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SPAZIERGANG

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Und die Zeit verstrich. Pater Laurentius Perger segnete indessen die Menschen, wie es sich schickte, den einen mit Wasser, den andern mit Erdreich; er segnete so oft und so lange, bis er müde war und zu einem schnellen seligen Tod entschlief. Das ewige Leben aber knospete weiter, auch im alten Stralzenhaus. Die drei Kinder erhielten sich weiß und rot bei quellfrischer Munterkeit und gesundem Appetit. Sie waren selten brav, niemals mustergültig und gebärdeten sich oft dermaßen stark, daß Frau Constantia sie mit peinlichen Justizgriffen nicht mehr meistern konnt und sie in die Rauchküche einsperrte, bis auf den Abend der Moarknecht Zeit fand, sie tüchtig zu streichen. Sie waren aber doch die Freude ihrer Mutter. Und wann in diesen Jahren manchmal ein Schatten über das frauliche Glück der Stralzin ging, hatten nicht die Untugenden der Kinder, sondern die karge Wesensart ihres Mannes oder vielleicht auch ihre unmaßliche große Zuneigung schuld daran. Sie hatte ihr Herz dem einen aufgespart. Und weil sie einmal seine Lieb verkostet hatte, war ihr immerwährend bang nach ihm. Sie wollte sich in vielen Aufmerksamkeiten verschwenden und verschenken, sie erlebte Wunder, wo er lediglich den Lauf der Natur empfand.

Er nahm die Zeit seines Lebens für einen schönen weiten Spaziergang; hatte keinen Ehrgeiz, dachte weder ans Reichsein noch ans Armwerden, er sog die Lust bedächtig wie die Luft und wies jede Sorge von sich, weil sie ihn belästigt hätte.

Da hat ihn einmal seine Muhme zu sich berufen. Sie war steinalt und fühlte ihren Hinschied.

»Stralz«, sagte sie, »morgen steigt mir das Wasser zum Herzen. Ich gespür’s. Setz dich her da.«

Die angstig heiße Stube, in der es von Hönig, Wermut, Wacholder und Mixturen roch, behagte ihm übel. Die Katze mit dem schäbigen Schwanz, die unaufhörlich an den Hadern und Tüchern herumschnurrte, die Bresthaftigkeit der armen Frau verursachten ihm ein Gefühl des Widerwillens. Er stand noch immer. Und sie hub an, als hab’ sie alles ihr langes Siechtum hindurch eingelernt.

»Stralz«, hub sie an, und ihre entzundenen Augen, das einzig Lebendige an ihr, suchten die Wände ab. »Wie du halt magst. Ich hab das Haus und zwanzig Joch Grund herüben, den Wald auf dem Mitterberg und etliches Kleingeld … in meinem Strumpf. Morgen ist alles dein. Ich verlang davor nit mehr, als daß du meine Leich zahlst vom Haustor weg, ein geschmiedtes Kreuz und Requiem jedes Jahr an meinem Sterbetag. Wie du halt magst.«

Während er so dastand, als höre er die Körner im Stundenglas, wechselten in seinem klaren, nüchternen Hirn die Vorstellungen traumartig. Er sah die Arbeit, welche dieser schrecklich hinwelkende Körper brauchte, bis seine letzte Spur verwischt sein würde, sah das verbriefte Testament, den Schreiberlohn, die opulente Zehrung … alles, von den neuen Knechten, die er dingen mußte, bis auf Jahrzehnte hinaus den Silbergulden für die arme Seele im Fegfeuer. Er sah die Last. Seine Sinne sträubten sich vor dem alten Leut, dem muffigen Hausrat und dem herben Wacholdergeruch. So sagte er Dank für ihren guten Willen und empfahl ihr einen notleidenden Verwandten an.

Seine brave Ehefrau grämte sich bitter, als sie vom Zedler diese Geschichte vernahm. Ihr ziemte, daß der Muhme ihr Gütel zum schönen Stralzischen Besitz wohl dazugestanden wär, und sie hätte dringlich gewünscht, daß sich dermaleinst jeder Sohn in ein volles Haus setzen könne. Sie blieb verärgert den ganzen Tag; allein sie machte dem Herrn Andreas keinen Vorwurf, denn er hatte ihr seit langem abgewöhnt, über Dinge zu reden, die er nicht hören wollte. Das war gut für den ehelichen Frieden und war böse für ihre trutzige und schamhafte Lieb … Die Liebe ist ein wildes, tückisches Element, dem Feuer, dem Wasser, dem Erdreich oder dem Sturm vergleichbar … und immer eine große Gefährlichkeit … Einschichtige befällt es gerne tödlich. Wo jedoch die Menschen zuhauf sind, zerstiebt es vielgestaltig in Funken, Tropfen, Staub und Luft, da läßt es sich erniedrigen und angreifen von jedem Schmarotzer. So erging es der Mutter Stralzin vor allem in den glücklichsten Jahren, daß sie ihr übervolles Herz auf die Gasse tragen mußte. Und wenngleich sie bei weitem verschwiegener war als die andern Frauen, so machte sie sich durch den Umgang schon mit ihnen gemein. Ihre Liebe, das wilde Element, wurde demütig unter der zudringlichen Neugier. Das eine Weibsbild schürte, das andere blies. Ihre Liebe wurde wie ein Hüglein Glut, darin viele Feuerhaken umstocherten. Es tat ihr wehe. Und sie faßte oftmalen den Vorsatz, sich wiederum den Menschen gänzlich zu verschließen. Allein sie brauchte doch Teilnahme an ihrem fraulichen Glück; und wann ihre braunen Augen zuweg dem Eheherrn hellauf leuchteten, und wann zärtliche Gedanken sie bedrängten, ging sie doch zu den Weibern in der Nachbarschaft; denn er, Andreas Stralz, gab darauf nicht Obacht.

