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KAPITEL I Die Liberale Ära (1871-1878)

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Wie in anderen europäischen Ländern, so bildete auch in Deutschland der Kampf um die politische Emanzipation der Juden einen Teil des umfassenderen Kampfes zwischen den alten Feudalmächten und dem aufsteigenden Bürgertum. Erfolge und Mißerfolge der Juden in ihrem Ringen um bürgerliche Gleichberechtigung hingen aufs engste zusammen mit dem Schicksal des deutschen Liberalismus in seinem Streben nach Demokratie und nationaler Einheit. Das Emanzipationsgesetz selbst wurde erst 1869 vom Norddeutschen Bund angenommen. Aber schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte Deutschland auf seinem Wege zur Verstädterung und Industrialisierung den Juden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Vorteile geboten, die ihnen in östlichen und südöstlichen Ländern Europas versagt blieben. Von 1816 bis 1848, also vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zur Revolution, stieg die Zahl der jüdischen Bevölkerung von 300 000 auf 400 000. Jüdische Namen hatten Klang in Handel und Bankwesen, in Literatur und Politik. Eduard Simson, ein getaufter Jude und Professor der Rechte, wurde im Oktober 1848 Vizepräsident, im Dezember Präsident der Frankfurter Nationalversammlung. In der Periode der politischen Reaktion hingegen, die der Niederlage der Revolution folgte, sahen die Juden ihre bürgerlichen Rechte von fast allen deutschen Staaten wieder beschnitten.

Bismarcks Plan der Einigung Deutschlands unter dem König von Preußen machte politische Zugeständnisse und Garantien notwendig. Es galt, uralte Ressentiments und Beschwerden gegen das orthodox-protestantische, feudale Preußen zu überwinden. Die Katholiken im Süden, die Hannoveraner (»Annexionspreußen«) im Norden und die Liberalen im Westen verlangten Schutz vor Übergriffen des Staates. Bismarck konnte nicht hoffen, die so ungleichen Teile der Nation unter einen Hut zu bringen, ohne ihnen Gleichheit vor dem Gesetz zu gewähren und das Recht, sich an der Regierung zu beteiligen.

Im Zuge der notwendigen Konzessionen an den Liberalismus erreichten die deutschen Juden ihre Gleichberechtigung. Am 3. Juli 1869 wurden alle Juden im Norddeutschen Bund von jeglicher politischen Unterdrückung befreit. Das vom preußischen König als Bundespräsidenten verkündete und von Bismarck gegengezeichnete Gesetz erklärte:

»Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.«

Unter den süddeutschen Staaten hatte Baden 1862 die letzten Beschränkungen jüdischer Bürgerrechte aufgehoben, Württemberg 1864. Die bayrischen Juden errangen Rechtsgleichheit, als Bayern während des Krieges von 1870/71 dem Norddeutschen Bund beitrat.

Die geschichtlichen Umstände, unter denen in Deutschland die Emanzipation der Juden zustande gekommen war, übten einen nachhaltigen Einfluß aus auf ihre gesellschaftliche Stellung. Die konservativen Mächte hatten zwar die staatsbürgerliche Gleichberechtigung nur unter politischem Druck gewährt, erwarteten aber gleichwohl Dankbarkeit und Gehorsam für das, was sie lieber als einen Akt christlicher Großmut betrachteten. Die Bitterkeit ihrer späteren Anklagen gegen nicht-konservative Juden glich den Gefühlen eines Wohltäters gegenüber einem Undankbaren. Überhaupt behielt die Emanzipation, da sie nicht das Resultat einer revolutionären Veränderung gewesen war, den Charakter eines Gnadenaktes: die Durchführung des Emanzipationsgesetzes sagte die Wahrheit über seinen Ursprung. In Preußen zum Beispiel unterließ es die Regierung, die Beamtenlaufbahn jüdischen Bewerbern zugänglich zu machen; sie zog es vor, auf feudale Traditionen Rücksicht zu nehmen. Juden waren als Anwälte zugelassen, aber nur ausnahmsweise als Richter; als Lehrer in Schulen, aber nur selten als Universitätsdozenten. Ein ungeschriebenes Gesetz hielt sie fern von der Staatsverwaltung, dem aktiven Armeedienst und fast allen öffentlich-rechtlichen Stellungen, außer wenn sie durch die Taufe – manchmal auch durch Namensänderung – bekundeten, daß sie auf ihre konfessionelle Identität verzichteten.

Dennoch bedeutete die politische Emanzipation der Juden nicht nur einen moralischen Erfolg. In Politik und Kunst, in Journalismus und Wissenschaft, als Anwälte, Bankiers, Geschäftsleute und Schriftsteller begannen sie, einflußreiche Positionen einzunehmen. Derselbe Eduard Simson, der als Präsident der Frankfurter Nationalversammlung im April 1849 Friedrich Wilhelm IV. vergeblich die Wahl zum Kaiser angeboten hatte und 1867 Präsident des Norddeutschen Reichstages geworden war, überreichte im Dezember 1870 in Versailles dem König von Preußen, Wilhelm I., die Kaiserkrone (1)*. Zwei hervorragende liberale Abgeordnete, die Bismarck in seinen politischen Bestrebungen unterstützten, waren ungetaufte Juden: Ludwig Bamberger und Eduard Lasker. Bismarcks persönlicher Finanzberater, der 1866 mitgeholfen hatte, den Krieg gegen Österreich zu finanzieren, war ein jüdischer Bankier, Gerson von Bleichröder. Selbst ein Historiker wie Dubnow, der die Erfolgsaussichten der jüdischen Assimilation im allgemeinen als sehr gering einschätzt, beurteilt die Umstände, unter denen deutsche Juden während dieser Jahre lebten, als günstig. Er schreibt:

»Nach der Konsolidierung des Reiches hatte es den Anschein, als ob das Gespenst der Judenfrage aus dem geeinten Deutschland endgültig verscheucht sei. Es war dies die Zeit, da die Juden in die höchsten deutschen Kreise Zutritt fanden und auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens festen Fuß faßten. Bei dem Bau von Eisenbahnen, der Gründung von Fabriken und der Errichtung von Handelshäusern spielte das jüdische Kapital eine führende Rolle. Die jüdische Intelligenz kam in den freien Berufen sowie in den den Juden zugänglichen Zweigen der Staatsverwaltung zur Geltung.«2)

Diese Erfolge errangen die deutschen Juden in einer Zeit wirtschaftlicher und nationaler Aufwärtsbewegung. Eine bisher nicht gekannte Hochkonjunktur schien die Behauptung zu rechtfertigen, daß ungehemmter wirtschaftlicher Liberalismus die Interessen aller fördere. Schnell wurde der für den liberalen Kapitalismus notwendige gesetzgeberische und verwaltungstechnische Apparat aufgebaut. Die Gewerbeordnung von 1869 hatte bereits das Prinzip der Gewerbefreiheit statuiert. Nachdem durch die »Aktiennovelle« von 1870 alle hemmenden Vorschriften aufgehoben waren, konnten sich die Aktiengesellschaften frei entfalten. Die Reichsmünzgesetze von 1871 und 1873 führten den Goldstandard ein und spornten die deutsche Geschäftswelt an, ihre Position auf dem Weltmarkt zu verbessern.

