Читать книгу Das Grimmingtor - Paula Grogger - Страница 9
WIE ABT GOTTHARD NACH GSTATT KAM
ОглавлениеNoch im selben Jahre ergab sich Gelegenheit zur Ausführung eines bestimmten Entschlusses, den der Herr Vater betreffs seines Ältesten gefaßt hatte, als dieser beim Brennerhäusel seine Ehrerbietung und geschwisterliche Schuldigkeit offenbar verletzt. Nämlich der Hochwürdige Gotthardus, Prälat von Admont, fuhr in die Propstei Gstatt, um die jährliche Revision abzuhalten, und etliche Pfarrinsassen ritten ihm entgegen bis zum Moarbühel an der Salza, wo die Poststraße nach Öblarn abzweigt. So sind namhaft: der alt Berghammer, Dorfrichter daselbst; Joseph Salzinger, Bäck im Tore; Andreas Stralz; der Propsteipfleger Gabriel Scharf; der Bergverweser; der Bader Gasteiger; der Kurschmied Zedler; ferner der Bauer im Strasserberg und die vier Kirchenpröpste. Alldenselbigen stund durch ihr Amt oder erbgesessenes Eigentum das Vorrecht zu, in der Pfarrei und Schule einiges mitzureden; sie hatten die zwölf Plätze im Oratorium inne und rechneten es sich zur Ehre, bei feierlichem Anlaß in Person gegenwärtig zu sein. Für den Empfang des obbenannten Stiftsherrn bestens ausstaffiert, warteten sie, jeder den Gast achtend, indem er sich selbst achtete. Weiß nicht, was blanker glänzte …, die Silberknöpf auf Rock und Weste oder der Messingbeschlag auf dem grünledernen Sattelzeug. Dem Zedler hatte seine Ehewirtin die Seidenmasche am Hemdkragen dreimal knüpfen müssen. Und noch deuchte sie ihm nicht schön genug; die blauen Wadenstrümpfe waren seine Hochzeitsstrümpfe, und er trug das wohlerhaltene Gamskranzel aufgesteckt, das er als Untergöd einstmalen gekauft hatte. Denn der Zedler hielt auf Reputation!
Die Mannsleute redeten nicht viel; höchstens ein Maul voll von Wind und Wetter, was ihresdanks so bleiben werde bis Allergottesheiligen. Dann rollte die schwere Kalesche mit dem Prälaten daher. Und sie rückten voll Ehrfurcht den Hut. Der Pfleger sprang ab, gab sein lediges Tier dem Torbäcken als Handpferd und setzte sich neben den Abt. Es war ein erfreulicher Anblick, wie die elf Bauern, solang der Weg es gestattete, zu beidseiten des Wagens reitend, ihm das Geleite gaben. Die armen Keuschler von Nieder-Gstatt liefen neugierig zu Tor und Fenster und versäumten nicht, sich dabei den geistlichen Segen zu erbitten.
In Gstatt trafen sie den Schulmeister Raimund Winkler, der in seinem kaffeebraunen städtischen Frack sehr beklemmt und ernsthaft ausschaute. Er war jedoch keineswegs eine spaßige Figur mit dem üblichen Schneuztuchzipf, sondern ein guter, etwas eckiger Mann, welcher das Seinige gelernt hatte; und wenn er damit bei den Öblingern manchmal anstieß, so war er allein nicht schuld, denn es ging ihm geradeso wie dem Bader Gasteiger, der, aus dem Oberösterreichischen zugewandert, sich wohlweislich seiner Lebensbeschreibung enthielt, inmaßen er ein leibhaftiger Doctor medicinae war. Hätte er dieses einmal verlautbart, so hätte er von Stund an verhungern können.
Die Reiter also banden ihre Rosse an die Planke und hörten dem Schullehrer zu, wie er des langen und breiten sein Anliegen erörterte und hie und da zur Unterstützung des Gedächtnisses ein Konzept aus der Tasche zog, dieweilen Abt Gotthardus mit dem Pfleger die Stufen zum Schlosse hinaufging, von Laienbrüdern, Dienstboten und Tagwerkern schier kindlich begrüßt; alsdann einen kurzen Imbiß nahm und sich für die Audienz vorbereitete. Der Pfarrer Isidor Hinterseer, welcher einen dringlichen Versehgang gehabt, kam gerade im letzten Augenblick, bevor die kunstvoll geschnitzte und mit Kupfergriffen verzierte Flügeltür sich in ihren Angeln drehte. Im hallenden Vorzimmer, dem die braun gebeizte Eichentäfelung bis zum Ansatz des Gewölbes einen wärmeren Ton gab, erschien Pater Gabriel Scharf, einigermaßen aufgeregt und seiner Verantwortlichkeit in Gegenwart des Prälaten noch mehr bewußt, räusperte sich und bedeutete den Öblingern, sammentlich einzutreten.
Da sie voreinander nichts zu verbergen hatten, trugen sie ihre Sache gemeinsam aus, und der Amtmann Joseph Salzinger entledigte sich vorerst in langsamer und etwas abgehackter Art der schuldigen Danksagung für die Orgel sowie den schönen, reich vergoldeten Kelch aus der Hauskapelle von Gstatt, dabei nochmals die gnädige Fürsorg hervorhebend, welche das Stift ihnen bewiesen, als es Anno Domini 1784 ihre Pfarre durch einen eigenen Seelenhirten habe selbständig gemacht.
Der Prälat hörte in aufrechter Haltung, aber müder Gebärde zu, weil er der Jüngste nicht mehr war. Und weil er überdies als guter Menschenkenner gar wohl wußte, daß der biedere Magister und eigentliche Urheber den längst verjährten Passus nur angehängt hatte, um der Rede des Bäcken einen schwungvollen Abschluß zu geben. Auf dem ovalen Tisch aus Ebenholz lag das goldene Ordenskreuz der Benediktiner sowie ein dickes Betbuch, zufällig aufgeschlagen, und zeigte links in einem fein gearbeiteten Stich den König David, wie er, vor der Bundeslade kniend, die Harfe zupft; auf der rechten Seite war in rotem lateinischem Druck zu lesen: Horae Diurnae Breviarii monastici. Daselbst ließ er den Blick ein wenig rasten, legte nachher an irgendeiner Buchstelle, welche nicht verblättert sein durfte, das Merkzeichen ein und pflog gemäß seiner Angewöhnung und Höflichkeit mit dem und jenem eine kurze Unterhaltung, die so übel nicht ausfiel, zumal die Bauern hinsichtlich des weitläufigen admontischen Besitzes oft besser Bescheid wußten wie der Pfleger; füglich dessen Gotthard einem einzelnen Mann auch keine unbillige oder maßlose Zumutung stellte.