Stundenlang streifte er durch Acker und Wald, sich an dem keimenden, blühenden und gesegneten Leben erfreuend. Immer andächtiger vertiefte er sich in die Offenbarung der Natur, und sein ganzes Wesen wurde ihr durch den steten Umgang angeglichen. Wie seine Buben so der Reihe nach aufwuchsen, nahm er sie auf seine Spazierwege mit. Weil er aber weder unterhaltend noch belehrend sprach, sondern auf seine eigensinnige Art den Dingen nachgrübelte, hie und da eine wichtige Erfahrung fix und fertig vor die unreifen, fahrigen Kindsköpfe hinwarf und notabene, wenn eins unverständig den Mund aufmachte, einfach zur Antwort gab: »Frag nit so dumm«, wurden sie dieser väterlichen Auszeichnung bald überdrüssig und verzogen sich, wenn er zum Ausmarsch pfiff. Nur auf den Herbst freuten sie sich allemal, weil er sie nämlich zum Kirchtag in die umliegenden Dörfer und Märkte mitgehen ließ.

An einem Mittwoch im Monat Oktober sagte er richtig nach dem abendlichen Tischgebet:

»Buam, morgen heißt es früh aufstehn!«

Das mußten sie eigentlich ohne Ausnahme im Sommer und Winter, indem sie ihrem Herrn Vater das eiskalte Badwasser zu bringen hatten. Sonderlich gern geschah dieses zu keiner Zeit, und in ihrer Vorfreude hielten sie es geradezu für unmöglich, morgen in der Frühe noch sechs schwere Kübel vom Fluder heraufzuschleppen. Da beschlossen sie insgeheim, es schon am Abend zu tun; und wie es finster war, daß einer den andern stieß, brachten sie gleich flinken Hutzelmännlein den Schwindel zustand. Ihre Frau Mutter merkte es wohl, denn sie hatten nicht wenig gepanscht über die Stiege. Sie zürnte aber nicht. Vielmehr zog sie drei frisch gebleichte rupfene Hemden aus der Schublad, und jedem Kind steckte sie ins lederne Sunntaghöslein ein blaues Schneuztuch, und ins Schneuztuch knüpfte sie liebevoll einen Viererbatzen.

Die Buben hatten in solcher Nacht einen unruhigen Schlaf. Sie warfen sich auf ihrem Strohsack herum, daß die Bettstatt krachte, schrien überlaut und träumten also wild und wunderschön wie Irgel, der Roßknecht, wann er vom Schnapssaufen rauschig geworden.

Kaum krähte der Hahn auf seiner Leiter, kaum war irgendein Tritt im Hause vernehmlich, sprangen sie schon in die Höhe. Durch den dünnen Kattunfürhang schimmerte noch kein Tag. Der Nebel schwamm draußen wie ein dunkles, weiches Tuch aus Baumwolle, die Sterne und selbst die Backstubenfenster des Nachbarn verhüllend. Das bißchen Gewand hatten die Kinder bald angezogen. Daß sie im Finstern öfters derb zusammenstießen, daß der Matthäus den Markus beutelte, weil dieser das Stück Pechseife nicht hergab, und Lukas in aller Eile gleich drei Knöpf abdrehte, machte ihrer hellen Glückseligkeit keinen Eintrag. Sie bumsten die Stiege hinab und trafen in der Küchentür gerade die Frau Mutter, welche Mus und Schottsuppe kochen ging.

Matthäus, sonst nicht der Eifrigste, suchte seinen Taschenfeitel, schnitt einen Buschen Späne, heizte ein krachendes Feuer an. Und Markus setzte das Wasser zu. Und Lukas hielt das beschmierte Öllämpchen und leuchtete ihr in das Speisbehältnis, damit sie Mehl und Rindschmalz und Schotten fände. Er schraubte den Docht auf und nieder und spielte mit seinem Schatten an der Wand, bis die Frau Constantia ihm das Licht wegnahm und auf den Mauersims stellte. Es zuckte, flackerte. Das Roggenmehl in der hölzernen Teigschüssel war mit Salzkristallen aufgeputzt. Und die Kinder stupften den Daumen in die Herrlichkeit, bis die Mutter Stralzin den Schnellsieder vom Dreifuß genommen und das Mehl abgebrannt hatte. Das Schmalz in der Pfanne brutzelte schon und spritzte hoch, als sie den Teig hineintat und zerstampfte.

Sie hatten alle einen glühroten Schein vom offenen Herdfeuer über den Gesichtern und dem blonden Haar. Das blanke Kupfergeschirr war neben dem rußigen Kamin wie lauter große Sonnenkugeln. Auf dem Leinenschurz der Hauswirtin spiegelten sich gelb die Flammen, daß er ausschaute wie blumiger Brokat. Und in opalfarbenem Gekräusel stieg der Harzgeruch eines Föhrenscheites.

