Читать книгу Rosalies Schlüssel - Paula Hering - Страница 7

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Als ich den Hausflur betrat, regte sich mein Nachbar hinter seiner Tür. Ich öffnete meine Wohnungstür und lächelte freundlich in Richtung des nachbarschaftlichen Spions. Ich richtete den Blick durch die Tür hindurch, sah ihm unverblümt ins Gesicht und sagte, ohne laut zu werden, gerade so als stünde keine Tür zwischen uns:

„Guten Morgen, Herr Radtke. Wären Sie vielleicht so freundlich, mir dabei behilflich zu sein, einen Karton aus meinem Auto zu holen?“

Keine Regung auf der anderen Seite.

Ich ging einen Schritt in den Flur hinaus, richtete meinen Blick fest auf die Tür und wiederholte meine Bitte im gleichen Wortlaut.

Diesmal konnte er sich nicht entziehen.

„Ja, gerne“, hörte ich ihn sagen.

Es entstand eine Pause, in der sich sein verdutztes Gesicht durch die grüne Wohnungstür hindurch abzuzeichnen begann. Er schüttelte den Kopf, offenbar peinlich berührt, setzte sich dann in Bewegung, griff nach einer verschlissenen Hausjacke, tauschte die Cordpantoffeln gegen ausgetretene Slipper und griff nach der Türklinke. Als er die Hand zurückzog, als habe er glühendes Eisen berührt, löste ich meinen Blick.

Er kam, die Schamesröte noch im verstörten Gesicht, zu mir in den Flur, und sein Blick fiel neugierig in meine Wohnung. Mein Nachbar zog die Tür seiner Behausung stets in linkischer Hast hinter sich ins Schloss. Man musste Angst haben, er würde sich eines Tages noch selbst darin einklemmen.

„Vielleicht mögen Sie im Anschluss, einen Tee mit mir trinken?“, sagte ich im Plauderton und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, die wenigen Stufen bis zur Haustür hinunter.

Es entging mir nicht, dass er, dem ersten Impuls folgend, nach dem Haustürschlüssel in seiner Hosentasche tastete, um in den geschützten Raum seiner Wohnung zurückzukehren.

Ich hatte seine Ruhe gestört, aber ich hatte kein schlechtes Gewissen.

Das Ehepaar Radtke stahl seit Wochen meine Sonntagszeitung und beobachtete mich bei Tag und Nacht. Frau Radtke machte sich einen Spaß daraus, die Treppe am Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe zu wischen. Mit dem Schrubber schlug sie so lange gegen die Treppenstufen und schließlich gegen meine Wohnungstür, bis ich mich drinnen zu regen begann.

Sie hatten mir das Leben in den vergangenen zwei Jahren weiß Gott schwer gemacht, ohne dass ich ihnen je etwas getan hätte. Die bloße Anwesenheit einer „Studentin“, wie sie mich verächtlich titulierten, als sei ich eine Schande für das Haus, hatte ihr Weltbild ins Wanken gebracht. Ich war ihrer Verschrobenheit mit Freundlichkeit und höflichem Ignorieren begegnet, aber nun war ich bereit, mit gleicher Münze zu zahlen.

Herr Radtke widerstand dem Fluchtreflex und folgte mir stumm. Der Karton ließ sich keinen Millimeter bewegen und mein Helfer stand wie ein begossener Pudel daneben, während ich mich abmühte.

„Bitte, versuchen Sie es einmal“, bat ich ihn und trat zur Seite.

Er strecke sich wie ein Gockel und ging mit geschwellter Brust so dicht an mir vorbei, dass mir der Geruch von Schweiß und Haarspray in die Nase stieg.

Die Radtkes hatten einige Straßen entfernt einen kleinen Frisiersalon. Er selbst allerdings sah aus wie mit einer Heckenschere frisiert. Eben hatte er noch wie eine Marionette in den Seilen gehangen, nun war er in seinem Element. Mit durchgedrückten Knien bohrte er seinen viel zu langen Oberkörper in den Wagen und als er nach einer Ewigkeit der vergeblichen Versuche wieder auftauchte, war sein Gesicht dunkelrot.

„Wir sollten es zusammen probieren“, schlug ich vor.

Erst als ich einen Großteil der Papiere herausnahm, gelang es uns, den Karton aus dem Auto zu heben.

Während ich das Auto abschloss, nutzte er die Gelegenheit, den Kopf in den Karton zu stecken. Ich ignorierte das. Auf dem Weg ins Haus allerdings drehte ich meinen Kopf übertrieben weit zur Seite und sagte beiläufig, ich müsse die Unterlagen erst desinfizieren, man könne ja nie wissen, welche gefährlichen Krankheitserreger sich in alten Dokumenten verbargen.

Und als wir vor meiner Wohnung ankamen, erwähnte ich, dass sich Pest und Typhus über Jahrhunderte in alten Büchern hielten. Daraufhin setzte er den Karton abrupt ab und verschwand ohne ein weiteres Wort in seiner Wohnung.