Als die Reihe den Schulmeister traf, wurde die Geschichte heikel, weil ein paar Öblinger, kaum daß er den Mund aufmachte und sein Anliegen in gesetzter Form ausbreiten wollt, schon baß zu murren begannen und Se. Exzellenz, der Prälat, ihm lächelnd erklärte, er sei durch Pfleger und Pfarrer hinlänglich und genau unterrichtet, und es hätten ihn außerdem der Wachter und der Totengräber mittels eines Gesuches um ebensolche Guttat und christliche Beihülf angegangen.
Raimund Winkler, der während seines mehrjährigen Aufenthaltes im Dorfe ein Schwarzseher geworden war, faßte den Widerspruch der Bauern wie auch der Obrigkeit als puren Haß auf. Doch er hätte bedenken müssen, daß Menschen, die alsogleich grob werden, selten hassen können, weil sie ja das entstehende Gift mit großer Deutlichkeit und Kraft von sich geben. Er hätte ferner auch bedenken müssen, daß aus dem geistlichen Patron viel eher leise Ungeduld denn Feindschaft gesprochen hatte, indem der Abt, ein kluger und für seine Zeit auch weitschauender Mann, nur den kleinlichen Geschäften abhold war, weil er durch Herkunft und Beruf davon verschont geblieben. Andererseits darf die Verbitterung des Schullehrers nicht unberechtigt genannt werden, weil sein Stand damals in abhängigstem Verhältnis und wirklich der persönlichen Willkür eines Schutzherrn sowie der Ortsbewohner schmählich ausgesetzt war.
Raimund Winkler enthielt sich nunmehr jedes Wortes. Sein glattrasiertes Gesicht bekam einen scharfen, spitzigen Zug. Er blickte hartnäckig zum vergitterten Fenster hinaus in den herbstlichen Schloßgarten, wo die gelben Pappelblätter, kleinen Fallschirmen vergleichbar, kreisend niederfielen. Manchmal verirrte sich eines bis zu den Gatterstäben oder bis zu den Füßen des Prälaten. Dieser hatte ein Notiztäfelchen aus weißem Bein zur Hand genommen, wo er in lateinischer Schrift einiges aufmerkte. Der Pfleger und der Pfarrer, denen die Stille peinlich war, schritten lautlos, aber nichtsdestoweniger geschäftig daran, die Amtspapiere für die Durchsicht bereitzulegen, und als sie dabei unversehens einen Türflügel offen ließen, fuhr eine heftige Zugluft über den Tisch, welche das Brevier verblätterte und das Merkzeichen mit dem gestickten Dornenkranz auf die eingelegte Diele warf.
Weder der Berghammer noch der Torbäck, der Stralz oder sonst einer rührte sich. Sie waren allesamt nicht dazu angelernt worden, etwas vom Boden aufzuheben.
Dann geschah das Merkwürdige sehr schnell und sehr unauffällig. Der Prälat und der Schulmeister sahen sich mit einem Blick gemessen an; Spott in dem geistlichen, Trutz in dem weltlichen Antlitz. Dann hatte sich jeder in der Gewalt, und jeder bückte sich. Über der zart gestickten Dornenkrone hatten sich ihre Hände kurz und absichtslos berührt, vielleicht war dieses Ursach ihrer Versöhnung. Denn der Abt sagte hierauf, seine Worte fein betonend, mit einem Hinweis auf das Merkzeichen:
»Ich danke Ihm, das Bücken kömmt uns beiden zu!«
»Sakra!« meinte der Sebastian Zedler und stupfte seinen Schwäher mit dem Ellbogen. Aber der Stralz schaute gleichmütig aus seinem linken Auge und tat, als habe er nichts gehört.
Nach diesem Zwischenfall netzte Gotthardus seinen Zeigefinger, so mit einem einfachen, jedoch sehr wertvollen Ring geschmückt war, und löschte die lateinischen Worte auf dem Notiztäfelchen aus.
Ob und wie lange der Magister beweibt sei, frug er mit jener gewissen weltentrückten Befangenheit vor allem Familiären, welche den internen Geistlichen von einem Pfarrer so scharf unterscheidet. Der Lehrer gab an, daß er im dreizehnten Jahre seines Ehestandes, nunmehr aber verwitwet sei und für fünf Köpfe zu sorgen habe, das älteste Töchterl, die Regina nämlich, nicht mitgezählt, da diese bereits beim Stralzen in leichtem Dienste stünd.
Warum er das Kind von sich ließe, erkundigte sich Gotthard, es gebe ja wohl der eigene Haushalt zu tun im Überfluß. »Das schon«, sagte Raimund Winkler nachdrücklich, doch er habe sich dafür sein zweites Töchterl, die Ursula, abgerichtet, zumal sie auch schon neun Jahre alt werde und die Regina, an die gute schmalzige Kost gewohnt, nicht mehr heimwölle.
Solches wär ganz richtig, sprach der Bäck im Tore, und der Bader Gasteiger, welcher in seiner Raschheit nichts erwarten konnte, machte mit allem schuldigen Respekt dem Abte klar, daß der erbetene Zuschuß an Grund und Vieh für den guten Magister höchst notwendig sei.
Er habe nichts dagegen, erwiderte Gotthardus. Aber die vier Kirchenpröpste, so von ihren zu fernst auf dem Berg gelegenen Höfen jederzeit das Neue spinnefeind ansahen, taten den Einwurf, daß der Winkler ohnedem genug geschenkt bekäme, und der alte Berghammer, welcher törrisch war, glaubte, es ginge gar von einem neuen Schulbau die Red, schüttelte aus diesem Grunde eigensinnig den Kopf und stieß einen Brummler nach dem andern aus.
Wegen was sie alsdann das viele sündteure Schulgeld blechen müßten, frug der Bauer im Strasserberg, wo sie doch aus purer Gutwilligkeit dem Schulmeister was zu verdienen gäben; denn die gedruckten Bücheln und die spitzfindige Gelahrsamkeit brächten oft Schaden an Leib und Seele, und mancher hätte sich mit solchem Zeug den hölledigen Teufel auf den Buckel geladen.
Pater Isidor und der Pfleger, welche soeben mit einem Stoß Schriften ins Zimmer traten, fanden, daß der Diskurs sich hitzig anließ, und es nahm sie gar nicht wunder, daß der Prälat aus seiner nachdenklichen Miene plötzlich auffuhr und mit Gereiztheit frug, ob denn in Gottes Namen keine Belege vorhanden seien über das tatsächliche Einkommen des Magisters.