Es gefiel den Knaben. Sie waren vertraulicher denn jemals. Sie stunden eng beisammen und sahen zu, wie feine kleine Brotblättchen vom Laib herunterflockten. Dann regnete es Kümmel, dann rieselte es Salz. Und über das alles legte sich schneeig die Schottenbrühe. Sechs Bubenhände hielten den Quirl; als die Frau Mutter das siedende Wasser in die Schüssel goß, fuhren sie nieder und sprudelten, daß die Tropfen flogen. Eins das andere schier verdrängend, schmeichelten sie sich inniger an den brokatenen Schurz und die Schottensuppe heran. Ob es darum geschah, weil die Frau Mutter zuletzt noch etliche Löffel dicken sauren Rahms aus einem Hafen schöpfte und jeder auf den Löffel paßte, ihn abzulecken … oder ob es aus einer unbewußten rauhen Zuneigung geschah, so in der absonderlichen Morgenstunde die rupfenen Pfaidlein erwärmt hat. Mag sein, beides: der saure Rahm und die süße Liebe.

Nachdem es dreiviertel auf sechs geschlagen und sie sich mit den Eltern und dem Hausgesind zum Tisch gesetzt hatten in der schmalen Kammer, welche neben der Küche, aber zwei Stufen höher als diese gelegen ist, dachten die Buben gar nicht mehr an ihr Kunststück von gestern. Doch der Herr Vater musterte sie der Reihe nach scharf mit dem linken Auge, und den ersten Löffel Suppe nehmend, sagte er:

»Wann das Fluder so warm ist, müßts mir mein Wasser vom Bach herbringen.«

Die Bürschchen hielten dem Blick wohl stand. Sie hatten eine eigene Art in solchen Fällen; rissen nämlich ihre Gucker recht groß und recht unschuldig auf und sahen dabei sein rechtes Auge an, das sanft vom Lide bedeckt war. Auch diese Prüfung ging vorüber. Endlich waren sie zur Reise gestellt. Und die Frau Mutter hat jedem noch einen Spritzer Weihbrunn auf die Stirn gedrückt und sie entlassen.

Es schweifte noch immer der Nebel in grauen, schleißigen Fetzlein und wich zerrinnend nur eine knappe Elle vor ihnen zurück. Der Hund schüttelte sich; die Kinder knöpften sich Leibel und Rock zu, denn die naßkalte Luft über den Talsümpfen drang unbarmherzig bis auf die Haut. Beim Dienerhäusel fanden sie einen frischen, rosenrot gefärbten Erdapfel. Der Herr Vater bückte sich, warf ihn zu den andern, welche hinter dem Zaune ausgegraben lagen, und bedauerte, daß man die Früchte während der ganzen Nacht im Freien ließ. Die Kinder achteten nicht darauf, sondern steckten die Köpfe zusammen und redeten, eigentlich schon seit der Morgensuppe, immer dergleichen, ob der Weg übers Grillen ginge, übers Steffel oder nach der Poststraße. Der Stralz sagte nicht ja und nicht nein, wie gewöhnlich, wenn er sehr gut oder sehr schlecht aufgelegt war. In Gstatt, wo die vier Linden an der Wegscheid gepflanzt sind, drehte er sich links gegen die Eichleiten, und itzt wußten sie es zu ihrer Freude ganz gewiß, daß er nach Gröbming wollte zum Viehkirchtag.

Im Wandern brachen sie Haselstecken ab, putzten sie zurecht und schmissen sie beiseite, wann sich einer fand, der noch schöner gewachsen war. Sie hüteten sich wohlweislich, dabei dem Herrn Vater in den Wurf zu geraten, denn er mochte es nicht leiden, wann irgendein Lebendiges in der Natur aus unnützem Anlaß zerstört wurde. Aber er machte ihnen diese Vorsicht nicht allzu schwer; denn er hatte sein Augenmerk auf den umliegenden Dunst gerichtet, prüfte ihn mit seiner Handfläche achtsam, als versuche er, ihn zu ergreifen, nahm den Filzhut ab und maß zurückblickend öfters den Abstand vom Tal. Bei der Sandgrube wartete steif und regungslos ein Wiesel auf … trug schon den Winterpelz. Erst wie Andreas Stralz ganz nahe war, machte es einen Satz und floh bergab dem Nebel zu.

Auf der Hochfläche des Mitterberges weitete sich der Gesichtskreis. Unter tausend zerrissenen Schleiern dehnte sich glashell und lieblich die obersteirische Landschaft aus. Den großen violetten Schirmbaum des Hollerbühels umspannend, schwebte die Sonne auf und zündete den Berg an, und das Licht rieselte langsam hinab über die blaugrünen, bereiften Hänge.

Sie hatten itzt noch gute Dreiviertelstunde bis Gröbming. Er pfiff seinen Söhnen, aber nur der Hund kam angesatzt. Erst beim Brennerhäusel sah er einen. Es war Matthäus, weit übergeneigt, mit seinem Hütel aus dem Ziehbrunn schöpfend, der nur Trinkwasser für das Vieh abgab und der nach den Regenwochen einen so hohen Spiegel hatte wie ringsum die Tümpel der Moorwiesen.

»Pfui Teufel, du Fark!« rief der Stralz ermahnend.

Das Kind gehorchte sogleich. Doch im Nähertreten bemerkte er in dem kecken Knabengesicht einen derart unbändigen Trotz, daß er, obwohl das Fragen nach seelischen Ursachen beileibe nicht seine Gepflogenheit war, dem Matthäus unters Kinn griff und ihn examinierte.

»No?« sagte er.

Der Bub gab keine Antwort.

»Was hast?«

Wieder nichts.

