle Nachfolger argwöhnte, wie schonungslos er sie aus dem Wege räumte. Aber hier ging es um ernstere Fragen. Der alternde Staatsmann beobachtete mit steigender Besorgnis und Gereiztheit jede neue Entwicklung, von der die noch ungefestigte Struktur des Reiches bedroht werden könnte. Würde sie dem wachsenden Druck innerer Konflikte standhalten? Würde sein Regierungssystem, das zwar nicht parlamentarisch, aber auch nicht gegen solche Konflikte geschützt war, allen Gefahren widerstehen? Bismarcks Vertrauen in seine eigene Fähigkeit, die Zukunft des Reiches zu sichern, mag unbegrenzt gewesen sein, aber seine Macht war es nicht.
Die Stellung des Reichskanzlers war entscheidend geschwächt durch ihre strikte Abhängigkeit vom Kaiser. Da Bismarck die Parteien von oben herab zu behandeln pflegte, konnte er sich auf keine von ihnen unbedingt verlassen. Er war auch nicht der anerkannte Wortführer irgendeiner bestimmten sozialen Gruppe. Die besonders im Ausland verbreitete Annahme, er sei vor allem der Vertreter seiner eigenen Kaste, der Junker, gewesen, ist völlig abwegig. Selbst die preußische Armee blieb nur so lange ein williges Werkzeug in seiner Hand, als er das uneingeschränkte Vertrauen des Königs besaß. Wilhelm I. war allerdings völlig auf seinen Kanzler angewiesen. Solange der Kaiser lebte, durfte Bismarck hoffen, durch geschicktes Manövrieren oder, falls nötig, durch Verfassungsbruch die undemokratische Struktur des Reiches bewahren zu können. Aber sobald einmal der ehrgeizige junge Wilhelm II. Kaiser sein würde, bestand die Gefahr eines tiefen Konflikts zwischen Regierung und Reichstag, der dem jungen Staat zum Verhängnis werden könnte. Im Kartell wollte Bismarck eine repräsentative und dauernde Verbindung aller staatstreuen Kräfte schmieden, auf denen sein Reich beruhte: Aristokratie, Armee, Beamtenschaft und gemäßigt liberales, aber nationalgesinntes Bürgertum. Vereinigt sollten sie stark genug sein, die Sozialdemokraten in Schach zu halten und die Schritte des jungen Kaisers zu lenken. Das Kartell war die Voraussetzung für eine stabile Regierung. Als Bismarck es durch Stoeckers Oppositionsgruppe innerhalb der Konservativen gefährdet sah, schlug er mit aller Macht zurück. Er warnte den Prinzen:
»Es gibt Zeiten des Liberalismus und Zeiten der Reaktion, auch der Gewaltherrschaft. Um darin die nötige freie Hand zu behalten, muß verhütet werden, daß Ew. Hoheit schon als Thronfolger von der öffentlichen Meinung zu einer Parteirichtung gerechnet werden. Das würde nicht ausbleiben, wenn Höchstdieselben zur inneren Mission in eine organische Verbindung treten, als Protector.«116)
Bismarcks Autorität und die Erregung, die Waldersees Schachzüge allenthalben hervorgerufen hatten, veranlaßten den Prinzen, die Mission fallen zu lassen. Mit Sorge sah Stoeckers Kreis, wie der Kanzler den künftigen Kaiser für seine Kartellpolitik gewann. »Es hat seitdem jede persönliche Berührung des Hofes mit der Stadtmission und ihrem Leiter aufgehört. Beide sind seitdem in gewissen hohen Kreisen vervehmt«, klagte Stoeckers ergebener Biograph117).