»O gewiß«, sagte der Pfarrer gelassen. Er war ein herzensguter Mensch, dem niemand böse sein konnte und der in seiner abgeklärten Stille von keinem nennenswerten Kummer bedrückt war, jedem das Seinige gönnte und sich selbst auch. So hatte er denn zufolge seiner besonderen Eigenschaft, alle Geschäfte mit wenig Aufwand abzumachen und zu vereinfachen, soweit es anging, die Dokumente des Pfarrarchives mitgeschleppt und damit den Lauf der Handlung wesentlich gefördert. Er suchte, ordnete, hielt jedes Blatt weit von sich, laut die Überschriften lesend, und zog endlich unter dem Faszikel Schulsachen die Abschrift eines Steuerbekenntnisses hervor. Nach dieser von Raimund Winkler selbst aufgestellten Fassion betrug das Einkommen jährlich 157 Gulden 16 Kreuzer österreichischer Konventionsmünze, wovon 15 Gulden 16 Kreuzer als Grundertrag festgesetzt waren, die Naturalien beliefen sich im Geldwert auf 35 Gulden 70 Kreuzer. Das Schulgeld für etwa 90 Kinder, denn so wenig waren ihrer nur mehr durch den großen Abzug der Knappenfamilien, machte 106 Gulden 20 Kreuzer aus, wenn ihm, was gar selten der Fall war, 1 Gulden 18 Kreuzer für jedes Kind pünktlich ausbezahlt wurden.
Abt Gotthardus legte das Blatt nach zweimaliger Überprüfung auf den Tisch. Und Pater Isidor nahm es fort, fragend, ob man nunmehr die Sache als erledigt betrachten und mit der herrschaftlichen Zusage rechnen dürfe, zumal er nicht ohne Interesse daran beteiligt sei. Der Prälat schaute sehr verwundert auf. Konnte aber nicht umhin, bei seiner Bejahung zu lächeln, indem er, wie gesagt, ein Menschenkenner war und füglich erriet, daß Pater Isidor in Anbetracht seiner zunehmenden Tonsur sich ein bescheidenes irdisches Profitchen herausgenommen habe. Nur welches … das wußte er zur Stunde noch nicht. Er richtete sein Wort itzt an die erbgesessenen Öblinger und frug, welche von ihnen beim Magister als Grenznachbarn anrainten und dahero gewillt wären, demselbigen einige Klafter Land gegen rechtlichen Umtausch mit dem Stifte abzutreten.
Da rührte sich abermals keiner. Sie hingen so zäh an Grund und Boden und steiften sich, als werde ihnen die Haut abgezogen. Endlich suchte Sebastian Zedler fürsichtig herauszubringen, was etwa dabei zu verhoffen wäre.
Gotthard schaute den Pfleger an, und dieser antwortete zögernd: ein Stück vom Dienerfelde, sofern der Stralz als Pächter desselben nichts dagegen habe.
Der Stralz sagte weder ja noch nein. Und der Gasteiger sagte, wann seine Alte einverstanden sei, alsdann ließe er aufs Jahr mit sich reden. Weiter nichts.
Die gewichtigen Kirchenpröpste wurden dafür um so gesprächiger. Sie behandelten den strittigen Punkt mit vieler Umständlichkeit, immer auf das gleiche hinzielend, daß sie nämlich, falls es auf sie ankäme, sicher keine Wiese verschenken wollten, denn ihnen habe auch niemand keine geschenkt.
Raimund Winkler gab ihnen bittere Blicke. Von der gesunden Selbstsucht dieser Bauernnaturen tief verletzt, nahm er die Sache viel ernster, als sie eigentlich war. Er hätte ihnen irgendein grobes Wort breitlachend ins Gesicht sagen sollen. Allein das konnte er nicht. Nein, ganz im Gegenteil, es nahm sein Wesen wieder den strengen, abgekehrten Zug an. Er krümmte die Finger zitternd unter dem langen verschlissenen Tuchärmel und bat den Prälaten, alsogleich den Vertrag aufsetzen zu dürfen, in selbigem er für die Genehmigung seiner Wünsche und Bedürfnisse auch zu entsprechender Gegenleistung sich verbinde, welche, so hoffe er, den Zorn seiner Widersacher einigermaßen besänftige.
Ja, der Magister redete sich tiefer und inbrünstiger in seinen gewiß berechtigten Groll und schrumpfte nach Art empfindsamer Menschen in sich zusammen, weil andere ihn verdemütigt hatten. Sein Schriftstück fiel auch ganz in diesem Sinne aus. Während er nun in dem schweren, ehrwürdigen Stuhle des Abtes saß, indem sonst nur Bänke an der Wand herumstanden, und während die weiße Gänsefeder in widerspenstigen Schnörkeln über den Bogen floß, frug Gotthard die übrigen, ob sie vielleicht Anbot, Bitte oder Beschwerde fürzubringen hätten.
»Hm?« frug der Berghammer zurück.
Der Kurschmied Zedler explizierte ihm die Geschicht, worauf er bedächtig seine Zufriedenheit äußerte und die Versicherung beifügte, daß er mit Verlaub der geistlichen Obrigkeit auch weiterhin betläuten wölle, maßen sein Schlaf itzt rar werde und sein Gehör, das leider schon schwach und unverläßlich, gerade den Glockenruf wohltätig empfände.
Der Prälat kannte den Dorfrichter seit einer Reihe von Jahren, ohne jemals eine Veränderung an ihm wahrgenommen zu haben. Das schüttere braune Haar, von nicht allzuviel weißen Fäden durchzogen, die stoppeligen, immer frischroten Wängelein, die Augen lebendig und hell, nahezu ein bißchen argwöhnisch, wie man’s bei Schwerhörigen öfter trifft, und seine Rüstigkeit ließen den Mann als Sechziger gelten. Aber Gotthard, der langjährigen Bekanntschaft ingedenk, sagte, ihn beim Rockknopf fassend und seine Stimme dem Ohre nähernd: schätzungsweise müßte der Berghammer schon ein hoher Siebziger sein.
»Stark, stark!« entgegnete der Greis nickend. Just am Großen Frauentag hätt er das sechsundachtzigste Lebensjahr hinter sich gebracht.
Das wäre ganz richtig, sagte der Bäck im Tore.
Und der Bader Gasteiger meinte zuversichtlich, daß Lunge, Herz und Leber auch das hundertste übertauchten. Aber, weil es ihm soeben durch den Kopf führe, warf er plötzlich hin … mit dem bedauernden Beisatz, daß seine Rede sich zwar schlecht zu dem erquicklichen Thema reime … Aber, er wisse auch ein altes Bäuerl, Hochsattler benannt und in der Sölk wohnhaft, so geberg, daß es mit der Haue das Feld umbrachen und mit Steigeisen zur Mahd gehen müsse. Das besagte Bäuerl habe ihm des mehrern schon zu verstehen gegeben, daß die Hirsch und Rehe viel Getreid wegfräßen, sowann es auf dem Gumpeneck einen Augustschnee hat.
Das machte der Bader dem Abte zu wissen, mit offener Bitte, daß die Herrschaft Gstatt den Wildschaden zahle, wenn man auch nicht genau eruieren könne, wessen die Hirsch und Reh gewesen. Und gemäß seiner Ehrlichkeit, sagte er zuletzt noch, daß er hiemit beim Hochsattler einer Dankesschuld sich entledigen möchte, weil derselbe alljährlich im Spätsommer den Hollerschnaps und den Kranewittern, so zu Medikamenten unerläßlich, ohne jedes Entgelt für ihn brenne und schon etliche Körblein voll Speik, Hauswurz und echten Enzian gepflückt und gedörrt hab.