„Druckfrische Zeitungen hingegen sind so hygienisch, dass man Neugeborene darin einwickeln kann, wenn nichts anderes zur Hand ist“, rief ich ihm nach. „Sie gehen in diesem Punkt kein Risiko ein.“

Mit den letzten Worten fiel die Tür ins Schloss. Aber ich redete weiter:

„Ich werde in den nächsten Wochen kaum dazu kommen, meine Sonntagszeitung zu lesen. Vielleicht nehmen Sie sie sich einfach. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Üblicherweise kam Rosalie angelaufen, sobald sie mich hörte, diesmal nicht. Nachdem ich sie vergeblich gerufen hatte, ließ ich die Balkontür offen. Als ich wenig später mit einem Tee an meinem Schreibtisch saß, bemerkte ich, dass sich hinter meinem Rücken etwas regte.

„Wo warst du denn?“, fragte ich in den Raum, aber als ich mich umdrehte, fehlte jede Spur von ihr.

Ich ging wieder auf den Balkon, aber auch im Garten konnte ich sie nicht entdecken.

Kaum zurück an meinem Schreibtisch glaubte ich wieder, sie hinter mir zu hören.

„Rosalie?“

Ich erschrak beim Widerhall meiner Stimme; die Wände meiner Wohnung waren noch immer kahl. Ein Rascheln kam aus dem Flur. Ich hatte die vier Teile des Kartondeckels sorgfältig ineinander gefaltet, nachdem ich die restlichen Papiere aus dem Auto wieder hineingelegt hatte. Jetzt standen sie in die Höhe. Ein Kratzen kam aus dem Inneren, der Karton zitterte. Und als ich mich über ihn beugte, sprang eine Bestie heraus.

Ich machte einen Schlusssprung nach hinten, polterte gegen die Schlafzimmertür und brachte das Bügelbrett, das seit meinem Einzug dort verstaubte, scheppernd zu Fall. Die Bestie rannte ins Badezimmer. Nun war sie in dem fensterlosen Raum gefangen und ihre Augen funkelten in der Dunkelheit.

Beim Anblick dessen, was wenig später, noch sichtbar vom Schrecken gezeichnet, mit weit aufgerissenen Pupillen, einem Schwanz wie einem Sturmmikrofon und seitlich ausbrechenden Hinterbeinen aus dem dunklen Bad in den Flur schlich, musste ich lachen. Ich hatte die Neugier meiner Katze unterschätzt.

Die Papiere aus dem Karton waren in einer gleichmäßigen Handschrift beschrieben. Die Schrift war mir vertraut, aber die Sprache kannte ich nicht. Ich zog einzelne Blätter aus dem Karton heraus, hielt sie gegen das Licht, drehte und wendete sie, aber das änderte nichts daran, dass ich die Schrift nicht lesen konnte.

Die Zettel waren vergilbt und klebten teilweise aneinander, darüber hinaus waren sie nicht miteinander verbunden. Sicher hatte Katharina den Karton durchsucht, bevor sie ihn mir überlassen hatte. Ich selbst hatte achtlos einen Stapel herausgegriffen, um ihn aus dem Auto zu heben. Die Reihenfolge der Seiten war dabei durcheinandergeraten und weil ich nicht untätig dasitzen konnte, wollte ich zumindest sie wiederherstellen, wenn es mir schon nicht gelang, die Schrift zu entziffern.

Ich nahm einige Blätter aus dem Karton und untersuchte sie erneut. Dabei entdeckte ich am äußersten rechten Blattrand kaum sichtbare Querstriche. Sie reichten über den Blattrand hinaus, so dass sie auf der Kante sichtbar wurden. Dann untersuchte ich weitere Zettel auf diese Striche hin und fand sie auf jedem einzelnen. Ich nahm einige Seiten, schlug sie ein paarmal auf die Tischkante und sah, wie die winzigen Punkte sich auf dem Blattschnitt zu Linien verbanden.

Nun stapelte ich weitere, schlug sie auf die Tischkante und betrachtete das Resultat. Während ich noch experimentierte, kam mir der Gedanke, dass ich durch mein Tun die noch vorhandene Ordnung zerstören könnte. Um sicherzustellen, dass das nicht passierte, verbrachte ich ganze Nächte damit, die Blätter in der von mir vorgefundenen Reihenfolge zu nummerieren.

Vier Wochen nachdem ich den Karton bekommen hatte, beendete ich meine Strafarbeit. Ich hatte alle Seiten ordentlich aufeinandergelegt, aber es schien aussichtslos, sie akkurat zu stapeln. Mithilfe dicker Bücher zum Beschweren und einigen gezielten Schlägen mit zwei Frühstücksbrettern, gelang es mir mühsam.