Im März 1888 starb Wilhelm I. Friedrich III., sein schwerkranker Sohn, auf dessen liberale Gesinnung die Freisinnigen so große Hoffnungen gesetzt hatten, und dem der Ausspruch zugeschrieben wird, die antisemitische Bewegung sei »die Schmach des Jahrhunderts«, regierte nur drei Monate lang. Er war entschlossen, der antisemitischen Agitation ein Ende zu bereiten, und stellte den Fall Stoecker gleich bei der ersten Zusammenkunft seines Kronrates zur Debatte. Da Kaiser und Kanzler sich einig waren, schien Stoeckers Schicksal besiegelt. Aber wiederum kamen politische Erwägungen dazwischen. Bismarck gelang es, den Kaiser davon abzubringen, Stoecker ohne weiteres aus seinem Amt als Hofprediger zu entfernen. Zum dritten Male wurde entschieden, Stoecker bedingungslos zwischen seinem Amt und seiner politischen Tätigkeit wählen zu lassen.
Bismarcks Intervention für Stoecker kam nicht etwa aus einer plötzlichen Sympathie für seinen bisherigen Widersacher. Er wollte Stoecker beseitigen, aber nicht durch einen aufsehenerregenden Gewaltstreich, aus dem die Freisinnigen, seine alten Gegner, die schon seit langem die Entlassung des Hofpredigers verlangt hatten, Nutzen ziehen könnten. Für Bismarcks Zwecke war es ausreichend, Stoecker von der Politik fernzuhalten. Die Entscheidung des Kronrates wurde Stoecker erst im Frühjahr 1889 mitgeteilt, als Wilhelm II. schon den Thron bestiegen hatte. Stoecker entschied sich für sein Hofpredigeramt.
Das Abkommen, das er nach einer Unterredung mit einem Vertreter des Kaiserlichen Hofes selbst entwarf, hatte folgenden Wortlaut:
»Da Se. Majestät eine Tätigkeit, wie ich sie bisher im politischen Leben Berlins ausgeübt habe, mit dem Amte eines Hofpredigers für unvereinbar halten, ist es selbstverständlich, daß ich dieselbe aufgebe, so lange Se. Majestät mir dies Amt anvertrauen. Nach den gemachten Erfahrungen habe ich auch zunächst jede Freudigkeit verloren, den öffentlichen Kampf gegen den Umsturz auf politischem, sozialem und religösem Gebiete in der bisherigen Weise fortzusetzen. Es hat deshalb für mich unter den gegenwärtigen Verhältnissen keine Schwierigkeit, sondern entspricht meiner Neigung, den politischen Parteikampf überhaupt für mich wie für die christlich-soziale Partei einzustellen. Ich werde diesen Teil meiner Tätigkeit anderen überlassen und meine Vorträge nach Thema, Inhalt und Ton so einrichten, daß sie Seiner Majestät keinen Anstoß geben können. Ich werde, wenn ich öffentlich zu reden habe, nur religiöse, patriotische und soziale Gegenstände besprechen, und die letzteren nur so weit behandeln, als sie unter den Gesichtspunkt des Christentums, der Kirche und der Inneren Mission fallen. Sollte ich später von Gewissens wegen mich veranlaßt sehen, im Interesse des Vaterlandes oder der Kirche den Kampf wieder aufzunehmen, so werde ich Sr. Majestät davon pflichtmäßige Mitteilung machen und Allerhöchstderselben alles weitere untertänigst anheimstellen.«118)
Stoecker ließ sich in seiner Entscheidung von mehreren Gründen leiten. Das Kartell, glaubte er, habe bald abgewirtschaftet, ein offener Konflikt mit dem Kaiser aber könne auf seine Freunde und Förderer rückschlagen und ihre Kräfte brachlegen.