»Schneuz dich!« sagte er.

Eine Menge Unrat flog mit dem blauen Tuch aus dem Hosensack: Kletten, Lärchenzäpfchen, Roßkäfer, Schwämme, ein Hufnagel und ein toter Zaunkönig.

»Her mit dem Vogerl!« befahl der Herr Vater verdrossen und nicht recht wissend, wie er dem eigenwilligen Buben beikommen sollt. Indem er das noch warme Tier auf einen Maulwurfshaufen legte und mit dem Fuße lockeres Erdreich darüberschob, sagte er: »Wo sind die anderen?«

Der Matthäus schupfte die Achseln.

»Habts gerauft?«

»Nein«, erwiderte störrisch das Kind.

Der Stralz verlor die Geduld und spazierte weiter. Vorn lief der Hund; nebenher stapfte grimmig sein Ältester. Auf einmal hörten sie hinterrücks ein Gejammer. Alle drei drehten sich zugleich um, denn es kam ihnen sehr bekannt vor. Und richtig: aus dem Jungholz, welches an der Seitenstraße zur Sagmühl dicht und dornig aufwuchs, spähten die beiden Kinder. Lukas plärrte schreckbar. Und Markus bot, obschon er nicht weinte, einen ebenso hilflosen Anblick dar. Er hatte die rechte Hand steif um einen Prügel gekrampft, mit der linken hielt er verzweifelt sein knallrotes Ohrwaschel.

Der Herr Vater lachte laut auf. Er meinte, nun die Halbscheid erraten zu haben, und sprach wohlmeinend:

»Seids ihr ein paar Trotteln! Hätts ihn halt auch ordentlich geprügelt!«

Aber das war leicht gesagt. Denn es gab beispielsweise im ganzen Schulhäusel keinen, den Magister Raimund Winkler mit inbegriffen, der nicht schon draufgezahlt, wann der Matthäus einen Handel angefangen hatte. Lieber Gott; er war hitzig wie eine Frühkirsche und fest wie ein Zirbenbloch und grob wie der Teufel. Das bedachte der Herr Andreas Stralz, indem er die jüngern Söhnlein herfürzog und dann aufhorchte, wie sie die ganze Geschichte wahrheitsgemäß erzählten.

Nämlich beim Brenner in der Kegelbahn ist der Lukas draufgekommen, was er Schönes im Schneuztuch hat, und desgleichen die Brüder. Und während sie mit dem Gelde spielen, es hin und her schieben und sich ausmalen, was sie auf dem Kirchtag kaufen möchten, fliegt von der großen Fichte ein Zaunkönig auf. Und Matthäus sucht nach einem Stein. Und findt solchen nicht. Faßt den Viererbatzen … zielt … und schleudert ihn stracks in die Luft. Sie hätten ehwohl fleißig das Geld gesucht, stotterte Lukas, und er sei auf dem Bauch gekrochen, bis er waschnaß geworden wär. Und Markus brachte für, daß er dem Matthäus von dem seinigen zween Kreuzer für gewiß versprochen habe.

»Aber der …«, so schloß er den Bericht, indem ein Schauder über seinen Buckel rann, »der wichst uns Haut und Beiner z’samm, hat er gesagt, bald wir bis auf die Nacht seinen Batzen nit gefunden haben.«

Vater Stralz rührte keine Hand. Er ging gleichmäßig seinen Weg, und die drei Knaben, so mit Armesündergefühl zu dem kalten, strengen Gesicht emporsahen, bemerkten nichts darin. Durch die Unbestimmtheit hinsichtlich seiner Strafe und Verzeihung war dem Matthäus der Übermut wie weggeblasen, und er trottete nunmehr wohlanständig hinterdrein. Der Stralz bog von der Straße nach einem Gehsteig ab. Die Grasschöpfe waren stark bereift und das Moos schon gefroren, als wäre November. Die Luft hatte auf der Höhe eine klare, glasige Beschaffenheit, und der Hauch aus Menschenmund hing als unbewegliche Wolke darin. Hinwieder mußten sie eine Lichtung durchqueren. Zwergwacholder wuchs, dessen Schöpfe vom zartesten Weiß ins Blaugrün spielende Nadeln und kümmerliche, fast durchwegs erst zweijährige Beerlein trugen. An kleinen Ortschaften und einsamen Gehöften, in feuchte Hügelmulden gebettet, an Holzschlägen und Rindenhüttlein kamen sie vorüber. Endlich senkte sich der Weg merkbar eine Berglehne entlang. Kurven und tiefgefurchte Rinnsale wurden häufiger. Und über eine kurze Weil stießen sie wieder zum Fahrweg. Händler und Viehtreiber gab es daselbst in Menge zu sehen. Kirchleut gingen im besten Staat. Von Zierting zerrten ihrer sechs ein Mordstrumm Stier, dem eine Blende über die Augen gebunden war. Er brüllte grausig, peitschte ihnen den Schwanz ins Gesicht und wetzte unversehens das Joch gegen seine Schultern, bald nach dieser, bald nach jener Seite, daß die Burschen, welche die Hörner hielten, alle Augenblicke einen ordentlichen Ruck machten.