Der Optimismus der deutschen Unternehmer, der schon mit den schnellen Fortschritten der chemischen und Montanindustrie, der Eisenbahn, des Bankwesens und des Außenhandels ins Kraut geschossen war, kannte nach dem siegreichen Kriege von 1870/71 keine Grenzen mehr. Die unerwartet schnelle Bezahlung der französischen Kriegsentschädigung von fünf Milliarden Goldfranken gab dem Selbstvertrauen Deutschlands, und besonders dem des deutschen Bürgertums, neue Nahrung. Von 1866 bis 1873 stieg der industrielle Verbrauch von Roheisen auf über das Doppelte. Während des Jahres 1872 wurden in Preußen zweimal soviel Aktiengesellschaften gegründet wie in der ganzen Periode von 1790 bis 1867, darunter 49 Banken und 61 Unternehmen der chemischen Industrie. 1871 entstand die Deutsche Bank, 1873 die Dresdner Bank.

Es war die Blütezeit des freien Unternehmertums in Deutschland. Ungeahnte wirtschaftliche Möglichkeiten schienen nur darauf zu warten, ausgenutzt zu werden. Noch nie war es so leicht gewesen, schnell reich zu werden, und wer nur konnte, stürzte sich in Börsengeschäfte. Die Ideologien für diese »Gründerzeit«, die Max Wirth in seiner »Geschichte der Handelskrisen«3) anschaulich dargestellt hat, wurden von den beiden liberalen Parteien geliefert, der Fortschrittspartei (4) und den Nationalliberalen; diese waren, unter dem Hannoveraner Rudolf von Bennigsen, Bismarcks zuverlässigste Verbündete (5).

Die Weltmarktkrise von 1873 traf dieses optimistische, vorwärtsstrebende, wild spekulierende Reich wie ein Blitzschlag. Ein Börsenkrach, der viele schnell erworbene Vermögen zusammen mit einer Unzahl kleiner, mühsam errungener Spargroschen auslöschte, leitete den wirtschaftlichen Zusammenbruch ein; er entwickelte sich zu einer der längsten und schwersten Krisen in der Geschichte Deutschlands6). Im wirtschaftlichen Drunter und Drüber der nächsten sechs Jahre wurden das Ansehen und die Aussichten des deutschen Liberalismus, um die es ohnehin wegen der verspäteten wirtschaftlichen und verwirrten politischen Entwicklung des Landes nie sehr gut stand, tödlich geschwächt. Der ökonomische Rückschlag wirkte sich unmittelbar auch auf die Stellung der Juden aus. Der ganzen liberalen Bewegung wurde jetzt der Prozeß gemacht; die Bezeichnung »Liberaler« galt als Schimpfwort. Für die Feinde der neuen Ära verkörperte sich der Liberalismus in der Fortschrittspartei und der Nationalliberalen Partei, und beide wurden als »jüdisch« gebrandmarkt.

An diesem Wendepunkt in der Entwicklung der jungen Nation waren die beiden stärksten politischen Gegner der Bismarckschen Reichspolitik die Altkonservativen (7) und die Zentrumspartei (8). Die Konservativen sahen ihre führende Stellung von den Reformen, die der Reichskanzler im Interesse der nationalen Einigung hatte einführen müssen, bedroht. Mit der katholischen Hierarchie war Bismarck in einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft des Staates über die Kirche verwickelt. Die Konservativen und das Zentrum suchten nach Verbündeten, und es war nur natürlich, daß sie sich an diejenigen Gesellschaftsschichten wandten, die am meisten unter der plötzlichen Wirtschaftskatastrophe litten und schon begonnen hatten, ihren Enttäuschungen und Beschwerden in Ausbrüchen gegen Bismarck und den »jüdischen Liberalismus« Ausdruck zu geben.

Einer der ersten Wortführer der Unzufriedenheit war Wilhelm Marr, ein Journalist, der zu Beginn der Wirtschaftskrise eine Broschüre unter dem Titel veröffentlichte: »Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Vom nicht-confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Vae Victis!«9) Es war nicht Marrs erste Publikation dieser Art. Zehn Jahre vorher hatte er, »indigniert über die Folgen der Judenemanzipation«, deren Anfänge er schon vor der 48er Revolution zu sehen glaubte, seine erste antisemitische Schrift veröffentlicht, den »Judenspiegel« (10). Seine zweite Broschüre war ein sensationeller Erfolg. Zwischen 1873 und 1879 erlebte sie zwölf Auflagen. Sie ist ein ungewöhnlich interessantes Dokument für das Studium der Geschichte des deutschen Antisemitismus und der modernen faschistischen Agitation überhaupt.

Marr lehnt es ausdrücklich ab, die jüdische Religion anzugreifen: »Es liegt einmal in der Menschennatur, daß sie die Vorsehung, die Religion, immer behelligt, wenn sie Dummheiten oder Niederträchtigkeiten begehen will. Man hat sich fast noch nie in Kriegen gegenseitig erwürgt, ohne zuvor hüben und drüben Götter oder unsern Herrgott anzurufen und ihnen oder ihm die Ehre der Bundesgenossenschaft aufzudrängen, und so mußten denn auch Gott und die Religion herhalten bei allen Judenverfolgungen …11) Er betrachtete es als »blödsinnig«, den Juden die Verantwortung für die Kreuzigung Christi aufzuladen, für »einen Vorgang, welchen bekanntlich die römischen Autoritäten, dem Geschrei eines jerusalemitischen Pöbels feige nachgebend, in Szene gesetzt hatten … Gegen jede ›religiöse‹ Verfolgung nehme ich somit die Juden unbedingt in Schutz.«12)

Nicht weniger bemerkenswert ist Marrs Charakterisierung der Juden. »Hoch begabt«, »stark«, »von staunenswerter Zähigkeit und Ausdauer« gehören zu den Eigenschaften, die er ihnen zulegt. Er benutzt Argumente der liberalen Verteidigung und der jüdischen Selbstverteidigung, um soziale Stellung und wirtschaftliche Rolle der Juden im Mittelalter zu erklären: »Von oben offiziell gedrückt, konnten sie sich nach unten hin realistisch schadlos halten. Das Volk durfte nicht murren zu dieser seiner Ausbeutung durch die Großen, bei der das Judentum den Makler machte.«13) Populärer Haß sei so auf die Juden abgelenkt worden, wie er in voller Übereinstimmung mit der Sündenbocktheorie schreibt: »Den ›Großen‹ kamen solche gelegentlichen Judenhetzen gar nicht ungelegen. Wurden doch die Juden dadurch in Abhängigkeit und Maklerwillfährigkeit gehalten und durften sich nicht beikommen lassen, als ›Courtage‹ die Emanzipation ihres Volkes zu fordern.«14) Marr scheint den höchsten Grad der Objektivität zu erreichen, wo er die Gültigkeit der Behauptung, Juden seien Revolutionäre, einer Prüfung unterzieht. Natürlich sind sie das, argumentiert er, aber »daß die Juden die Revolution von 1789 wie die 1848er Revolution froh begrüßten, daß sie sich eifrig daran beteiligten, wer kann es ihnen verargen? ›Juden, Polen und Literaten‹ hieß das conservative Schlagwort im Jahre 1848. Nun ja, drei unterdrückte Potenzen! Die Glücklichen und Zufriedenen revoltieren nicht in dieser Welt.«15)