Der Abt nahm wieder sein beinernes Notiztäfelchen und verzeichnete diesen Punkt, dabei versprechend, daß er binnen weniger Tage seinem Pfleger ausreichende Vollmacht geben werde. Alsdann verstummte das Gespräch. Man hörte das Laub, wie es flatterte, und die Feder, wie selbige hart, achtsam oder unsicher über das Papier gelenkt wurde. Es richtete sich die Aufmerksamkeit der Bauern nun größtenteils auf den schreibenden Magister, und manch einer, der des Lesens unkundig, schaute ihm bedächtig über die Achsel zu. Und es schien, als habe ein jeder das Seinige ausgesprochen und abgetan, und sie warteten mit großer Geduld und Beschaulichkeit, bis Raimund Winkler fertig sei und Gotthardus sie insgesamt verabschieden würde. In dieser hölzernen starren Gepflogenheit waren sie bewunderungswürdig. Ob es nun Arbeit, Handel, Genuß oder Gebet, ja selbst Leiden oder letztes Ende war, sie hatten für dies alles Zeit und Weile. Keine Ader zuckte schneller; kein Nerv verwirrte sich. Doch eben in ihrer Ruhe lag die Kraft und Zähigkeit. Und sie lebten so sicher, weil sie so langsam lebten.
Solche wie den Stralzen gab es freilich sehr wenige. Er war ein zum vollen Bewußtsein erwachter Mensch, welcher von seinem Gemüte das Weiche ausschied und von seinen Pflichten nur das Gesunde und Zweckmäßige tat. Ein hoher Baum, auf freier Weide wachsend, der von Winden und Wettern nur so viel nimmt, als er bedarf, der Regen und Sonne mit hunderttausend feinen Organen dürstend und andächtig, doch ohne zu danken, empfängt, der die Himmelsvögel und die häßlichen Raupen bewirtet und die vielfältigen kleinen Gräser mit seiner Krone überschattet, daß sie nicht leben und nicht sterben können.
Und was der Stralz zum Prälaten sagte, geschah aus ebendemselben Gesetz, durch das ein Baum, wenn es an der Zeit ist, seine runden, roten Äpfelchen abfallen läßt, damit sie ihrem Zweck und dem Zweck der Natur Genüge tun. Nur daß der Stralz sich dessen, wie erwähnt, vollkommen bewußt war.
Sein ältester Bub, so fing er zu reden an, wär itzt im fünfzehnten Jahr und verhalte sich der elterlichen Zucht gegenüber leider schon widerstrebend und despektierlich. Mit gesunden geraden Gliedern, einigem Mutterwitz und Verstand ausgestattet, mißbrauchte er aber solche Eigenschaften lediglich zu Spitzbübereien, so daß er von Stund an zu ernsthafter Arbeit müsse verhalten werden.
Der Magister, so gerade aufstund, sich räusperte und seine Schrift dem Berghammer zur Unterzeichnung hinreichte, trat, von der klugen Äußerung des Stralzen erbaut, dem Zedler auf die Füße. Und entschuldigte sich höflichst. Der Kurschmied hatte weder das eine noch das andere bemerkt, sondern behauptete, mit dem ganzen Gesicht strahlend, daß sein Gödelkind, der Lukas, ein Prachtkerl wär.
Da konnte Raimund Winkler nicht umhin, laut aufzuseufzen. Es brauchten alle drei Stralzenbuben tüchtig ihren Herrn, sagte er. Und von diesem speziellen Exempel und Casus abgesehen, rate er jedem Schüler, sobald er sein zwölftes Jahr erreicht, sich einer höheren Fortbildung zu unterziehen.
Dies … pflichtete Vater Stralz mit Aufmerksamkeit bei … wäre seine Absicht und Beschließung. Die Wissenschaft über die Zustände des Lebens und der Natur sowie der Fertigkeit des Rechnens, Briefschreibens und Lesens stünde auch einem Bürger wohl an. Sollte aber sein Matthäus Fleiß und Findigkeit bekunden, alsdann wären ihm Vater und Mutter nie und nimmer hinderlich, geradewegs ein Studierter zu werden. Und er frage derohalben den hochwürdigen Prälaten, ob er gesonnen sei, das Kind in das Konvikt der Benediktinerabtei aufzunehmen.
Das Stiftsgymnasium habe bekanntlich ein Dekret Josephs des Zweiten abgetan, sagte Gotthard. Ob er das nicht wisse? Freilich wohl, entgegnete der Stralz. Indem solches aber an zwanzig Jahre her sei, habe der Hochwürdige Herr Prälat sicher wiederum eine bessere Schule instand gesetzt, schon zum Zwecke, daß die Sängerknaben lehrreich abgerichtet würden.
Der Abt sann eine Weile. Plötzlich aber schüttelte er den Kopf, als wenn er üble Gedanken fortwiese, und sprach zögernd.
Wäre der Stralz seinem Sohne ein regelrechtes Studium willig, so müsse er denselbigen nach Leoben bringen, allwo die gelehrtesten Patres von Admont die klassischen Sprachen sowie geistliche und weltliche Wissenschaft vortrügen.
Der Herr Vater gab keine Antwort.
Er wölle gelegentlich einer Reise nach Grätz, die sehr nahe befürstünde, in Leoben absteigen und mit dem Präfekten einer Rücksprache pflegen, schlug Gotthard vor.
Vater Stralz jedoch betonte itzt, daß er zu Admont einen leiblichen Bruder habe, in Leoben herentgegen nicht Freund noch Anverwandten, und daß er zu so gefährlicher Zeit den halbwüchsigen Buben nur ungern aus aller familiären Obhut ließe, maßen man die verheerenden Einbrüche der Franzosen stets zu gewärtigen habe und mithin ein Kind gar mancher Mißhandlung und Gewalttat wie auch dem bösen Beispiel schutzlos preisgebe.
Das Gymnasium befände sich aber im Dominikanerkloster, bemerkte Pater Isidor hinzutretend. Und der Prälat fügte nach abermaliger Überlegung bei, daß sich vorderhand auch keine Aussicht öffne, selbige Schule dem Stifte wieder einzuverleiben. Ein Majestätsgesuch, diesen Wunsch betreffend, wäre sogar nach dem Tode Josephs des Zweiten abschlägig beschieden worden.
Der Herr Vater gab keine Antwort.