Als die Öblinger unter solch aufregendem Spektakel das Ende der Kulmleiten erreicht hatten, sahen sie nahe vor sich den Marktflecken Gröbming liegen. Von allen Richtungen herbei strebten die Bauern mit den Pferden und dem braunscheckigen Rindvieh. Die jungen Kälber plärrten traurig in der frostigen Morgenluft, setzten die Hufe schwerfällig auf die ungeschlachten Rinnsteine, welche die Häuserzeile entlang in einer leichten Vertiefung gelegt waren. Der Stralz betrachtete geruhsam jeglichen Blumenbuschen an den Fenstern, jeglichen Obstbaum, Kürbis, Krautkopf oder was sonst zu sehen war. Sowie er jedoch vom Turm der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt das Halberläuten vernahm, führte er die Kinder zum Lebzelter hinein und ließ jedem ein Stück Hönigbacht verabreichen.

Der Lebzelter war, wie bereits erwähnt, ein zugewanderter Franzose, erst seit wenig Jahren allhier seßhaft, und gebrauchte die breite obersteirische Mundart, daß es zum Erbarmen war. Auf ihn hatten es die Buben scharf abgesehn, horchten mit gespitzten Ohren. Und lachten ihn hinterher wacker aus.

Dieses wohl erkennend, sowie in, Erwägung einer hochwichtigen Ursach, zog der Zuckerlkramer den Stralzen mit einem Wink beiseite und erzählte ihm die leider erwiesene Tatsach, daß die lutherischen Ketzer beim Loy Gottesdienst abhielten, und zwar draußen im Tenn, jedermann offenbar, daß dieselben keineswegs mehr leugneten oder abschworen, sondern mit ihrer Dreistigkeit den katholischen Bürgern und Bauern ein peinliches Ärgernis gäben.

Zumal der Herr Vater nur einen Brummler machte, fuhr der Franzose hitzig fort:

Bedauerlicherweise habe das Archidiakonat von Salzburg seine herrschaftliche Befugnis verloren. Aber es könnte doch in aller Heiligen Namen der Kaiser in Wien diesem Umstand eine Abhilf schaffen; denn ansonsten sei ein übler Ausgang zu prophezeien.

»Der Kaiser Franz in Wien hat was anderes zu tun«, bemerkte der Stralz, mit Vorliebe den politischen Kern dabei erfassend. »Und es kann seinen Wunsch und Willen nit ausmachen, itzt den Untertanen einen Kommissär auf das Genick zu hetzen, als wie geschehen ist Anno 1599; item, er wird die lutherischen so gut wie die katholischen Steuerzahler über kurz oder lang zu brauchen wissen.«

Was denn im besagten Jahre 99 eigentlich gewesen wär, frug der Franzose, mit seinem schmalen beweglichen Figürchen ganz und gar hinhorchend, weil er dem Bauernteutsch äußerst schwer nachkam. Auch die Buben standen längst hierbei und drückten, ohne es gewahr zu werden, ihre Ellbogen fest an die Lebzeltherzen, die, mit Spruch und Blumen verziert, sich darboten; und der Hund schloff an ihren Knien entlang und leckte die Bröselein auf.

»Was wird’s gewesen sein …«, sagte der Stralz besinnlich. »In der Stiftspropstei Gstatt ist eine Urkund, worin geschrieben steht, daß sie durch großen Blutverguß den neuen Glauben haben austreiben wollen und daß die evangelischen Gröbminger sich gewehrt haben mit Sengsen, Spieß und Feuerhakeln … drei Tag und drei Nächt. Und auf zuletzt, da sie bänglich alle Kraft verlassen hat, ist übern Mitterberg der Öblinger Schneider Joseph Werder mitsamt seinem Anhang zuhülf kömmen. Und die erzbischöflichen Kommissär haben die Sach lassen müssen, wie sie stund, bis übers Jahr, allwo sie mit kaiserlicher Assistenz die Ketzer, fürnehmlich den Prädikanten Martin Schröffl, verjäukt und Obbenannten seine Hueben sauber verbrennt haben.«

»Gut, gut!« stimmte der heißblütige Franzose bei und strich sorgfältig sein unglaublich dichtes, gepudertes Haar. Und frug im Eifer, ob solcherlei Straf und Brandschatzung nicht auch anheut am Platze wär.

»Probier’s der Herr Lebzelter grad. Aber sie werden Ihm bei der obersten Justizstell nachher das Toleranzpatent unter die Nasen reiben, noch von Josefi des Zweiten Gnaden.«

Den Kopf geduckt, die Brauen hochgezogen, schaute der Wachszieher zum Vater Stralzen auf. Und behauptete, seine Worte umständlich zurechtlegend: er, welcher noch unter der Glanzzeit Ludwigs des Fünfzehnten ein selbständiger Bürger geworden und sich der Steuerabgabe sowie verschiedener patriotischer Opfer hinreichend erinnere, sei dessenungeachtet im Herzen der bourbonischen Krone treu und meine, immer tauge die Freiheit besser für einen denn für viele, und befürchte … um abermals beim vorerwähnten puncto anzuknüpfen … er befürchte also, daß die josephinische Toleranz noch eine ansehnliche Zahl gefährlicher Malefizpersonen zeitigen werde.

»Nein«, widersprach der Herr Vater mit überzeugender Ruhe.

»Weißt, die Geschicht ist aso: wann ich einen schlechten Knecht gestreng angreif, alsdann kann er mir das Haus abheizen; wann ich ihn gelind angreif, alsdann nimmt er mir das Haus weg; verstehst? Aber mit einem schlechten Knecht därf ich nit rechnen. Verstehst? Wann der Herr was hergibt, so denkt er auf die Guten.«

Das sei in politischen Dingen schon möglich, gab der Franzose zu. Allein wohlgemerkt, in religiösen habe er weitaus geringere Zuversicht. Und er vermute, daß vonwegen der Gröbminger und Schladminger, nicht zu vergessen der Ramsauer Ketzer, werde noch in grausiger Art die Rede sein.