Indem Marr die gewöhnlich von Antisemiten vorgebrachten Anklagen gegen die Juden zurückweist, gibt er dem »jüdischen Problem« eine neue Wendung. Es geht ihm darum, ein altes Stereotyp zu zerstören: die Juden sind gar nicht eine kleine schwache Minderheit – sie sind eine Weltmacht! Sie sind viel stärker als die Germanen! Seine Verbeugung vor den Tugenden der Juden läuft darauf hinaus, ein neues Bild von ihnen als dem furchtbarsten Gegner zu schaffen: durch ihre rassischen Eigenschaften waren sie in der Lage, »1800 Jahre lang der abendländischen Welt den siegreichsten Widerstand« zu leisten, »im 19. Jahrhundert die erste Großmacht des Abendlandes in der Gesellschaft« und »heute der socialpolitische Diktator Deutschlands« zu werden, und das alles »ohne Schwertstreich, im Gegenteil, politisch verfolgt durch die Jahrhunderte hindurch.«16)

Einem Gegner solchen Kalibers gegenüberzustehen, ist eine Sache von Tod oder Leben, und in einem solchen Kampf, meint Marr, ist es nutzlos, die Schuldfrage aufzuwerfen. »Die welt- und kulturgeschichtlichen Ereignisse haben das Judentum in das Abendland hineingeschleudert. Dasselbe fand ein ihm fremdartiges Element vor und war selbst diesem Element fremdartig.« Deswegen wäre es unsinnig, den einzelnen Juden zu hassen: Marrs Antisemitismus ist totalitär. Er greift das Judentum als Gruppe an, nicht seine einzelnen Mitglieder. Das jüdische Volk, so beharrt er, ist rassisch fixiert; es kann weder sich ändern noch geändert werden. Friedlich und gleichberechtigt neben ihm zu leben, ist unmöglich wegen seiner überlegenen Eigenschaften. Die Alternative heißt »wir oder sie«, und so müssen beide Seiten im Kampf um ihre Existenz alle zur Verfügung stehenden Mittel benutzen. »Ein weltgeschichtliches ›Fatum‹« habe es gewollt, daß Juden und Germanen »gleich Gladiatoren der Kulturgeschichte« einander in der Arena gegenüberstehen. Das Individuum, das sich auf dieser oder jener Seite findet, hat keine andere Wahl, als zu seiner Gruppe zu stehen, sei es im Angriff, sei es in der Verteidigung. Und da es nur den Befehlen des Schicksals folgt, kann es für seine Taten nicht verantwortlich gemacht werden.

Die Stunde sei spät, mahnt Marr. Der germanische Staat befinde sich in schneller Auflösung und verfüge nicht mehr über die physische und intellektuelle Kraft, sich zu »entjuden«. Mit der Pseudo-Resignation, die für den Geist und Stil seiner Broschüre charakteristisch ist, sieht er die Niederlage der Germanen voraus: »Zäher und ausdauernder als wir, waret Ihr [Juden] die Sieger in diesem Völkerkrieg, den Ihr ohne Schwertstreich geführt habt, während wir Euch massakrierten und verbrannten, aber nicht die sittliche Kraft besaßen, Euch auf Euch selbst und den Verkehr unter Euch anzuweisen.«17) Marr läßt jedoch in seiner Konstruktion von Untergang und geschichtlicher Tragödie noch ein Türchen offen: möglicherweise könne ein letzter verzweifelter Gegenstoß Europas gegen das Judentum unternommen werden, »vielleicht – aber nur sehr vielleicht!« unter russischer Führung (18). In Deutschland werde wahrscheinlich eine »Katastrophe«, eine »Explosion« stattfinden, bevor das Germanentum sich ergibt: »die empörte Volksleidenschaft«, der »Ingrimm gegen die Verjudung der Gesellschaft« drängen danach19). Das allgemeine Pogrom, schicksalhaft und unkontrollierbar, wird hier angekündigt.

Es existiert wenig zuverlässiges biographisches Material über diesen Vorläufer des deutschen Rassen-Antisemitismus (20). Indessen geben Form und Substanz der Beweisführung eine Reihe von Aufschlüssen über den Autor.

Die konkreten Argumente, mit denen Marr seine unheilvollen Orakel unterbaut, stammen vom Schreibtisch eines erfolglosen Journalisten. Die großen Zeitungen, die liberalen Blätter, veröffentlichen nichts von ihm. Immer wieder beklagt er sich darüber, daß die Presse in jüdischen Händen sei und alle schäbig behandele, die es nicht mit dem »jüdischen Liberalismus« hielten21). Die düstersten Prophezeiungen fließen unmittelbar aus der persönlichen Kränkung. Das jüdische Monopol an der Tagespresse, »das Resultat des Dreißigjährigen Krieges, den das Judentum seit 1848 offiziell mit uns geführt hat«, mache es unmöglich, publizistisch an Deutschlands politischem Leben Anteil zu nehmen. In »Neu-Palästina«, wie er Bismarcks Reich nannte, sei mit der Emanzipation die Fremdherrschaft gesetzlich anerkannt worden. Ihren Agenten sah er in der Nationalliberalen Partei, zu der die Juden strömten, »weil hier der Geist der Verjudung …, die Prinzipienlosigkeit am weitesten vorgeschritten war. Rein erhalten von der Verjudung hat sich bis jetzt nur die ultramontane Partei. Die conservative Regierungspartei dagegen wimmelt von semitischen Elementen, denn zwei Drittel unserer offiziösen Literaten sind durch Juden vertreten.«22) Marr mag nicht Unrecht gehabt haben mit seiner Behauptung, er sei zugunsten jüdischer Konkurrenten aus dem deutschen Journalismus hinausmanövriert worden. Ebenso nahe liegt die Annahme, daß die aufblühende liberale Presse von ihren Mitarbeitern Leistungen verlangte, denen er sich nicht gewachsen zeigte. Wie dem auch sei, seine Anklage wäre wohl als ein Zeichen von Verfolgungswahn betrachtet worden, hätten seine eigenen Erfahrungen nicht in vielen anderen ein Echo gefunden. Er formulierte den Protest bestimmter Gruppen, die sich im neuen Reich nicht mehr zu Hause fühlten. Es waren, allgemein gesprochen, vorkapitalistische Schichten, die ihre gesellschaftliche Stellung und kulturelle Tradition bedroht sahen und, wie immer in solchen Fällen, ihr Schicksal mit dem der ganzen Gesellschaft identifizierten. »Die ganze Gesellschaft«, sagt Marr, sei in ihren Anschauungen korrumpiert, jeder »Idealismus« sei »aus der Gesellschaft hinausgedrängt«, »das Talent« zum »prasselnden Virtuosentum« und »die Kupplerin Reklame zur Göttin der öffentlichen Meinung gemacht« worden23).

Marr spricht jedoch nicht für alle Gegner der Bismarckschen Politik und der neuen kapitalistischen Gesellschaft. Er verschmäht es, die Errungenschaften der modernen Wissenschaft den Dogmen der katholischen Religion zu opfern, kann auch, wie er sagt, keinen Geschmack daran finden, sich »mit den protestantischen ›Muckern‹« zu verbinden, sondern zählt sich zu den »ehemaligen Radikalen«, die jetzt in das Lager jener Kräfte getrieben werden, die das »verjudete›liberale‹ Deutschland« als »reaktionär« zu bezeichnen pflege24). Die Sozialdemokratische Partei erscheint ihm als »der rohe, brutale, aber vollständig unbewußte Protest gegen die realistische Verjudung der Gesellschaft« und überdies von allem Anfang an von Juden beherrscht, »wie denn ja auch der Stifter der deutschen Sozialdemokratie, Lassalle, ein Semit war«25). Deutschland könne sich besonders schlecht gegen die jüdische Invasion wehren, weil »das Gefühl einer deutschen Nationalität, geschweige eines deutschen Nationalstolzes, in den germanischen Ländern nicht existierte«26).