Und Gotthardus sinnierte. Zunächst nicht über den Knaben oder den Vater Andreas Stralz, sondern über die Pflicht, welche ihn dringlich nach Grätz beordnete. Gleichsam als bleierner Alp lastete auf ihm das Gefühl der Verantwortung. Und er wußte genau, wie er, Schuld auf Schuld häufend, das Vermögen der Abtei verwirtschaftete, und wie in den Tagen stumpfer Gärung und allgemeinen Zerfalles seine Fähigkeiten förmlich schlaff wurden … Die südsteirischen Weingärten, die Wälder an Enns und Mur waren verpfändet, teilweise sogar verkauft, Hämmer und Herrschaften hintangegeben. Und schwere Summen an Geld und Geldeswert in vaterländischen Diensten verbraucht: nenne nur die Tatsach, daß man 1600 französischen Häftlingen zu Strechau und Röthelstein Kost wie Quartier angewiesen hatte, ferner ein Darlehen von 10 000 Gulden verlangte und bei der Repunzierung des Silbers 2500 fl. einzog, nicht zu vergessen der Brandschäden und Kontributionen, welche oft schonungslos auf Rechnung der Abtei gingen. Krankheit und Hunger untergruben die Ordnung bei Konventual wie Laien. Das Vieh reckte in Seuchen dahin, und die in Abhängigkeit vom Stifte lebenden Pfründner jammerten ihn durch ihre Armut. Gotthard war nicht der umsichtige Mann, aller dieser Obliegenheiten, Sorgen und Mängel Herr zu werden. Mit lebhaftem Temperamente und feinen Nerven begabt, so sich entweder verschwenden oder zum Zweck der Selbstschonung krankhaft verschließen, hätte er dem Studium, der Kunst oder Beschaulichkeit trefflich dienen können. Vielleicht, so sagte er sich in Gedanken, vielleicht hatte sein Weg in die Irre geführt … hatte Gott sich ihm verweigert …
Wo war die Zeit … als er, kaum dem Jünglingsalter entreift, zu San Callisto in Rom predigte und im Disput mit sechs Kardinälen das Kirchenrecht verfocht. Da hatte Pius der Sechste nach der Priestersalbung Gotthardus mit geistlichem Machtspruch halten wollen. Und ihm die Wahl geheißen zwischen den Lehrstühlen von Neapel und Florenz. Und mehr denn einen gab’s unter Klerikern wie Höflingen, der, sich bückend, Inful und Krummstab prophezeite … oder gar die römische Tiara.
Er aber ist in der Kutte Sancti Benedicti heimzu nach Admont gepilgert, mit groß entzückter Selbstentäußerung, welche seines Glaubens heiligte und den Menschen in ihm völlig ertöten sollt.
Ach, itzt nach dreißig Jahren wußte er’s: das war erst der Anfang gewesen. Gott hatte ihm gezeigt, daß jene, welche die Ehre und Eitelkeit verachten und fliehen, im Kreise zu ihr zurückgetrieben werden, damit sie, was schwer ist, unter vielen einsam blieben und durch Auszeichnung gedemütigt und durch ihre Kräfte versucht seien. Gott zeigte ihm, der sich einstmalen in der Stille seines Herzens gebrüstet, er wölle nicht Papst, sondern ein armer Mönch sein, Gott zeigte ihm, daß er unfähig war auch der Würde eines Abtes und aller geschäftlichen Observanz und Verwaltung, welche die bischöfliche Herrschaft zu Sekkau alias Grätz mit Recht verlangte.
Er seufzte.
Item, es stand als Endziel seiner Reise also die präzise Klarlegung der Verhältnisse bevor, und er ging diesem Augenblick mit Sorge entgegen. Gotthard schaute auf einmal dem Stralzen fest ins Gesicht und sprach unvermittelt: es sei die Kost in Admont schlecht, und das Kind müsse dort verhältnismäßig Hunger leiden. Das Gymnasium empfehle er. Und falls durch die Post, die Stiftspropstei oder den Pater Isidor bis zum Martinitag keine Absage käme, und falls es beliebe, so möge der Stralz mit seinem Sohne nach Leoben fahren.
Dieses Wort gab den Ausschlag, und sie besiegelten es mit einem Händedruck.
Aus dem Stuhle des Abtes stand eben der Bäck auf, welcher den Vertrag notdürftig gelesen und als zweiter unterschrieben hatte. Gotthardus stellte sich mit dem Blatt ans offene Fenster. Es wurde still; ein Beweis, daß die Öblinger den Stiftsherrn ehrten und sich zugleich auch für das Anhören der Urkunde bereit machten.
Die Sonne streifte eben noch am letzten Eisenstab fürbei. Große wunderlich gefärbte Wolken bewegten sich über die Tauernkette sanft dahin. Und die drei Mönche, die elf Bauern und der Schulmeister sahen, jeder das Seinige denkend, hinaus in die verklärte Fruchtbarkeit und Glorie des Herbstes, unsäglich reich; so daß dieser seines Besitzes stolz wurde, daß jener sich freute und ein dritter gelobte, ein weniges davon den Armen zu geben. Und Gotthardus, der Feinste, Klügste und Empfindsamste von ihnen, konnte plötzlich nicht begreifen, warum nur der Magister Raimund Winkler sein Anrecht auf die heilige Schöpfung mit Tinte, Feder und Petschierwachs mußte verbriefen.
Die Urkund lautete:
»Ich verpflichte und verbinde mich samt meinen Nachfolgern, das ich entweders in eigener Persohn oder durch andere Täglich zu Abendszeit um gebetleiten den Rosenkranz Betten will, weil mir zu den hauß ein Keller wird graben, ein Tachzimmer verfertigt, ein Schwein und Gaißsteilerl wie auch ein Holzofen wird aufzimert und über das ein Gartel ist zugetheilt worden. Mit diesen Beisaze das ich oder meine nachfolger an allen diesen Beraubet und verlustiget sein will, wen obgedachte Andacht unterlassen wird.
Dieses bezeige ich mit meinen Namen und Unterschrift, mit zweyen gegenwertigen und unterschriebenen Zeigen. Gefertigt in Öblarn den 30. Oktober 1806. Zeigen: Berghamer, Dorfrichter.
Joseph Salzinger | Raimund Winkler |
Ambt Man. | schullehrer und Mesner.« |
Die Lesung dessen bildete den Abschluß der geistlichen Audienz. Und die Öblinger empfahlen sich befriedigt. Der Abt ruhte im großen Stuhle aus, den Reitern nachblickend, die ihre Pferde losbanden, aufsaßen und alsbald über die Ennsbrücke dem Dorfe zusprengten. Dann sah er auch Raimund Winkler, zur Linken des Pfarrers schreitend; dieser schnupfte behaglich, blieb zuweilen im Gespräche stehn, während der Schulmeister mit gesenktem Kopf, das Spazierstöckchen hinter dem Rücken haltend, beharrlich seines Weges ging, aber doch so langsam und rücksichtsvoll, daß ihn der alte Herr mit ein paar Schritten immer wieder erreichte.