»Ein erfolgreicher agitatorischer Kampf gegen den Umsturz ist in Deutschland nicht möglich ohne die freudige Mithilfe der christlich-sozialen und starkkonservativen Kreise, die jetzt zurückgestoßen sind.«119)
Von nun an wurden Stoeckers Schritte scharf überwacht. Seine kirchlichen Vorgesetzten verweigerten ihm die Erlaubnis, im Ausland Vorträge zu halten. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde er verwarnt wegen Äußerungen, die nach kirchlicher Ansicht dem Geiste des Abkommens zuwiderliefen. Aber trotz der Spannungen mit Kirche und Regierung waren seine politischen Aussichten durchaus nicht hoffnungslos. Die Zeit schien für ihn zu arbeiten. Seine Warnung, die »Umstürzler« könnten nicht durch die einzige Waffe, die den Mittelparteien zur Verfügung stand, die nationale Idee, besiegt werden, begann sich zu bewahrheiten. Im Februar 1890 wurde das Kartell in den Reichstagswahlen vernichtend geschlagen. Nur ein gutes Drittel der Reichstagssitze verblieb den drei Kartellparteien; die Nationalliberalen gingen von 99 auf 42 Mandate zurück, die Deutschkonservativen von 80 auf 73, die Frei-Konservativen von 41 auf 21. Die Freisinnigen aber gewannen mehr als das Doppelte, 67 statt 32 Mandate, und die Sozialdemokraten verdreifachten ihre Sitze, von 11 auf 35. Das Zentrum war mit 106 statt 98 Mandaten zur stärksten Fraktion geworden. Die Angstpropaganda hatte ihre Zugkraft verloren. In den Großstädten hatten die Industriearbeiter ihren Protest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, eine Folge der Schutzzollpolitik, zum Ausdruck gebracht. In Berlin übertraf die Zahl der sozialdemokratischen Wahlstimmen die jeder anderen Partei. Ein weiteres Ansteigen der Sozialdemokratie schien unvermeidlich, denn am 1. Oktober 1890 lief das Sozialistengesetz ab, dessen Verlängerung die neue Reichstagsmehrheit – Zentrum, Freisinnige, Sozialdemokraten, 208 von 397 Abgeordneten – abgelehnt hatte120).
Das Ende des Ausnahmegesetzes ist interessant. Bismarck hatte beim neuen Reichstag den Entwurf für ein nicht mehr befristetes Gesetz eingebracht, das die Sozialdemokratie noch stärker unterdrückte. Die Nationalliberalen waren gewillt, für ein unbefristetes, aber milderes Gesetz zu stimmen, den Konservativen war es nicht streng genug. Bismarck hätte zweifellos eine Einigung zwischen den beiden Gruppen erreichen können, unterließ jedoch den Versuch dazu. Delbrück121), Luckwaldt122), Herkner123) und andere Historiker sind der Meinung, Bismarck habe die Ablehnung seines Gesetzentwurfes erwartet und gewünscht, weil er den jungen Kaiser davon überzeugen wollte, daß die Unterdrückung der Sozialisten durch Gesetz nicht mehr möglich sei, es bliebe nur die Außerkraftsetzung der Verfassung – die Wiedergutmachung des »größten Fehlers seines Lebens«, der Gewährung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts – und die Unterdrückung der Sozialdemokratie durch Waffengewalt. Aber der Kaiser lehnte den Plan ab, wie auch einen letzten Versuch Bismarcks, die Koalition von Konservativen und Zentrum wieder ins Leben zu rufen. Im Gegensatz zum Kanzler war Wilhelm II. davon überzeugt, die Massen der Industriearbeiter durch erweiterte soziale Gesetzgebung zurückgewinnen zu können.
Die Arbeiterschutzgesetzgebung hatte schon seit längerem zu prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen Wilhelm und Bismarck geführt. Bismarck war in seinen Erwartungen, durch soziale Gesetzgebung sich die Sympathien der Arbeiter gewinnen zu können, schwer enttäuscht worden. Statt sich dankbar zu zeigen, hatten die Arbeiter sozialdemokratisch gewählt. Was der Kanzler und seine Freunde als einen Akt der Großmut ansahen, bezeichnete die Sozialdemokratie als widerwillig gegebene und unzulängliche Teilerfüllung ihrer berechtigten Ansprüche. Daß gar manche der prominenten Sozialistenführer, wie Paul Singer, Juden waren, ließ sie doppelt undankbar erscheinen. Und als nun gerade zu der Zeit, da Bismarck den innerpolitischen Knoten nur noch durchhauen zu können glaubte, der erst siebenundzwanzig Jahre alte Kaiser auf den Rat seines ehemaligen Erziehers Hinzpeter, aber, wenigstens indirekt, wohl auch unter Stoeckers Einfluß, Bismarck erklärte, er wolle den Arbeitern helfen, nicht aber auf sie schießen lassen, kam es zum Bruch. Im März 1890 erzwang der Kaiser Bismarcks Rücktritt, formell wegen einer Meinungsverschiedenheit über Bismarcks Befugnisse als Preußischer Ministerpräsident, in Wirklichkeit, weil eine Verständigung über die Lösung der »sozialen Frage« zwischen ihnen unmöglich geworden war.