Marr grenzt sich also ab gegenüber anderen kritischen Gruppen und Kräften; er wurzelt weder im Katholizismus noch im protestantischen Konservatismus, erst recht nicht in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Er zählt sich zu einer Elite Deutschlands, die aufgrund ihrer Bildung, Begabung und Hingabe an den nationalen Gedanken zur politischen Führung des Reiches berufen sei, aber beiseite stehen müsse, verdrängt von den »Juden und Liberalen«. Die Resignation, die er zur Schau trägt, kann kaum verbergen, wie tief ihn das Bewußtsein durchdringt, Männer von seinem Schlage seien die einzig legitimen Anwärter auf Macht und Ehre im neuen Deutschland. Selbst wenn er sich den Gegnern der gegenwärtigen Reichspolitik anbietet, zeigt er noch, daß er nicht einer von ihnen ist: »Wer uns hilft aus dem Verderben, der hat uns.«27)

Kaum hatte Marr mit seinem »Sieg des Judenthums über das Germanenthum« den ersten Schuß abgefeuert, als ein weiterer Angriff erfolgte. 1874 veröffentlichte die Gartenlaube, die beliebteste literarische Zeitschrift des Mittelstandes, eine antisemitische Artikelserie »Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin«, die 1876/77 auch als Buch herauskam und viel Aufsehen erregte. Der Verfasser war Otto Glagau, ein talentierter politischer Journalist, der sein Vermögen in Gründerzeitspekulationen verloren haben soll (28). Er gab konkreter als Marr den Beschwerden jener Gruppen des alten Mittelstandes Ausdruck, deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung auf dem Spiel stand – der Handwerker, kleinen Unternehmer, Gewerbetreibenden, unteren Beamten und Bauern. Glagau bezichtigte jüdische Abgeordnete, besonders Lasker und Bamberger, der Verantwortlichkeit für Gesetze, durch welche Handel, Börse und die großen Unternehmen auf Kosten von Handwerk und Landwirtschaft begünstigt wurden. Seine Ansichten über Judentum, Liberalismus, Manchestertheorie, die moderne Bourgeoisie, politische Parteien überhaupt und die Rolle der großen Staatsmänner zeigen außergewöhnliche Verwandtschaft mit der späteren Gedankenwelt des Nationalsozialismus. Wir finden hier dieselbe Kritik an liberaler Wirtschaftsfrömmelei und konservativer Engstirnigkeit, dasselbe Werben um die Industriearbeiter und die Forderung nach sozialen Reformen, die fünfzig Jahre später typische Bestandteile der faschistischen Propaganda wurden. In der Beschreibung des kapitalistischen Systems benutzt Glagau jene unverkennbar marxistische Terminologie, die später bei den »linken« Nazis gängig wurde.

»Unter dem ökonomischen Liberalismus kann sich ein tüchtiger und behäbiger Handwerkerstand nicht behaupten, er wird von der Großindustrie erbarmungslos verdrängt; ebenso verdrängt der Großhändler den Kleinhändler, verschwindet mehr und mehr der Bauernstand und wird verschlungen von dem Großbesitz. Wie einst im alten Rom, so zerfällt auch im neuen Deutschen Reich der kräftige Mittelstand, und es wächst lawinenartig das besitzlose Capital.«29)

»Das Manchestertum ist die Midaslehre vom Gelde, es will alles in Geld verwandeln, Grund und Boden, Arbeit und Menschenkraft; es feiert den Egoismus, das völlig ungebundene Walten der rohen Selbstsucht, und verwirft Gemeinsinn, Humanität und alle sittlichen Prinzipien; es predigt das Streben nach unbedingter Herrschaft des Capitals, den krassen Materialismus. Sein Grundsatz ist das berüchtigte ›Laissez faire et passer‹ … Die erste Forderung des Manchestertums ist daher: unbeschränkte Gewerbefreiheit und Freizügigkeit; damit glaubt es für den Arbeiter alles getan zu haben, aber wie dieser begriffen hat, ist es nur die Freiheit, sich die Beschäftigung und den Ort zu wählen, wo er verhungern mag. Gerade Freizügigkeit und Gewerbefreiheit versorgen den Fabrikherrn mit einem unversiegenden Strom von wohlfeilen Arbeitskräften, indem sie das platte Land entvölkern, die Städte aber überfüllen.«30)

»Das Judentum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchestertum. Es kennt nur noch den Handel, und auch davon nur den Schacher und Wucher. Es arbeitet nicht selber, sondern läßt Andere für sich arbeiten, es handelt und spekuliert mit den Arbeits- und Geistesprodukten Anderer. Sein Zentrum ist die Börse … Als ein fremder Stamm steht es dem Deutschen Volk gegenüber und saugt ihm das Mark aus. Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und Judenfrage, alles übrige ist Schwindel.«31)

Die Schichten, die Glagau verteidigt, waren bisher nicht fähig gewesen, eine selbständige politische Organisation aufzubauen. Handwerker hatten es während und nach der 48er Revolution versucht, aber ihre Bestrebungen waren vereinzelt und erfolglos geblieben. Glagau erwähnt lobend ihre »sozialistische« Werbearbeit und bedauert, daß es ihnen, im Gegensatz zu den Arbeitern, nicht gelungen sei, sich zu organisieren. Daß der kleine Mittelstand Schwierigkeiten hat, sich für eine systematische politische Aktion zusammenzuschließen, ist eine weithin beobachtete Tatsache. Seine Zwischenstellung zwischen Kapital und Arbeit und seine verschieden gelagerten sozialen wie Ökonomischen Interessen erschweren die Zusammenarbeit auf lange Sicht. Solche Gruppen neigen dazu, nach einem Führer zu suchen, der nicht auf die Unterstützung der bestehenden politischen Parteien angewiesen zu sein scheint. In Zeiten akuter Spannung machen sie gern den Bonapartismus zu ihrem politischen Ideal. Die Sehnsucht nach dem starken Mann, dem »ehrlichen Makler«, der über Klassen und Parteien steht, und die Vorstellung von einem »unpolitischen« Staat durchzog die politischen Träume des deutschen Mittelstandes von Bismarck bis Hitler. Später wurde es der deutschen Gesellschaft zum Verhängnis, daß sie nicht in der Lage war, das politische Potential dieser Gruppen rechtzeitig zu erkennen und zu leiten. Der Liberalismus hatte ihnen nichts anderes zu bieten als die Weisheit des erfolgreichen Konkurrenten; die Konservativen nichts als das Lob ihrer moralischen Tugenden; die Sozialisten schoben sie, als von den »Gesetzen des Kapitalismus zum Untergang verurteilt«, beiseite. Erst dem Nationalsozialismus gelang es, sie politisch zu organisieren.