Die langen Schatten, welche die Pappelbäume über die Streuwiesen und die Straße hingebreitet hatten, auch das Glitzern der Fenster und der Waldwipfel verblaßte mählich. Scharf und schneidend fegte der Wind. Und die Erde zu Füßen war wie ein kaltes, staubiges Pflaster. Es ging schon deutlich dem Winter zu. Die Blumengeschirre hatte man sorglich ins Haus geräumt. Die Gärten waren vom Reif gesengt und nahezu abgeerntet. Nur hie und da glomm noch ein Strauch voll Hagebutten. Aber nicht lang, so pflückte vielleicht ein Weiblein oder ein Kind sich fleißig die Schürze voll und putzte auf dem Gottesacker damit ein Grab.
Beim Stralzen war die Regina dazu angestellt. Und die drei Buben halfen ihr, solang es sie freute. Sie stiegen mit ihren groben Schuhen auf dem Hügel der seligen Großeltern Johann Stralz und Maria Stralzin wacker umher, lockerten mit einer Haue die von Gras und Sinngrün verfilzte Erde, ebneten Krumen und Krümchen und streuten zuletzt einen Eimer voll Ruß darüber. Wie eine kostbare Decke aus schwarzem Sammet war es anzusehen, unheimlich und traurig. Auch gingen die meisten Leute schon aus dem Freithof fort. Die verschnörkelten Kreuze mit den breiten Kupferdächern und den wiegenden Weihbrunnkesseln glichen drohenden Geistern, welche lauernd … lauernd sich fürneigen und jählings auf ein strafwürdiges Menschlein stürzen, es umhalsen und zerfetzen. Es raschelte das dürre Laub unter den kurzen, zittrigen Windstößen. Manchmal schwang ein Laternchen irgendwo mit wimmerndem Ton. Vor dem Loch zum Totenkeller wehte ein Streif Papier … oder war’s eine arme Seel, die bittend mit der bleichen Hand herausfuhr …?
Den drei Buben gruselte ein kaltes Gefühl den Rücken nieder. Insonders der Kleinste spähte bänglich um sich und sagte auf einmal:
Er wolle heimgehen und das Einmaleins lernen.
Die beiden Brüder lachten ihn aus und schreckten ihn, obschon sie sich auch vor den verwunschenen Geistern nicht sicher fühlten. Da war im fernsten Winkel das Grab von einem unselig und gnadlos verschiedenen Sünder. Der Teufel hatte sein Gebein auf der Jausengrube zerstreut. Pater Isidor jedoch, duldsam und milde wie immer, hatte es aufheben lassen und sonach in der geweihten Erde bestattet.
Ach, die Stralzenkinder wußten nicht, wie der verdammte Kund ihre schöne goldhaarige Frau Mutter geliebet. Wohl aber wußten sie, daß der nämliche alle Buben und Dirnlein gerne in die Zehe zwickte und versuchte, sie in die brennende Hölle hinabzuziehen. Es galt für ein großes wagmutiges Kunststück, neunmal über das grüne Hüglein zu springen, und es geschah nicht selten, daß ein Kind schmerzlich aufschrie und die beinerne Kralle schon zu spüren glaubte.
Die zwei Brüder also schreckten Lukas mit dieser unheimlichen Geschichte; sie wollten ihn zum Winkel locken und sagten mit wilden Gefrießern:
»Traust dich hupfen? Wir traun uns wohl!«
»Bleibets doch da«, bat Regina ein bißchen ängstlich und ein bißchen barsch. »Helfts mir lieber statt dem Geister sekkieren.«
»Ja, Schnecken!« sagte der Älteste.
Und der Jüngste sagte auch so. Sie blieben aber doch bei ihr stehen, betrachteten breitspurig und kommod, wie ihre harten kleinen Finger das Kot aus dem Sinngrün stringelten und Kreuz und Namenszeichen in die Rußdecke gruben. Mit der linken Hand raffte sie noch immer das Fürtuch an sich, und so sprach sie geheimnisvoll zu sich selbsten:
»Wieder eine Perl aus dem roten toten Meer.«
Es war fast dusend. Hinter den Kirchenfenstern schimmerte blutfarben das Ewige Licht. Zwei Eulen schwebten sanft und lautlos zwischen den Kreuzen. Draußen auf der Wiese flog in feinen Bändern der Nachtnebel. Die Kinder horchten. Es mußte noch ein Mensch im Freithof sein; das stumpfe, welke Gras dämpfte seinen Schritt. Lukas drückte den Kopf in die Schultern. Keiner rührte sich. Auf einmal sagte Markus:
»Der Bäckenhansei.«
»Kömmts schauen, was er tut!« sagte Matthäus.
Da hauchte die kleine Stralzendirn einen schweren Seufzer heraus.
»Wieder eine Perl«, sprach sie alsdann, »welche der Sterngucker Kaspar beim roten toten Meer gefunden hat. Und die Geschicht ging noch weiter …«, sprach sie.
»Wie denn?« frug Lukas.
»Da waren einmal drei Könige«, fing sie an, »jeder in seinem Reich, und jedes Reich so groß, daß einer den andern nie heimsuchen konnte. Trotzdem sie also keine Bekanntschaft mitsammen hatten, und trotzdem der erste weiß, der zweite braun und der dritte schwarz gewesen ist, glichen sie sich in ihrem Gebar wie Geschwister. Sie setzten sich jeden Tag zackige Goldkronen auf das Haupt und regierten das Land mit einem silbernen Staberl.«
»Kömmts!« sagte Matthäus gähnend zu den Brüdern. Vielmehr nämlich als auf Reginen lauschte er zum Bäckenhansei hin, der leise betend durch den Freithof zaschte und auf den Gräbern, wo kein Kreuz und kein Zierat war, eine Kerze anbrannte.
»Wart!« sagte Lukas, »die Geschicht geht noch weiter.«
Das Mädchen kniete tiefgebückt, langte Beere um Beere aus dem Fürtuch und sprach:
»O ja, die drei König haben gut gelebt, im Essen und Trinken nit gespart und auch dem Gesind nichts abgehn lassen. Ihr Reichtum hat sich gemehrt. Der weiße Kaspar hat so viel Gold in seiner Schatzkammer gehabt, daß die Tür nimmer zugegangen ist. Der braune Melcher hat so viel Weihrauch gehabt, daß ihn die Diener schon in aller Früh mit Wolken einhüllen mußten wie den lieben Herrgott. Der schwarze Balthauser hat das Kostbarste besessen, was unsereins gar nit zu schmecken kriegt, nämlich Myrrhe.«
»Was ist das eigentlich?« frug Lukas.