»Nein«, sagte der Stralz wiederum, ohne daß ein Fältchen seines Gesichtes zuckte. »Nein, Herr Lebzelter, glaub Er’s: gegen seine Lutherischen hülft kein Kaiser, kein Künig und kein Schwefelregen. Wann von denen einer umsteht … muaß es wohl einwendig brennend werden.«

An solchen Feuerbrand des Herzens aber mochte der Franzose baß nicht glauben, insonderheit er die Leidenschaft und Erschütterung stets mit äußern Anzeichen verbunden wähnte und aus Ursach dessen die kargen und trockenen Menschen dem Hochgebirge ringsum ähnlich fand und, hiebei die nackte Natur noch mehr verkennend als ihre Inwohner, im Grunde genommen den trefflichsten Vergleich tat. Denn wie der ewige Firnschnee dem Entfernten nur einen starren Hauch zuwendet, den Nahen aber erwärmt und durchschauert wie die Liebe, das Fieber, nicht selten wie der Tod … so hat auch der Bauer, insoweit er von Götzendienst und Komödie noch unversehrt und rein ist, die ganze Größe des Gefühls in sich; nur daß niemand … weder Vater noch Mutter, Kind und Kindeskind dasselbe erfaßt; es sei denn, daß einer selbst die Hand auf den hohen Firn legte … wie Sankt Thomas in das heilige Blutmal …

Unter dem Disput war schier eine halbe Stunde verstrichen. Der Stralz zog den Geldbeutel, zahlte seine Schuldigkeit und ließ den winselnden Hund im Vorhaus zurück. Dann gingen sie zum Hochamt. Die große Glock hub schon zu schwingen an. Die Kirchleut warteten allbereits ziemlich gedrängt auf den Stufen und im Vorbau. Auch Kinder genug trieben sich herum. Die Stralzenbuben freundeten sich mit keinem an und wichen dem Herrn Vater nicht von der Rockfalte. Das Feierliche des Ortes, der Tracht und Gebärden verwirrte sie, obschon es ihnen keineswegs neu war.

Nachdem sie das Hütel abgenommen und das Kreuz gemacht, wollten sie, keck ausschreitend, in den schön geschnitzten krumpen Stuhl hinein.

»Stehnbleiben!« gebot der Herr Vater. »Wir haben da keinen Stuhl gelöst.«

Und sich ein wenig niederneigend, erklärte er ihnen die kunstvolle Bauweise, zeigte mit sachter, unauffälliger Bewegung die Votivbilder und das gemauerte Chorgestühl, dessen Bogengeländer die bunten Farben der Fenster empfing. Er zeigte ihnen das Pförtchen, so zur Schatzkammer und zum Turm führt, und machte sie auf die Kanzel aufmerksam, hiebei fragend, wer wohl die Männer wären, mit dicken Büchern daselbst aufgemalt. Die Kinder rieten hin und her, bis er ihnen kundtat, es seien die vier Evangelisten. Da fühlten sie einen mächtigen Stolz in sich und musterten einander, um eine Ähnlichkeit mit den Heiligen herauszufinden. Sie entdeckten aber, selbst von ihrer kindlichen Phantasie unterstützt, gar keine und sprachen schließlich unzufrieden und ernüchtert den Vorwurf aus, daß ihnen überhaupt eine abginge … Doch schon im nächsten Augenblicke deutete Lukas auf ein großes Bild, welches am unteren Ende, abgesondert von der Hauptdarstellung, einen Ritter in finsterer Eisenrüstung und, auf ihn zukommend, mehrere Frauenspersonen zeigte, teils groß, teils kindlich, alle aber strenge mittelalterlich … fast nonnenhaft gekleidet und mit ihrem Adelswappen signiert. Zwischen diesen, nur ferner in den Hintergrund gerückt, stand ein pudelschwarzes Weib bei einem Butterkübel.

Was das bedeute? frugen neugierig die Kinder.

Ohneracht die Gröbminger schon vereinzelt in die Kirche traten, explizierte er ihnen solches Gemälde als das Grabdenkmal des Herrn Christophorus, Schloßherrn zu Aigen, und seiner Gemahlinnen, abgeschieden in Christo gegen die Wende des sechzehnten Jahrhunderts. Hintenbei wäre die Sennin, welche auf einer Alm inner Donnersbachwald hab gehauset und gewirtschaftet. Nach überliefertem Bericht sei dieselbe mit dem hölledigen Satan im Bunde gewest und habe jedes Freitags sündlich Fleisch gefressen und gefaulenzt. Und wann der Halter den Käse und Schotten auf seine Buckelkraxe getan und nach dem Bütterl fragete, hat sie allemal tückisch gelacht und geschworen, selbiges werde am Sonntag schon unten sein. Und richtig! Zur gegebenen Morgenstund, kaum daß die Kapuziner von Irdning die Matutin geläutet, ist das Rührkübel im See geschwommen, und der Herr Graf Christophorus konnt es vom Fenster seiner Schlafkammer aus gar deutlich sehen. Nachdem ein Knapp es geholt und eine Dirn den Deckel und Stessel hinweggeräumt, erblickte man jedesmal einen Butterstrutzen, gelb und locker und seine elf Pfund wohl schwer. Ganz vergeblich hat das erste Gemahl des Grafen gebeten, das unheimliche Weibsbild zu verjagen. Nagenden Schmerzes voll, mußte sie frühe sterben. Das gleiche Schicksal erfüllte sich auch an seiner zweiten und dritten Ehefrau. Die vierte, Potentia mit Namen, war eine resolute Person. Gab dem Hüterbuben ein Beutlein Silberbatzen, damit er die Spitzbüberei aufhelle. Solches ist ihm de facto gelungen, indem er nämlich in einer Samstagnacht, hinter der Sennin herschleichend, bemerkte, daß sie ihr Kübel voll sauern Rahm zu einem versteckten Almtümpel schleppte. Alsdann hat sie neunmal in einem Atem ihren Zauberspruch gewispelt, das Faß angespuckt und hineingeschmissen. In einem unterirdischen Wasserlauf, berichtete der Halter, mag es der Teufel an seinen Schwanz gebunden und in den Butterer See geschleift haben. Die Frau Potentia behielt solches nicht für ein Geheimnis. Sie entdeckte es stante pede ihrem Eheherrn Christophorus. Aber das letzte Wort sagend, sank sie um und war tot.