Die Verwandtschaft der Wirtschaftsphilosophie des Antisemitismus im neunzehnten Jahrhundert mit der des Nationalsozialismus liegt auf der Hand. Der Begriff »raffendes Kapital« zum Beispiel, der so prominent in der frühen Wirtschaftstheorie des Nationalsozialismus auftrat, war von den antisemitischen Schriftstellern der siebziger Jahre schon allgemein benutzt worden. Glagau, der Wortführer des Mittelstandes, gebrauchte ihn. Adolf Stoecker, der Vertreter des christlichsozialen Antisemitismus, betonte einige Jahre später, daß er ja nur das »mobile« Kapital, das »Börsenkapital« bekämpfe. »Marx und Lassalle«, sagte er, »haben das Problem nicht nach der Börse, sondern nach der Industrie hin gesucht, die Industriellen für alle sozialen Mißstände verantwortlich gemacht und den Haß der Arbeiter auf sie gelenkt. Unsere Bewegung korrigiert das in etwas: Wir zeigen dem Volk die Wurzeln seiner Not in der Geldmacht, dem Mammonsgeist der Börse.«32) In ähnlicher Weise stellte im Dezember 1893 der antisemitische Abgeordnete Liebermann von Sonnenberg im Reichstag fest, er und andere Antisemiten hätten gar nichts gegen jüdisches Kapital als solches oder gegen Kapital an sich einzuwenden. Man müsse unterscheiden zwischen »schädlichem und nützlichem Kapital«. Nützliches Kapital sei angelegt in der Landwirtschaft und »in der gesamten Industrie«, in »redlichem Handel« und »in dem Sparvermögen, das das Ergebnis eines an Arbeit reichen Lebens darstellt«. Schädliches Kapital sei das, »welches sich, ohne wirkliche Arbeit zu leisten, ins Ungemessene vermehrt« durch »Lug und Trug und Schwindel. Dieses Kapital finden wir an der Börse, und daß dieses Kapital meist ein jüdisches ist, dafür können wir doch nichts.«33)

Die Vorstellung von produktivem und unproduktivem Kapital war keine Erfindung der deutschen Antisemiten. Sie stammt aus der katholischen Wirtschaftsphilosophie, liegt der Wirtschaftstheorie der deutschen Romantik zugrunde, wurde von Proudhon theoretisch ausgearbeitet und von den deutschen Proudhonisten übernommen. Im Kommunistischen Manifest verspottet Marx die Konstruktion als den ideologischen Grundstein sowohl des »aristokratischen« wie des »wahren« Sozialismus.

Ein festes Einkommen und ein »gerechter Lohn für ehrliche Arbeit« waren von jeher die ökonomischen Ideale des deutschen städtischen und ländlichen Mittelstandes gewesen. Diese Schichten fürchteten und haßten die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft, ihre Mobilität und ihre Spekulation. Besonders das Geldkapital, Kapital in seiner abstraktesten und anonymsten Form, galt ihnen als Symbol für den unmoralischen, wucherischen und unheimlichen Charakter des Systems, dessen gefährlichsten Agenten sie in der Hochfinanz sahen. Je weniger sie deren Arbeitsmethode kannten und persönlichen Kontakt mit der Finanzwelt hatten, desto mysteriöser und drohender erschien sie ihnen. Diese ganze Sphäre empfanden sie als etwas eminent Jüdisches. Das Stereotyp vom jüdischen Zwischenhändler, Bankier und internationalen Finanzmann–»alles Schwindler« – zog seine Nahrung sicherlich aus den Legenden, die sich um mittelalterliche jüdische Geldgeschäftspraktiken gesponnen hatten; auch wußte man um den traditionell hohen Anteil der Juden an Handel und Zwischenhandel. Aber die Langlebigkeit des Stereotyps beruht vermutlich auf wirklichen wirtschaftlichen Gegensätzen, die sich in der Unterscheidung zwischen »jüdischem« (finanziellem) Kapital und »deutschem« (industriell-landwirtschaftlichem) Kapital Luft machten. Dem Geschmack des Mittelstandes war diese Zweiteilung wie auf den Leib geschnitten, gab sie doch Gelegenheit, an der bestehenden Ordnung zu nörgeln, ohne ihre Grundlage, das Privateigentum, anzutasten. Antisemitische Agitatoren ließen sich nie die Gelegenheit entgehen, Antikapitalismus dieser zweigleisigen Art auf ihre Fahnen zu schreiben. Er barg nicht die Gefahr, die Anhänger des Antisemitismus den herrschenden Gruppen zu entfremden, im Gegenteil: er förderte die Pseudosolidarität des christlichen Staates und führte später dem Mythos der Volksgemeinschaft neue Nahrung zu. Wie groß die psychologische und taktische Wirkung einer derartigen Differenzierung war, hat keiner besser beschrieben als Hitler. Als er zum ersten Mal Gottfried Feder über die »Brechung der Zinsknechtschaft« sprechen hörte, wußte er »sofort, daß es sich hier um eine theoretische Wahrheit handelt, die von immenser Bedeutung für die Zukunft des deutschen Volkes werden würde. Die scharfe Scheidung des Börsenkapitals von der nationalen Wirtschaft bot die Möglichkeit, der Verinternationalisierung der deutschen Wirtschaft entgegenzutreten, ohne zugleich mit dem Kampf gegen das Kapital überhaupt die Grundlage einer unabhängigen völkischen Selbsterhaltung zu bedrohen.«34)

Die Angriffe auf »jüdischen« Finanzschwindel, durch welche sich die Reaktion auf den großen Krach von 1873 Luft schaffte, müssen im Lichte dieser tieferen ökonomischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung gesehen werden. Es machte wenig Eindruck, als der jüdische Abgeordnete Lasker, der Führer der Liberalen, im Preußischen Abgeordnetenhaus (am 14. Januar und 1. Februar 1873) und im Reichstag (am 4. April 1873) Alarm schlug und enthüllte, daß mehrere konservative Abgeordnete höchst zweifelhafte Aktiengeschäfte unterstützt hatten. Unter den von Lasker genannten Personen befand sich Geheimrat Hermann Wagener, ein Führer der Gruppe, die sich um die Kreuzzeitung (35) scharte; er war ein Freund Adolf Stoeckers und später Förderer der antisemitischen Christlichsozialen Partei. Lasker vermochte es nicht, die Juden vor der Anschuldigung zu bewahren, den geschäftlichen Zusammenbruch verursacht zu haben; vielmehr sah man in seinen Reden einen von der jüdischen Gruppe gestarteten Versuch, die Verantwortung auf die Konservativen abzuwälzen. In der rapiden kapitalistischen Umgestaltung der deutschen Gesellschaft war Teilnahme der Konservativen an Spekulationsschwindeleien sicherlich kein genügender Grund, die neue Ära als ein Produkt des Konservatismus erscheinen zu lassen. Im Gegenteil, die Zeit gehörte dem kapitalistischen Fortschritt. Er hatte neue Gesetze und eine neue Geschäftsmoral gebracht, die sozialen Gegensätze vertieft, die politischen und religiösen Spannungen verschärft. Gerade durch diese Veränderungen aber konnte sich die soziale Stellung der Juden verbessern. In einer solchen Atmosphäre fanden die Behauptungen von Glagau und anderen Antisemiten, der Statistik zufolge seien 90 Prozent der Spekulanten Juden, williges Gehör.