»Myrrhe?« sagte Regina und legte den Finger an die Lippen und tat geheimnisvoll. Item, sie wußte es selbsten nicht …»Red mir nit alleweil drunter«, sagte sie endlich. »Die Künig haben beim Tag alsdann fleißig regiert. Auf die Nacht, wenn der Schatten und die Finsternis kömmen ist, und wann die andern Leut sich gefürchtet haben, sind sie unter das Dach hinauf, um die Sternlein und den Mond zu betrachten. Es war ihnen die ganze Himmelsferne bekannt. Von jedem Lichtel wußten sie, woher es kam, wohin es reisete, und ob es bedeuten sollt Hunger, Seuchen und Krieg oder Weizbrot und Wein und pfundige Butterkugeln. Doch einmal erspähten sie zu ihrer Verwundernis einen Fixstern mit einem Kometenschwanz, so groß und so gelb, wie bevor keiner erschienen war. Da haben sie sacht die Köpfe gebeutelt und weislich gefragt, was dies für ein Zeichen wär. Es stund aber in einem alten Buch zu lesen, dies wär das Zeichen, daß unser Heiland geboren ist. Stante pede haben sich die drei Sterngucker auf die Reis’ gemacht, der weiße Kaspar mit einem Kufferl voll Gold, der braune Melcher mit einer Spatel voll Weihrauch und der schwarze Balthauser mit einem Becherl voll Myrrhe.«
»Hienach sind s’ zum Herodes. Kenn mich schon aus«, sagte Markus, drehte sich um und ging.
Auch bei Matthäus fand die schöne Geschichte keinen Anklang. Während Regina sich mit dem Schmücken des Grabes und mit dem Erzählen abmühte, hob er ihre braunen Zöpfe und spickte sie dick mit Hagebutten. Lukas lachte.
»Was lachst denn so?« frug sie über die Achsel.
»Nix!« sagte der Kleine scheinheilig. »Hiernach sind s’ auf Bethlehem. Ich kenn mich schon aus!«
»Oh, nit so schnell!« redete die kleine Dirn entgegen und dichtete den Heiligen Drei Königen eine neue Lüge an, nur damit die Buben sie im Freithof nicht allein ließen. »Itzten«, sagte sie, »tut jeder erst sein altes Buch und eine Kerze in den Jausensack, damit er den Weg wohl findet in der dunklen Nacht. Dann gehen sie langsam … langsam, rasten alle sieben Stund. Beim roten toten Meer kömmens zusammen und mögen nit weiter.«
Es wurde still. Der Wind bog sich an der Kirchenwand nieder und erlosch im Rasen. Die Beeren auf dem Erdreich hatten schon den Glanz verloren. Beim Totenkeller der Schein war grau geworden … flatterte wie eine leere Hand immer näher.
»Bist fertig?« frug Lukas.
»Gleich!« rief Regina und verzettete fibbernd den Rest Hagebutten aus der Schürze. Dabei wiederholte sie völlig in Gedanken:
»Und sie mögen nicht weiter.«
»Du hast gesagt, eine Perl hätten s’ gefunden!« rief Lukas fordernd.
»Ja, eine Perl«, wiederholte sie ratlos und wußte vor Furcht und Eile nicht mehr, was sie hatte erzählen wollen. In dieses bange Schweigen hinein sagte plötzlich hilfreich der Bäckenhansei:
»Nämlich rund um das rote tote Meer wachst gar viel wilder Rosendorn. Und diemals die drei gottfrummen Künig dazukamen, hing eben alles voll Hetschebetschen. Es war wohl Winter nach der aufgesetzten Weltordnung; aber keine Flocken hat sie zugedeckt, kein Lüftel hat sie gepflückt, und keinen hungrigen Vogel hat es so weithin vertragen. Es war eine erstickliche Schwüle über dem nackten Stein und dem abgestandenen Wasser. Den frummen Künigen wurden die Augen müd. Sie breiteten ihre Purpurmäntel unter ein Gesträuch und legten sich zum Schlafe. Da träumten sie wundersamlich alle drei das gleiche. Sie träumten, es hingen über ihnen im Dorn unzählige Flammen, es seufzeten kleine feine Zungen um Barmherzigkeit, und immer deutlicher hörten sie den Namen Jesus. Davon erwachten sie. Es brunn wirklich rings das Rosengestauder aus vielen Lichtern. Die Nacht erhellte sich, und das rote tote Meer wurde ihr Spiegel. Die drei Könige, welche im Himmel und auf Erden schon große Dinge bestaunt hatten, waren allhier vor einem neuen Geheimnis. Jeder mußte um sein altes Buch greifen, jeder studierte darin die halbe Nacht. Endlich ließ der weiße Kaspar seinen Finger auf einem Zeichen ruhen und sprach:
›Arme Seelen flackern auf dem Dornbusch … die im Reichtum verdorrt sind.‹
Als er schwieg, hob der braune Melcher die Hand und sprach: ›Arme Seelen rauchen auf dem Dornbusch … die zuviel der Ehren empfangen haben.‹
Der schwarze Balthauser klopfte an seine Brust und sagte: ›Arme Seelen wimmern auf dem Dornbusch … die in der Liebe verbrunnen sind.‹
Nachdem sie dieses also erkannt hatten, zog jeder seine Kerze aus dem Sack und hielt den Docht an den wilden Rosenstock und nahm eine Flamme, um sie dem Heiland der Welt an die Wiege zu tragen. Sie machten sich alsbald auf den Weg. Sie wateten unerschrocken durch das rote tote Meer, und wenn es so tief war, daß die Wasserflut bis an ihre Lippen quoll, hoben sie die Kerze über sich, damit sie nicht erlosch. Sie brauchten Tag und Nacht, bis sie am andern Ufer stunden. Allein auch hier vergönnten sie sich keine Rast. Sie gingen und gingen durch die weite Landschaft des Herodes, und auch bei ihm selbst verweilten sie nicht; denn der Stern zeigte weiter, und die Flamme in ihrer Hand war schon klein. Als sie aber letztlich im Stalle von Bethlehem Jesum fanden, den sie gesucht hatten, da fielen sie matt in die Knie und legten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe hin. Öchsel und Esel rochen daran. Das Kind jedoch schlief. Maria, seine Mutter, zopfte sich gerade das seidene Haar und frug:
›Heilige Drei Könige, was bringt ihr da?‹
Es wollte jeder das Seine zur Antwort geben. Der Sinn war vom Glanz geblendet, der Mund vom Durst verschmachtet, die Hand vom Tragen schwer. So ließ jeder das Wachs dem Kinde auf die Brust tropfen, und jeder sprach wundersamlich:
›Eine Allerseelenflamme.‹
Da wurde das Kindlein munter und griff darnach. Und Maria, seine Mutter, sang:
›Die drei Seelen, o Jesus mein,
Werden dem Kaspar, dem Melcher und dem Balthauser sein.‹ So, das ischt die Geschichte von den Hetschebetschen, von den Sternguckern und vom Jesuskind …«, sagte der Bäckenhansei.