Ein graues, steinaltes Mütterl, welches neben dem Stralzen den Rosenkranz herabbetete und mit augenscheinlicher Neugier und Mißbilligung zugehorcht hatte, behauptete itzt steif: Die Geschicht sei gewiß erlogen. Denn allhier habe man den Grafen von Moosheimb mit seinen Frauen und Kindern aufgemalt, denselbigen, der ein Kreuzritter gewesen und vom Papst mit einer geschnitzten Mutter Gottes beschenkt worden ist. Weitum hätten sie das wunderbare Bildstöckel gerühmt, und zu Pestzeiten hätte sich rings der Boden gesenkt unter den Fußtritten der Pilger. Darum wäre noch anheut der Ort Maria-Grüaberl benennet …

Die Hex hintenbei möchte wohl seine Stalldirn sein. Sie ist vor etzlichen hundert Jahren mit Haut und Haar auf dem Scheiterhaufen eingegangen, weil sie nach beschworenem und gesiegeltem Bericht der Kalenderschreiber im strengen Winter blühende Buschen am Fenster gezogen und, was noch höllischer, mehr Butter gerührt habe als die besten Bäuerinnen weitum. Verstreut sei ihre Asche in alle Wind, der Leichnam des Moosheimber Grafen jedoch unter der Kirchen begraben; man sehe noch den gemeißelten Pflasterstein, gerade dort, wo das Büberl herumsteige. Und sein Kirchenstuhl, reich geschnitzt und kostbar, befände sich gerade über dem krumpen Stuhl.

Solches hörten sie.

Der Herr Vater sonderte und ordnete es akkurat in seinem Gedächtnis; und nahm mehr für sich allein weitere Anschauung vor, denn die Kinder suchten bald mit beweglichen Augen überall wie gefangene Vögel und fanden in wunderbar gerechter Einfalt keinen Unterschied zwischen Gottes kleiner Spinne, so da wob, und den großen harmonischen Künsten eines Baumeisters. Und inwährend der Stralz mit ruhiger, fast verlorener Andacht den Flügelaltar bestaunte, an Christi Leiden und Glorie sich erbauend, zählte Markus die Rosettchen der Glasmalereien, gaffte Matthäus ohne Unterlaß auf den Lichträuber, welcher von einer armdicken Kerze brenzelnd herabqualmte. Und Lukas, der Kleinste, hielt mit einer gruseligen Freude seinen Hut unter den Moosheimber Stuhl, weil er hoffte, das Spinnlein werde hineinfallen.

Die Frauenzimmer sahen schon ärgerlich drein. Und auch die Männer mißbilligten das halblaute Gespräch des Stralzen und fanden den Leumund so unbegründet nicht, der im Ennstal und selbst in den Gräben über ihn besagte, er sei ein heimlicher Freigeist. Der Herr Vater scherte sich nicht darum. Nur da aus der Sakristei schon ein Ministrant herfürtrat und den Glockenzug faßte, fand er es geziemend, seine Betrachtung abzuschließen. Er lenkte die Aufmerksamkeit seiner Söhne noch kurz zu den schön geformten Pfeilern hin, welche emporstrebend das feine Netz des blauen Spitzgewölbes tragen.

Solches, erklärte Vater Stralz, solches bedeute für den Ort eine Rarität, zumal es gotisch sei. Daheim, wie sie wüßten, habe die Kirche nur einen Dibbelboden.

Diese Rede machte auf die Buben ernstlichen Eindruck. Sie glaubten allesamt, der liebe Gott sei in Gröbming besonders gegenwärtig, weil sie ein »gottisches Dach« hätten, und sie bezweifelten, ob er auch unter einem Dibbelboden möchte wohnhaft sein.

Das Hochamt nahm seinen Verlauf. Bei Evangelium, Wandlung und Kommunion läutete schrill und hell das Pestglöckerl, daß es durch Mark und Bein fuhr. Und die mannigfachen Gebete, die fast ausnahmslos in den Bedürfnissen der engsten Heimat wurzelten und sehr schlicht, um nicht zu sagen einförmig, von den Lippen brachen, entbehrten jenes gewissen Eifers nicht, der, genau jedwede Form und Zeremonie beobachtend, vorzugsweise in Gemeinden mit zweierlei Bekenntnissen offensichtlich ist …

Es war schon lauer Vormittag, als sie wiederum auf die freie Weid hinaustraten. Die Kinder entschädigten sich für das lange Stillesein durch ein Gezwitscher und Gezappel und spürten sogar den Hunger nicht mehr, welcher sie in ihrer ehrfürchtigen Sammlung bedenklich gestört hatte.