Den Antisemitismus von Publizisten wie Marr und Glagau – die Liste der Agitatoren ließe sich leicht erweitern, ohne daß dabei wesentlich neue Einsichten zu gewinnen wären – nahm die öffentliche Meinung als einen Ausdruck privater Überzeugung zur Kenntnis, ohne ihn noch mit politischen Organisationen in Verbindung zu bringen. Das änderte sich 1875. Der Antisemitismus wurde in dem Augenblick eine Angelegenheit der Politik und der politischen Strategie, als zwei politisch repräsentative Blätter ihn auf ihre Fahnen schrieben: die Kreuzzeitung, das Sprachrohr der preußischen Konservativen und des orthodoxen preußischen Protestantismus, und die Germania, das Zentralorgan der Zentrumspartei.

In einer nicht gezeichneten Artikelserie, die unter dem Namen »Ära-Artikel« notorisch wurde, begann im Juni 1875 die Kreuzzeitung einen heftigen Angriff auf »die Finanz- und Wirtschaftspolitik des neuen deutschen Reiches«, die »auf unbefangene Beurteiler den Eindruck reiner Bankierpolitik« mache36). Als Schuldige wurden die Männer um Bismarck bezeichnet, darunter sein Finanzberater Bleichröder. Nicht nur, daß Bismarcks »regierender Bankier« ein Jude sei, beanstandete das Blatt; die Polemik richtete sich gegen die ganze nationalliberale Ära, die auf nichts anderes hinauslaufe als auf eine »von und für Juden betriebene Politik und Gesetzgebung«. Die Juden beherrschten, hieß es, durch Lasker und Bamberger die Nationalliberalen, durch die Nationalliberalen das Parlament und durch die nationalliberale Presse das deutsche Volk; diese Politik müsse ins Verderben führen. Die einflußreiche Stellung der Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, drohte die Kreuzzeitung ganz offen, werde nicht unangetastet bleiben, sobald die christlich und national gestimmten Deutschen erst einmal den Charakter der von den herrschenden Gruppen betriebenen »Judenpolitik« durchschaut hätten (37).

Im Sommer 1875 nahm die Germania den Kampf auf und verstärkte die Anklagen der Kreuzzeitung in einer Serie antisemitischer Artikel von meisterhafter Demagogie38). Das Blatt stichelte gegen Bismarck durch den Abdruck einer Rede, die er im ersten Vereinigten Landtag von 1847 gegen einen Gesetzesentwurf zur Judenemanzipation gehalten hatte; Bismarck erklärte damals, er gönne den Juden alle Rechte, »nur nicht das, in einem christlichen Staat ein Obrigkeitsamt zu bekleiden«39). Die Germania durchsuchte die deutschen Klassiker, Goethe, Herder, Kant und Fichte, nach antijüdischen Äußerungen und begann damit ein Studium, das einige Jahrzehnte später von Theodor Fritsch im »Handbuch der Judenfrage« und schließlich vom nationalsozialistischen »Institut zur Erforschung der Judenfrage« weiterbetrieben wurde. Einige Germania-Artikel machten auf die berufliche Verteilung der Juden aufmerksam; in den »produzierenden Schichten« seien sie nur spärlich vertreten, sehr zahlreich dafür in »lukrativen Geschäften«, wo sie auf Kosten der christlichen Bevölkerung Reichtümer ansammelten; »ganz horrende Mißverhältnisse« bestünden im Anteil von christlichen und jüdischen Schülern an höheren Lehranstalten. Die Regierungskampagne gegen die katholische Kirche, Bismarcks »Kulturkampf«, interpretierte das katholische Blatt einerseits als Feldzug der Juden gegen Rom, unternommen aus Rache für die Unterdrückung des Judenstaates in Palästina vor 1800 Jahren, andererseits als ein Ablenkungsmanöver, das den Juden erlaube, ungestört das deutsche Volk zu beschwindeln und auszubeuten.

Die Germania ließ es jedoch nicht mit einer Kritik bewenden, sondern entwickelte ein eigenes Programm für eine »Emanzipation der Christen von den Juden«. Sie war zu vorsichtig, gesetzliche Maßnahmen gegen die Juden zu empfehlen – erlebten doch die Katholiken gerade am eigenen Leib die Wirkung einer ihnen feindlichen Gesetzgebung. Statt dessen appellierte das Blatt an die wirtschaftliche Solidarität der Christen, popularisierte Schlagworte wie »Kauft nicht von Juden!« oder »Leiht nicht von Juden!« und empfahl die Gründung von Sparkassen und Kreditanstalten als einen Schritt zur wirtschaftlichen Befreiung vom jüdischen Wucher.

Nach dem gemeinsamen Angriff der beiden führenden Blätter des konservativen und katholischen Lagers nahm die »Anti-Kanzler-Liga« den Kampf gegen den »jüdischen Liberalismus« auf. Die von Katholiken und Konservativen gegründete Liga, der einflußreiche Aristokraten beider Konfessionen angehörten, genoß das Wohlwollen des kaiserlichen Hofes. Unter Joachim Gehlsen veröffentlichte sie ein Blatt, das sich sarkastischerweise zuerst Deutsche Eisenbahnzeitung nannte – der Bau von Eisenbahnen war eine der »Gründer«-Industrien, worin Vermögen gewonnen und verloren worden waren–und später Deutsche Reichsglocke. Bismarck beschwert sich in seinen Memoiren darüber, daß der Kaiser zwar die Zusammenarbeit mit ihm in dieser Zeit nie abgelehnt, aber doch täglich die Reichsglocke gelesen habe, ein Blatt, das »ausschließlich davon lebte«, ihn zu verleumden. Vom Königlichen Hausministerium seien nicht weniger als dreizehn Exemplare für den preußischen und andere Höfe bezogen worden. Die Liga zeichnete auch verantwortlich für eine Anzahl von Büchern und Broschüren, gespickt mit heftigen Angriffen auf Bismarck und die Juden, zum Beispiel Rudolph Meyers »Politische Gründer und die Korruption in Deutschland« (1877), Joachim Gehlsens »Aus dem Reiche Bismarcks« (1894) und von demselben, ohne Verfasserangabe, »Das kleine Buch vom großen Bismarck« (1877). Der Eisenbahnzeitung galten die Juden als Bismarcks »Kulturkämpfer«, die nach dem uralten Prinzip »teile und herrsche« einen Kampf gegen die Katholiken provoziert hätten. Bei der Judenfrage, schrieb der ungenannte Verfasser eines Artikels – wahrscheinlich war es Rudolph Meyer (40) – gehe es um Leben und Tod des deutschen Volkes; sie könne erst nach der Beseitigung von Bismarck und seinem jüdischen Regierungssystem gelöst werden41).

Es gab sowohl kulturelle als auch politische Gründe für dieses merkwürdige Bündnis von Konservativen und Katholiken. Bismarck hatte den »Kulturkampf« begonnen, um die politische Macht des Katholizismus zu beschneiden. In der 1870 konstituierten Zentrumspartei fürchtete er eine Mobilmachung gegen den Staat, das heißt gegen sein Reich, das auf der Vorherrschaft der protestantischen preußischen Monarchie beruhte. Der Kanzler und die Nationalliberalen betrachteten den politischen Katholizismus als die Seele der »großdeutschen«, pro-österreichischen, anti-preußischen Opposition gegen Bismarcks »kleindeutsche« Lösung der Einigung Deutschlands unter Führung Preußens mit Anschluß Österreichs. »Nationalgesinnte« Kreise mißtrauten dem politischen Katholizismus auch deshalb, weil der Zentrumsführer Ludwig Windthorst ein treuer Freund des Königs von Hannover war, dessen Land sich Preußen 1866 einverleibt hatte.