Das Resultat ließ sich sehen. Eine Dreiteilung trat deutlich auf dem Blattschnitt hervor. Ich erinnerte mich an ein altes Pflanzenbestimmungsbuch, das Großmutter durch rote Striche auf der Schnittkante für mich gegliedert hatte, damit ich mich besser darin zurechtfand, wahrscheinlich war es mit ihren anderen Sachen im Müllcontainer gelandet.

Auf dem Boden sitzend, den Rücken ans Sofa gelehnt, drehte ich den Ring um meinen Finger. Rosalie sprang von dem Sessel hinunter und lief in Richtung Küche. Als sie sich zu mir umdrehte, sah ich, wie der Vollmond sich in ihren Pupillen spiegelte.

Rückblickend auf die Geschehnisse in Großmutters Garten, hielt ich den Ring ein wenig höher. An der Wand gegenüber sah ich seinen überdimensionalen Schatten. Deutlich war der hohe Sockel zu erkennen, aus dem sich der gewölbte Stein erhob. Ich drehte die Hand, aber diesmal veränderte sich der Stein nicht. Stattdessen strahlten die hervortretenden Linien des Sockels mir von der Wand entgegen.

Auf dem eigentlichen Ring saß, auf zwei kleinen Kugeln, quer zur Handwurzel ein massives Oval. Die untere Kante des ovalen Sockels verzierte eine gedrehte silberne Kordel, darüber lag eine Schlangenlinie aus einem flachen Silberband, zuoberst war der Schattenriss des Steins an der Wand zu erkennen, er beschrieb einen gleichmäßigen Bogen.

Ich starrte auf die Wand und verglich den Schatten mit den Linien auf dem Blattschnitt, eine Linie bestehend aus kleinen Querstrichen, eine Schlangenlinie und ein Bogen. Bei näherer Betrachtung war nun zu erkennen, welche Blätter durcheinandergeraten waren.

Nachdem ich die Ordnung wiederhergestellt hatte, schrieb ich mit mir selbst zufrieden Schattenseiten auf ein gelbes Deckblatt, lochte die Seiten und band sie mit einem rotweißen Wurstband zu zehn Bündeln zusammen, um sie sicher in dem Karton verstauen zu können.

In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Auch Rosalie war unruhig. Ich nahm sie unter den Arm und ging auf den Balkon. Wir waren nicht allein. Sie fauchte und versuchte, sich aus meinem Arm zu lösen. Ich wich in den überdachten Bereich des Balkons zurück und behielt den Punkt in der Dunkelheit, an dem ich etwas gesehen zu haben glaubte, fest im Blick.

Einen Moment lang blieb es still, doch dann, getäuscht von meinem vorgeblichen Rückzug, löste sich eine Gestalt aus der Schwärze. Ich hörte Schritte und wenig später Atemgeräusche direkt unter dem Balkon. Ich gab meine Deckung auf, beugte mich, noch immer mit Rosalie auf dem Arm, über das Balkongeländer und blickte in zwei gelbe Augen.

Ich weiß nicht, wer mehr erschrak. Der Fremde unter mir stieß einen gellenden Schrei aus und rannte in unmenschlicher Geschwindigkeit davon. Rosalie fauchte wie ein wütender Drache. Ich selbst fing an zu schreien und konnte mich nur schwer wieder beruhigen.

Ich rannte in meine Wohnung und knallte die Balkontür mit solcher Wucht hinter mir zu, dass eine der Glasscheiben zersprang. Rosalie hatte ihre Krallen in meine Schulter geschlagen, als sie versuchte, über meinen Rücken zu entkommen, aber ich hatte sie festgehalten und tat es noch, als ich mit ihr ins Badezimmer rannte und uns darin einschloss.

Dort sank ich zu Boden, pflückte sie von meinem schmerzenden Rücken und kam nach einigen bangen Minuten, in denen mein Herz mir im Hals zu schlagen schien, endlich wieder zur Besinnung. Ich versorgte die blutigen Kratzer, die sie mir beigebracht hatte, und schaute mir vor dem Spiegel stehend lange ins Gesicht, um mich meiner selbst zu vergewissern.

Allmählich beruhigte ich mich und machte mich bettfein, obwohl ich nicht sicher war, ob ich nach diesem Erlebnis je wieder ein Auge zu tun würde.

Katzen leben uns vor, wie Unbeschwertheit geht. Sie haben kein gutes Gedächtnis für negative Erfahrungen, andererseits haben sie neun Leben, wie es heißt, vielleicht begründet das die fehlende Notwendigkeit von Vorsicht in ihrem Leben.

Es dauerte nicht lange, bis Rosalie den Vorfall vergessen zu haben schien und sich im Badezimmer zu langweilen begann, deshalb schloss ich die Tür wieder auf und wir gingen ins Bett, allerdings nicht, ohne vorher den schweren Karton mit Großmutters Aufzeichnungen vor die Balkontür zu schieben.

Rosalies Schlüssel

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