»So, Buam!« sagte der Herr Vater; ermahnte sie hierauf zu braver Aufführung und schaffte an, daß sie Schlag zwölf sollten beim Gröbminger Bräuhaus auf ihn warten. Dann ließ er sie laufen. Augenblicks waren sie fort. Zuletzt sah er noch Lukas, der, mit beiden Ellbogen puffend, sich mühte, die großen Brüder im Gedränge des Kirchtags ja nicht zu verlieren.

Es gäbe lang und viel darüber zu erzählen, wie die Stralzenbuben mit hell aufgesperrtem Aug und Ohr zu Gröbming umeinander trabten, und wie sie schon anfingen, es den Alten nachzutun, beispielsweise vom französischen Zuckerlkramer patzig ihren Hund zurückverlangten, einem lieben scheckerten Kalb die Stirn kraulten oder einem Rössel das Maul aufrissen und hineinschauten; bis sie endlich zu gesetzter Zeit ihren Herrn Vater wiederfanden und im Nebenzimmer der Bräumeisterwittib sechs Paare Krenwürstel und einen appetitlichen Schweinsbraten verzehrt haben. Der Stralz selber aß und trank ungemein mäßig, legte nach kurzer Weile das Besteck auf den Teller und sagte: wenn’s am besten schmecke, so müsse man es weislich lassen. Dann frug er gutlaunig den Markus, was er für sein Stück Geld wohl erhandelt hätt. Das Kind schlug den Lodenrock auseinand, welcher steif wie ein Brett von ihm wegstand und dessen inneren Sack er mit einem Weinbeerwecken vollgepfropft hatte, der vielerorts schon angebissen war. Auch den Lukas frug er. Derselbige zog sein Schneuztuch heraus, löste schlau lachend einen Knopf, und was sahen sie:

Der Frau Mutter ihren blitzblanken Viererbatzen! Er habe nirgends nichts Gescheites gefunden, behauptete Lukas errötend. Und für so ein kindisches Tändelzeug sei er halt zu groß.

Item, der Bub war im April erst neun Jahre alt gewesen.

Mit dem Matthäus redete der Stralz kein Wort.

Sie machten sich alsbald auf den Heimweg, insbesonders, weil der Herr Vater fünf Ochsen gekauft hatte und das Viehtreiben zwar ein spaßiges, aber nichtsdestoweniger recht kompliziertes Geschäft war.

Er blieb noch einmal unschlüssig stehen, in Überlegung, ob er den Kindern nicht auch den sehr nahe gelegenen Pestanger zeigen sollt, wo der Sage nach unzählige Gebeine ruhen, wohlbeerdigt durch Pfarrer und Totengräber, deren arme Leichen man nachmals auf dem einsamen Acker fand; ein schreckbar ergreifendes Zeugnis christlichen Martyriums! Doch unterließ er’s, um ihren harmlosen Sinn durch keine Vorstellung zu beschweren, welche sie nach seiner mutmaßlichen Ansicht nicht würdig genug einschätzten. Seinen Weg also wieder der Kulmleiten entlang nehmend, baute er für sich wunderliche Gedanken aus und mäßigte den Schritt, je mehr seine drei Buben schwitzend, lachend und lebfrisch die zähen Öchslein jagten, je mehr das Hundegebelfer seitwärts sich verlor und der milde, leuchtend bunte Abend auf ihn einwirkte.

Es ist schwer zu beschreiben, wie Vater Stralz das Bild der Landschaft empfing. Und es ist vielleicht noch schwieriger, die Landschaft selbst mit Worten darzustellen, weil sie unendlich einfach ist. Sie besitzt, vom großen frei stehenden Grimming abgesehen, leicht ihresgleichen an Wald und Weide, an Bach und Berg. Und der Stralz hatte Gegenden durchreist, wo die Natur sinnfälliger ist und die Beschauer scharenweise anlockt und überwältigt.

Aber hier wurde sein Auge nicht gedrängt. Er sah nur die kleinen Dörfer und Gehöfte an die karge Erde gebettet, die weiten Moore mit grell blitzenden Wassertümpfen und verstreut zwischen Holzbeständen die steilen Felder, wo schon das satte Grün des Winterkorns aufschlug, und tiefer liegend die Futterwiesen. Er sah überall das warmgetönte, zitternde Laub, darin der Schneewind anhub zu knistern und das für die Bauern die letzte Ernte ist. Sah unwissentlich auch den zarten, abendmilden Schein, der vom Himmel kam und aus der Tiefe wieder gen Himmel auftauchte, viele hinschmelzende Farben ohne Grenze und Namen als ein Einziges vergossen.

Er hörte die Glocken, wann eine Herde heimging; denn so spät war es. Und noch immer rastete er auf dem Höhenrücken des Mitterberges, schauend und bis in sein Innerstes schweigsam geworden.

Und es ist wohl Bedingnis, daß der Mensch sich still gehabe, um eine stille, einfache Landschaft zu betrachten; oder daß er in ihr daheim sei. Beim Vater Stralzen traf beides zu; darum ist seine Liebe so groß gewesen.

Das Grimmingtor

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