Vorsichtig zunächst, und dann immer kühner, brach Stoecker nun aus der ihm auferlegten politischen Zurückgezogenheit aus. Schon 1889 hatte er eine Zeitung gegründet, Das Volk, die das offizielle Organ der Christlichsozialen Partei werden sollte. Aus ihren Artikeln sprach die Hoffnung auf ein gewaltiges Wiederaufleben der Stoeckerpartei nach Bismarcks Abtreten. Der Redakteur der Zeitung führte am 1. Mai 1889 in einer Berliner Rede aus:
»Die Seele des öffentlichen Lebens ist bei uns der Reichskanzler. Er ist jetzt 74 Jahre alt. Ein hohes Alter! Nach den Tagen der Erschlaffung kommen wieder Tage der Fieberhitze im Volksleben. Solche Tage stehen uns bevor, von dem Augenblick an, wo der Reichskanzler nicht mehr das öffentliche Leben beherrschen wird. Der gemäßigte Liberalismus wird dann die Früchte der jetzigen Politik heischen. Gewährt man sie ihm, so wird man zu den Zuständen der siebziger Jahre zurückkehren. Gewährt man sie ihm nicht, dann wird der demokratische Liberalismus sein Haupt erheben. Wir aber müssen auch auf dem Platz sein. Wir müssen dem Nachfolger des Reichskanzlers vorarbeiten und für die Bewegung sorgen, die wert ist, Gegenstand der Volkssehnsucht zu sein … Wenn Hofprediger Stoecker erkennt: jetzt ist wieder der Zeitpunkt zum Eingreifen gekommen, so wird er auch eingreifen und nicht nach Rücksichten, nach seinem Amt fragen, sondern nur nach der Bewegung.«124)
Nun war Bismarck gegangen und der Kaiser zur Politik der Versöhnung mit den Industriemassen zurückgekehrt. Mit Jubel begrüßten Stoecker und seine Anhänger die Morgenröte einer neuen Ära. Bald nach den Wahlen von 1890 trat die Christlichsoziale Partei aktiv hervor. Die neue kaiserliche Botschaft mit der Ankündigung der Erweiterung des Sozialreform-programmes machte die Diskussion der »sozialen Frage« wieder respektabel. »Die schwere Hand, welche auf der Entwicklung der sozialen Reform lag, drückt nicht mehr«, schrieb die Kreuzzeitung vom 19. März 1890. Stoecker konnte triumphieren: »Die Welt ist über Nacht christlichsozial geworden.«125) Drei Tage nach Bismarcks Sturz nahm er im preußischen Landtag wieder an einer Debatte über Antisemitismus teil; auch während der Zeit der kaiserlichen Ungnade war man nie so weit gegangen, ihn zur Niederlegung seiner Landtags- und Reichstagsmandate zu veranlassen. Am 2. Oktober 1890, einen Tag nach Ablauf des Sozialistengesetzes, schrieb Das Volk, Bismarck, Stoeckers Feind und der Schöpfer des Gesetzes (das, nebenbei bemerkt, Stoecker immer gutgeheißen hatte), sei nun zum Schweigen gebracht, aber Stoecker halte »wie in den Tagen der lebhaftesten Agitation gewaltige Versammlungen ab«126).
Dann trat etwas ganz Unerwartetes ein. Bevor noch ein Monat verstrichen war, wurde Stoecker gezwungen, seinen Amtsrücktritt zu beantragen, dem der Kaiser sofort stattgab. Als Prinz hatte Wilhelm II. den Hofprediger vor Bismarcks Zorn bewahrt und öfters gezeigt, wie sehr er den Erzfeind des Liberalismus persönlich schätzte. Als Kaiser erzwang er Stoeckers Rücktritt ohne das kleinste Zeichen des Bedauerns. In den Memoiren Wilhelms findet sich ein Hinweis auf seine Beweggründe, obwohl Stoecker dort nur einmal flüchtig erwähnt wird. In der Erörterung seines Verhaltens zu den verschiedenen politischen Parteien unterstreicht Wilhelm seine guten Beziehungen zu den Nationalliberalen und seine Versuche, sie näher an die Konservativen heranzubringen.