Als Bismarck mit der Hilfe des liberalen Bürgertums die Macht der katholischen Kirche im Reich einzuengen begann, konnte der orthodoxe Protestantismus leicht die Gefahren dieser Politik für seine eigene Stellung erkennen. Der Kulturkampf wuchs sich zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen geistlicher und weltlicher Autorität aus.

Gegnerschaft zu Bismarcks Politik allein konnte jedoch kaum die unmittelbare Ursache für den gemeinsamen konservativ-katholischen Angriff auf die Juden gewesen sein. 1875, als die antisemitische Kampagne begann, stand der Kulturkampf schon in seinem vierten Jahr. Ebensowenig läßt sich der politische Angriff als eine spontane Reaktion auf den Wirtschaftszusammenbruch erklären. Der große Krach lag schon etwa zwei Jahre zurück. Nur weil die aufgespeicherten Spannungen durch drängende politische Ereignisse und Erwägungen freigesetzt worden waren, konnten sie sich in der Kampagne entladen.

Die Wahlen vom Januar 1874 hatten den Nationalliberalen – »der Partei Bismarcks und der Juden« – einen außerordentlichen Sieg gebracht. Die Zahl ihrer Reichstagssitze konnten sie von 119 (von insgesamt 382) auf 152 (von 397) erhöhen. Auch die Fortschrittspartei hatte sich gut gehalten und ihre 45 Mandate um 4 vermehrt. Die Konservativen aber waren empfindlich geschlagen worden. Ihr Prozentsatz an Wählerstimmen fiel von 14 auf 7, die Anzahl ihrer Reichstagsmandate von 54 auf 21. Am erstaunlichsten aber hatte das Zentrum abgeschnitten. Trotz der Kulturkampfagitation gelang es ihm, seine Reichstagsmandate von 58 auf 91 zu erhöhen. Der Katholizismus war jetzt die einzige größere politische Kraft, mit der die sehr geschwächten Konservativen sich verbünden konnten. Von ihnen kam die Initiative für den Angriff auf den »jüdischen Liberalismus«; die antisemitischen Artikel in der Kreuzzeitung erschienen vor denen in der Germania. Hier zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Reichs zeigte die »kleine, aber mächtige Partei«, wie die Konservativen gern sich selbst nannten, daß sie vor keiner politischen Koalition zurückschreckte, wenn es um die Verteidigung ihrer traditionellen Vorrechte ging.

Entsprechende Gründe dürften auch bei dem Entschluß des Zentrums mitgespielt haben, sich an der antisemitischen Kampagne zu beteiligen. Zwar konnte es als die Partei einer religiösen Minderheit kaum hoffen, gleich den Konservativen die Stimmen des Mittelstandes zu gewinnen. Aber es durfte sich andere politische Vorteile von dem Angriff auf die »Juden und Liberalen« erwarten. Wenn es dem Zentrum gelang, die Nationalliberalen, die im Reichstag Bismarck am eifrigsten förderten, zu schwächen, so war die Fortsetzung des Kulturkampfes für den Kanzler viel schwieriger geworden. Außerdem hing der Einfluß des Zentrums im Reichstag weitgehend davon ab, ob die Notwendigkeit einer Mehrheitsbildung die Linke oder Rechte dazu zwang, sich um eine Koalition mit den Katholiken zu bemühen. Obwohl die Zahl der Zentrumsmandate im Reichstag beträchtlich angestiegen war, hatten die Wahlen von 1874 dennoch die taktische Lage der katholischen Partei geschwächt, denn die Linke war stark genug geworden, um auf ihre Unterstützung verzichten zu können. Fortschrittler und Nationalliberale hatten mit 201 von insgesamt 397 Sitzen eine bequeme Mehrheit. Es lag im Interesse des Zentrums, durch ein Bündnis mit der jetzt stark geschwächten Rechten ein besseres Gleichgewicht herzustellen.

Solche politischen Erwägungen waren aller Wahrscheinlichkeit nach von Bedeutung, als das Zentrum beschloß, an dem antisemitischen Feldzug teilzunehmen. Aber der Grad von Feindseligkeit, die ausgesprochene Leidenschaft der Germania-Artikel, läßt noch auf tiefere Beweggründe schließen. In der Heftigkeit des antisemitischen Ausbruchs kam auch die Erbitterung einer Gruppe zum Ausdruck, die ihre eigene Position mit der einer anderen Minderheitsgruppe verglich. Die Juden, die bis vor kurzem als Parias gegolten hatten, kraft des Gesetzes Staatsbürger zweiter Klasse gewesen waren, schienen binnen weniger Jahre in den Brennpunkt des öffentlichen Lebens gerückt zu sein, eng verbunden mit der Regierungspolitik und dem Reichskanzler selbst. Die Katholiken dagegen fanden sich offiziell verfolgt und von vielen Seiten angegriffen. »Welch’ ein Vergnügen jetzt dieser Kulturkampf für die Juden ist!«, bemerkte der katholische Schriftsteller Constantin Frantz verächtlich im Jahre 1874. »Sie haben alle Veranlassung, ihn nach Möglichkeit anzuschüren und nach Kräften mitzukämpfen. Auch wird man ihnen die Anerkennung nicht versagen, daß sie dabei wirklich ihren Mann stehen. Aber sie wissen auch, wofür sie kämpfen, weil sie in der Kirche ganz richtig das Bollwerk des Christentums erkennen. Was können sie mehr wünschen, als die Zerstörung dieses Bollwerks? Das Christentum als bloß geistiges Prinzip, hoffen sie, wird sich dann in den allgemeinen Kulturbrei einstampfen lassen.«42)

Daß den Katholiken die »Juden und Liberalen« ein Dorn im Auge waren, hatte seine guten Gründe. Die Liberalen hatten seit der Gründung des Reichs bereitwillig an einer undemokratischen Regierung teilgenommen und sich in der Freundschaft des Kanzlers gesonnt. Prominente Juden wie Lasker waren an dem parlamentarischen Kampf für die antikatholische Gesetzgebung von 1873 eifrig beteiligt gewesen. Dem berühmten Pathologen Rudolf Virchow, einem der Begründer der Fortschrittspartei und Befürworter der Bismarckschen Katholikenverfolgung, wurde die zweifelhafte Ehre zuteil, den Begriff »Kulturkampf« prägen zu dürfen. Die Berliner liberale Presse, mit der viele Juden verbunden waren, hatte einen Kreuzzug gegen Konservative und katholische »Reichsfeinde« geführt und geholfen, das Prädikat »ultramontan« zu einem der populärsten Schmähworte der Zeit zu machen, zu einem Begriff, in dem sich liberale Aufklärung gegen katholisches Dogma mit nationalistischer Feindseligkeit gegen eine Autorität verband, die ihren Sitz ultra montes hatte, nämlich im Vatikan.