Die Kinder schauten ihn groß an. Regina legte wiederum den Finger geheimnisvoll an die Lippen und frug:
»Hansei, hast du drum so viele Kerzen angezunden, daß Jesus sie sehen soll?«
»Ja«, sagte der Bäck, »eine hab ich annoch. Geht mit zum Jager seinem Büherl; dort zünd ich sie an.«
»Na, na. Muß der Frau Muatter helfen Weinbeerl klauben!« rief Lukas und verschwand.
Matthäus lachte grölend hinter ihm drein.
Es war indes die frühe Nacht gekommen. Schwarz reckten sich die Kreuze aus dem schwarzen Anger. Die weißen Dahlien und die gelben Ewigkeitsblumen hingen traumig an geknickten Stengeln. Dazwischen leuchtete ein gemalter Heiland. Moospölster lagen über den Weg gestreut. Fein strich der Nebel durch den entlaubten Holunder … Hansei zaschte murmelnd voran. Die zwei Kinder hielten sich an der Hand, sie gingen auf den Zehen und wagten kein lautes Wort, denn sie meinten, er werde mit dem armen Sünder eine unheimliche Zauberei aufführen. Über dem Grab im Winkel häuften sich zerbrochene Tonscherben. Dürres Efeugewind, Dachschindeln und Steine waren hingeschmissen. Der Bäck räumte den Unrat hintan. Dann steckte er eine Kerze ins Erdreich, wo es von einer Schermaus aufgewühlt war, und rieb sein Feuerzeug. Blau stand die Flamme über dem Docht. Kein Luftzug berührte sie. Ferner Vogelflug und der Hauch der Kinder schwang durch die Stille.
»Bst!« sagte Hansei, »die großen Leut werfen Steine her, und die kleinen hüpfen über sein Herz, selthalben kann er nit schlafen.«
»Warum ist er denn verdammt?« frug das Dirndl scheu.
»Bst!« sagte Hansei. »Sei stad und bet ein Vaterunser für ihn. Er hat ein Herz wie der schwarze Balthauser gehabt. Wo viel Liab ischt, da ischt viel Myrrhe.«
»Was ist das?« frug Matthäus.
Der Bäck wußte es selbsten nicht genau. Seine blauen Augen glurten leer und rund in den Schein. Er sagte mit starren Lippen:
»Die Myrrhe ischt ein Tropfen … gelb wie der Wein und bitter wie der Tod. Ihr werdet sie annoch koschten müssen. Dann gedenket an die arme Seel in der Gruben. God sei uns allen gnädig! Amen.«
Matthäus zog das Mädchen aus dem Winkel fort. Es war ihnen beiden kalt und bang geworden. Sie wagten nicht umzuschauen, sie gingen mit eiligen Schritten aus dem dunkeln Freithof und erzählten keinem Menschen, was der Hansei Rares zu ihnen gesagt hatte.
Am Tage vor Martini sprach der Propsteipfleger beim Stralzen vor. Er hatte ein graumeliertes, festes Papier in der Hand, welches der Länge und der Breite nach zweimal gefaltet war und dort, wo die Ränder des Schreibens sich berührten, eine schon erbrochene bischöfliche Sigill und auf der andern Seite folgende Anschrift zeigte:
Grätz.
An die Propstey Herrschaft Stainech
Gstatt.
Im Schreiben selbst gab der Prälat in regelmäßigen, edlen und ein wenig nervösen Zügen seinen Willen solchermaßen kund:
»Lieber Pfleger!
Ich bin dem Wunsche des Pater Isidor gar nicht entgegen, da ich ihn ganz billig finde; und ist demnach von Seite der Herrschaft mit dem Pächter Stralz zu unterhandeln, daß er gegen verhältnismäßigen Abzug an Pachtquantum, das 1/4 Tagwerk vom Dienerfelde, welches hienach zu messen sein wird, abtrete. Dieses wird denn zum unentgeltlichen Genusse ad dies vitae meae nach Pater Isidors Gesuch zu vertheilen sein, bei meinen Nachfolgern wird um Fortsetzung dieser Wohltat anzusuchen sein. Ich will diese Kleinigkeit nicht gerade alieniren, indem es viele Schreiberei kosten würde, als ob darüber die Herrschaft Gstatt zu grunde gehen könnte. Pater Isidor hat sich um meine Pfarre schon viele Verdienste erworben, daß es billig ist, sich derselben durch das bei meinen Nachfolgern zu erneuernde Gesuch zu erinnern. Dies ist demselben als Bescheid auf seine an mich einbegleitete Bitte zu intimiren.
Grätz, den 6. November 1806. Gotthard, Abt.
NB. Dem Bauern vulgo Hochsattler in der Sölk wird eine entsprechende Entschädigung von 15 fl. für den vom Hochwild verursachten Schaden, sowie ein Metzen Korn zu überweisen sein.«
Vom Matthäus Stralz stand kein Wort. Und maßen dies als Zusage anzuerkennen war, packte die Frau Mutter ihm den Koffer. In der Morgenfrühe des Martinitages stiegen Vater und Sohn, zur Reise wohlgerüstet, in den eigenen Wagen, der sie zunächst bis zum Herrn Göden nach Stainach bringen sollte. Von dort aus gedachten sie die Post zu benützen oder auch für eine längere Wegstrecke die Fahrgelegenheit des Matthäus Ennshofer. Denn es war wohl zu erwarten, daß er selber eine derartige Einladung entgegenbringen werde, indem er nämlich längst versöhnt war und zu den Osterfeiertagen allemal einen verläßlichen Boten schickte mit einem Korb, enthaltend gebundene und gefärbte Eier, drei flaumige Weihbrote und drei Silbertaler.
Voll Gedanken nun, die sich auf den Göden, auf süßes Zuckerwerk und die unbekannte Welt bezogen, saß Matthäus vergnügt in der Kutsche.
»Schau dir’s Haus gut an, was … so Gott will … später dein gehört, und mach ihm keine Schand.«
So sagte der Herr Vater.
Die Frau Mutter wischte sich mit dem Schürzenzipfchen die braunen Augen aus, drückte ihm zitternd das Kreuz auf Stirne, Lippen und Brust und trat wieder zurück unter die Dienstboten und Einleger, die auch beim Haustor standen. Die beiden Brüder hatten den Hund am hänfernen Strick gepackt und hielten ihn immer fester und schauten wie junge Stiere. Ganz umsonst befahl ihnen die Regina, sie sollten »Pfüat Gott« sagen. Ganz umsonst.
Da nahm sich die kleine Stralzendirn den Mut, lief zum Wagen, streckte die rauhe, abgeschürfte Kinderhand mühsam hinauf. Und sagte mütterlich und doch schelmisch lächelnd:
»Mein Liaber, hiaza muaßt brav sein!«
»Hüa!« schrie der Matthäus und faßte keck die Zügel, die auf seines Vaters Knien lagen. Und fuhr davon.
Da gab es den Brüdern und dem Hund einen Ruck. Und sie liefen der Kutsche nach, bis sie müde wurden.
Aber Matthäus drehte sich nicht mehr um.