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Eis und schwere Gedanken
ОглавлениеAstrid
„Süße? Wollen wir noch ein Eis essen gehen oder nicht?“, rufe ich durch die viel zu kleine Zwei-Zimmer Wohnung. Es ist schon schade, dass Charlotte Emilias Vater kurz vor ihrer Geburt rausgeworfen hat. Er hätte Charlotte wenigstens finanziell unter die Arme greifen können, stattdessen arbeitet sie viel und nimmt kaum Urlaub. Wegen der Drogen, hatte Charlotte damals zu mir gesagt, aber ich war immer der Meinung, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Ja, er hat viel mit Drogen zu tun gehabt. Aber irgendetwas muss noch passiert sein, worüber Charlotte mit mir nicht reden wollte. Ich fand die Entscheidung von Charlotte immer richtig, aber heute frage ich mich manchmal, ob es nicht doch besser für Emilia gewesen wäre, mit einem Vater aufzuwachsen. Das Vorbild von Vater wäre er sicher nicht gewesen, aber jeder braucht eine ganze Familie. Emilia hat eine wundervolle Mutter und mich, ihre Oma, aber reicht das? Sie hat sich bestimmt schon oft gefragt wer ihr Vater ist. Charlotte hatte damals beschlossen ihrer Tochter nichts von ihrem Vater zu erzählen, weil sie der Meinung war, dass es das für das Kind nur schwerer machen würde. Wir sind Emilia immer ausgewichen und haben ihr vorgelogen, dass wir gar nicht wüssten, wer ihr Vater sei und das auch nicht wichtig sei, weil sie wundervoll ist. Ob Charlotte ihr jemals die Wahrheit über ihre Herkunft verrät? Auf einmal poltert jemand den kleinen Flur entlang und reißt mich aus meinen Gedanken. „Natürlich gehen wir noch ein Eis essen!“, sagt Emilia, die den Flur entlang gekommen ist. Wir ziehen uns also Schuhe an, eine Jacke über und verlassen die Wohnung. Auf dem Weg zum Eiscafe frage ich mich erneut, ob Charlotte mit ihrer Tochter über die Wahrheit sprechen würde und ich nehme mir vor, sie darauf anzusprechen. Im Eiscafe angekommen setzt sich Emilia an unseren Lieblingstisch, der von dem man so schön über den Marktplatz gucken kann. Als die Bedienung kommt und fragt: „Was darf es denn für Sie sein?“, meint Emilia: „Ich hätte gerne eine Kugel Vanille und eine Schokolade.“ Ich schaue sie überrascht an, da sie sonst immer der Meinung war, dass man helles und dunkles Eis nicht mischen sollte. Die Bedienung schaut mich fragend an und mir fällt auf, dass ich ja noch bestellen muss: „Ähh, einen Caramel-Machiato und zwei Kugeln Mokka, bitte.“ Als die Bedienung Richtung Tresen läuft, frage ich Emilia: „Seit wann mischst du denn hell und dunkel, Liebling?“, und schaue sie fragend an. Sie schaut aus dem Fenster und dreht sich nun zu mir: „Ach, Omi, weißt du, dass sich dieser Staat ganz schön verändert hat? Früher, als ich klein war, war alles noch so klar sichtbar. Man wusste, dass die Bösen die Piraten waren und die Guten die Feen, Prinzessinnen und was es alles gibt. Aber heute? Jetzt sieht man nicht mehr klar, es gibt die Politiker, die Dinge versprechen und die Presse, die alles so hinbiegt, dass es sich gut verkaufen lässt. Außerdem stecken wir mitten im Klimawandel, gegen den auch viel zu wenig getan wird und die Terroristen, die Anschläge auf verschiedene Städte ausüben, weil sie der Meinung sind, dass sie damit etwas Gutes tun. Warum tut sich die Menschheit so schwer damit, einfach nur Mensch zu sein? Wir befinden uns in einer Art Krieg, manche nennen ihn auch den modernen Krieg, hab ich gelesen. Wie können Menschen so grausam sein und viele unschuldige Menschen töten? Was bewegt diese Leute dazu?“ Als Emilia fertig war, muss ich etwas verdutzt aus der Wäsche geguckt haben, weil sie darauf meint: „Alles gut bei dir Omi?“ „Ja klar, Süße! Weißt du, es ist so, dass wenn man etwas älter wird, wie du jetzt, dass man da anfängt zu verstehen, dass die Welt nicht nur schön ist und es keine bösen Piraten mehr gibt. Sondern es gibt verschiedene Kulturen und Religionen, die manchmal Probleme mit einander haben. So ist das heute und so war das auch immer schon, du fängst bloß jetzt erst an zu verstehen, was in der Welt passiert und entdeckst die Zusammenhänge.“ Emilia guckt mich etwas traurig an und ich merke, dass diese Dinge sie schon öfter beschäftigt haben müssen. Sie scheint viel über das hier und jetzt nachgedacht zuhaben, wahrscheinlich auch über den Verbleib ihres eigenen Vaters. Nach einer kurzen Weile meint sie: „Warum leben wir Menschen überhaupt, wenn wir sowieso irgendwann sterben müssen? Man will doch nicht, dass irgendjemand aus seiner Familie oder seinem Freundeskreis gehen muss. Es tut nur schrecklich weh und man muss irgendwie selbst damit fertig werden.“ „Och, Süße, jetzt sei mal nicht so traurig. Das ist der Lauf der Dinge, irgendwann werden wir alle einmal sterben.“, antworte ich daraufhin und tätschele ihren Arm. Kurz danach kommt auch die Bedienung mit einem vollen Tablett an unseren Tisch und serviert die zwei Eisbecher und den Caramel-Machiato. Nun sitzen wir schweigend da, essen jeder für sich sein Eis und hängen in unseren Gedanken. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich nicht gedacht hätte, dass Emilia dieses ganze Thema so beschäftigt. Es ist für mich auch nicht grade schön zu sehen, wie langsam alles wieder den Bach runter geht. Aber so sind die Menschen nun einmal. Kaum klappt etwas, muss es auch schon wieder geändert werden. Es war sicher nicht einfach damals, monatelang haben wir all die Trümmer weggeschleppt und das Land wieder aufgebaut. Wir haben keinerlei Geld oder sonstiges für das alles bekommen, wir wollten nur wieder ein sicheres Zuhause, so war das eben nach dem 2. Weltkrieg. Wir waren froh, wenn wir genug zu Essen für die gesamte Familie hatten. Es tut schon weh zu sehen, wie heute Stück für Stück wieder etwas eingerissen wird, was wir damals, nach einer schweren Zeit wieder aufgebaut haben. Auch das heute wieder mehr und mehr rechte Parteien gewählt werden. Aber so ist das Leben, denke ich und sehe aus dem Fenster auf den friedlichen Marktplatz.