»Ich habe oft darauf hingewiesen, daß die Nationalliberalen reichstreu und daher kaiserlich gesinnt, also durchaus als Bundesgenossen für die Konservativen zu begrüßen seien. Ich könne und wolle im Reiche nicht ohne sie, keinesfalls gegen sie regieren … Aus diesem Grunde habe ich z. B. auch den Hofprediger Stoecker – einen auf sozialem Gebiete in seiner Missionstätigkeit glänzend bewährten Mann – aus seinem Amte entfernt, weil er in Süddeutschland eine demagogische Hetzrede gegen die dortigen Liberalen gehalten hatte.«127)
Dieser Hinweis bezieht sich auf einen Parteitag der Badischen Konservativen, wo Stoecker die Notwendigkeit betont hatte, gegen Sozialismus und Liberalismus zu kämpfen; dabei hatte er es auch an einem Angriff auf die Juden nicht fehlen lassen:
»Über die Judenfrage will ich nicht viel sagen, um Israels Eitelkeit nicht noch mehr zu reizen. Aber so gut es erlaubt ist, über alles andere zu reden, Gott und Monarchie, Thron und Altar, Besitz und Eigentum herunterzureißen, warum soll man nicht auch auf die Gefahr hinweisen dürfen, die im Judentum liegt. Das finde ich keineswegs liberal, und ich für meinen Teil werde von dieser Wunde reden, bis sie geheilt ist, denn ein Haus, ein Volk, ein Herr, ist unsere Losung!«128)
Warum gab dieser kleine Seitenhieb dem Kaiser Anlaß zu so strengen Gegenmaßnahmen, während er doch vor wenigen Jahren noch Stoeckers weit aufreizendere Angriffe auf Juden und Liberale gedeckt hatte? Persönlicher Ehrgeiz und politische Erwägungen hatten den Kaiser veranlaßt, das Kartell zu stützen und ihm womöglich eine breitere Grundlage zu schaffen. Er mußte Bismarcks Entlassung rechtfertigen. Nichts hätte die Weisheit seines Entschlusses, den Eisernen Kanzler loszuwerden, besser bewiesen, als der Erfolg einer Koalition, die sich von dem regierungsfreundlichen Flügel der Konservativen bis zum Zentrum erstreckte, mit den Nationalliberalen in der Mitte. Der neue Kaiser sah sich als der autokratische, aber wohlwollende Herrscher einer geeinten Nation, die er zu größerem Ruhm führen wollte. Eine Verbindung mit dem sehr umstrittenen Stoecker konnte er sich nicht länger leisten, wenn er die Unterstützung von Parteien wollte, die als unversöhnliche Feinde des Hofpredigers galten.
Nach seiner Entlassung aus dem Hofdienst widmete sich Stoecker mit ganzer Kraft der antiliberalistischen Agitation. Er dehnte sie jetzt sogar auf Kreise aus, die sich zu rein politischer Tätigkeit in der Christlichsozialen Partei nicht entschließen konnten. Für solche Leute gründete er eine neue Organisation, den Evangelisch-Sozialen Kongreß, der sich die Förderung der sozialen Reformen zum Ziel setzte. Der Kongreß, unter dessen Mitgliedern so hervorragende Gelehrte waren wie der Theologe und Kirchenhistoriker Adolf Harnack, der Volkswirtschaftler Adolph Wagner, der Historiker Hans Delbrück und der Soziologe Max Weber, nahm die Arbeit des Vereins für Sozialpolitik wieder auf, jener akademischen Organisation, die es fast zwanzig Jahre vorher unternommen hatte, Regierung und Staat die sozialen Gefahren des Manchesterliberalismus vor Augen zu führen.