Die antisemitische Agitation des katholischen Lagers endete jäh und unter merkwürdigen Umständen. Ein katholisches Blatt in der Provinz, die Schlesische Volkszeitung, hatte mit dem Nachdruck der Germania-Artikel begonnen, unterbrach aber die Reihe plötzlich und veröffentlichte am 2. Oktober 1875 eine Erklärung, in der es sich von dem Inhalt der Artikelserie lossagte43). Haß gegen die Juden sei unvereinbar mit christlicher Nächstenliebe, stellte das Blatt fest und fragte sich, ob die Germania nicht der Kreuzzeitung in die Falle gegangen sei; der Verfasser der Germania-Artikel könne sehr wohl Hermann Wagener sein, ein Vertrauter Bismarcks, und die Anregung sei möglicherweise direkt vom Kanzler gekommen, der auf diese Weise eine Änderung seiner Politik vorbereiten wolle. Ob die Schlesische Zeitung mit dieser Vermutung recht hatte, läßt sich kaum feststellen. Wawrzinek44) nimmt an, daß die Germania-Artikel von Joseph Cremer stammten, der später einer der Führer und Bismarcks Agent in Adolf Stoeckers antisemitischer Berliner Bewegung wurde. Ob jedoch von oben inspiriert oder nicht, die Artikel taten ihr Werk: zwei ehemalige politische Opponenten stießen auf einen gemeinsamen Feind. In der antijüdisch-antiliberalen Kampagne fanden sich katholische Gegner des Preußentums und protestantisch-konservative Antikatholiken zusammen.

Von der liberalen Geschichtsschreibung ist das heftige Aufflammen von politischem Antisemitismus in den katholischen Kreisen der siehziger Jahre oft als eine bedauerliche Episode in einer sonst harmonischen Beziehung zwischen zwei Minderheitsgruppen betrachtet worden, als ein faux pas der gereizten Kirche, den sie schnell wieder korrigiert habe. Eine solche Erklärung dürfte kaum genügen. Die Zentrumspartei war dabei, eine exponierte strategische Stellung im Reichstag zu beziehen, die sie von 1879 bis zum Ende der Weimarer Republik nicht wieder verlieren sollte. Als eine konfessionelle Partei, deren Mitglieder sich aus allen sozialen Klassen rekrutierten, war sie in der Lage, politische Bündnisse mit der Rechten und der Linken einzugehen, ohne befürchten zu müssen, ihre Anhänger könnten ihr davonlaufen. Als Bismarck Ende der siebziger Jahre den Kulturkampf abbrach, gewährten ihm die Katholiken als Gegenleistung bedingte parlamentarische Unterstützung. Die nationalliberale Ära war vorbei; mit ihr erlosch der stärkste Anlaß für Antisemitismus in den katholischen Reihen (45).

Die Strategie der Katholiken den Juden gegenüber hatte also wohl ebensowenig etwas mit christlichen Prinzipien zu tun wie die der protestantischen Konservativen. In erster Linie waren es politische Erwägungen, von denen sich der Katholizismus leiten ließ. Daß seine Beziehung zu den Juden im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte nicht unfreundlich war, beruhte auf anderen Faktoren als auf dem christlichen Glauben an die Brüderlichkeit der Menschen (46).

In seinem Vorhaben, Deutschland zu einigen und zu einer modernen Großmacht zu entwickeln, war Bismarck gezwungen gewesen, sich auf den Liberalismus zu stützen, nicht aus innerer Neigung, sondern weil die immer noch halbfeudale preußische Aristokratie seinen Plänen lauwarm gegenüberstand. Schon in den siebziger Jahren jedoch wurde es immer klarer, daß es auf die Dauer kaum möglich sein werde, das Reich mit einer liberalen Mehrheit zu regieren, ohne dafür drastische Änderungen in der Machtstruktur des Staates in Kauf nehmen zu müssen. Schon seit der Reichsgründung standen die nivellierenden Tendenzen von Handel und Industrie in scharfem Konflikt mit den ständischen Interessen der preußischen Aristokratie und Monarchie. Das Staatsgefüge konnte diese Spannungen nicht eliminieren, sie lagen in ihm selbst begründet (47).

Während seiner ganzen Kanzlerschaft war es Bismarcks Bestreben, zu verhindern, daß die konstitutionelle Regierungsform unter liberalem und sozialistischem Druck von der parlamentarischen abgelöst werde. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht, eine notwendige Konzession an den Liberalismus, beschwor ständig diese Gefahr, und des Kanzlers Abhängigkeit von den Nationalliberalen verstärkte sie noch. Die Liberalen gewährten ihre Unterstützung nicht ohne Gegenleistung. Sie drängten auf Liberalisierung des Staatsapparates und auf Demokratisierung der Verwaltungslaufbahn, die immer noch weitgehend ein Monopol des Land- und Dienstadels war. Sie betrieben eine Wirtschaftspolitik, die wachsende Opposition hervorrief und die Führung der Regierungsgeschäfte komplizierte. Es tat der Stellung des Kanzlers als eines »ehrlichen Maklers« zwischen Vertretern gegensätzlicher Interessen nicht gut, daß er in Abhängigkeit zu einer einzelnen Partei geraten war. Angesichts seiner Position und der politischen Aufgaben, die er sich gesetzt hatte, mußte ihm daran liegen, daß sich im Parlament keine ständigen Mehrheiten gruppierten.

Die von der Wirtschaftskrise hervorgerufenen sozialen und politischen Spannungen ließen bald eine neue Gefahr am politischen Horizont auftauchen, die es Bismarck noch schwerer machte, seinen Kurs einzuhalten. Im Mai 1875 vereinigten sich in Gotha die beiden Hauptorganisationen der sozialistischen Arbeiterschaft – der von Lassalle 1863 in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die von den Anhängern von Karl Marx, insbesondere Wilhelm Liebknecht und August Bebel, 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei – zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (48). In den Wahlen von 1874 hatten die beiden Richtungen zwar erst neun Reichstagssitze erhalten, und ihrer Ideologie nach war die neue Partei scharf gegen die Grundsätze des bürgerlichen Liberalismus gerichtet, in der parlamentarischen Praxis aber spielte sie doch die Rolle eines Verbündeten der linken Liberalen; beide erstrebten eine parlamentarische Regierungsform. Bismarcks vordringlichste Aufgabe wurde es jetzt, seinen Obrigkeitsstaat gegen den Einbruch einer gefährlichen Koalition zu verteidigen; seine politische Strategie zielte darauf ab, die Liberalen zu schwächen und die Sozialisten zu unterdrücken.

Sozialgesetzgebung und Schutzzollpolitik, so hoffte der Kanzler, würden es der Regierung ermöglichen, sich die von der Krise verursachte allgemeine Unzufriedenheit zunutze zu machen. Staatseingriffe sollten die liberalen Vorkämpfer des Freihandels in Verlegenheit setzen und schwächen, dagegen Macht und Ansehen des christlichen Staates stärken und den Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln nehmen. Zur Durchführung seiner Absicht aber brauchte Bismarck die Unterstützung einer ihm wohlgesinnten Reichstagsmehrheit, die er in diesem Falle nur von den Konservativen und Katholiken erhoffen konnte. Die Grundlagen für eine Koalition der beiden Parteien waren im Laufe der antisemitisch-antiliberalen Kampagne gelegt worden. Daß Bismarck persönlich dabei aufs heftigste angegriffen worden war, trübte nicht seinen Blick für die Möglichkeiten, die sich aus der Neugruppierung ergaben.

* Sämtliche Anmerkungen befinden sich am Schluß des Buches, S. 229 ff. Die hochgestellten Ziffern, z. B. 2), beziehen sich auf reine Quellenangaben, die in Klammern gesetzten, z. B. (4), auf sachliche Anmerkungen, die dem besseren Verständnis des Textes dienen. (Anm. d. Bearbeiters.)

Vorgeschichte des politischen Antisemitismus

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