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6.

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Bernhard Heinrich war ein stiller, blasser Junge. Er stand im vierzehnten Lebensjahre. Die Kinderkrankheiten: Masern, Scharlach, Diphtheritis hatten ihn sehr mitgenommen und litt seitdem an Kopfschmerzen. Der Pfarrer, ein älterer, freundlicher Herr, gab ihm Unterricht in Latein. Nächste Ostern sollte Bernhard die Aufnahmeprüfung in die Quarta versuchen. Manchmal dachte der Pfarrer mit Sorge: der Junge wird das Studium nicht überstehen. Wenn er’s aber durchmacht, er wird nie ein streitbarer Prediger, ein vielarbeitender Seelsorger, ein Vereinsorganisator oder Kirchenerbauer werden; vielleicht wird er in einen betrachtenden Orden eintreten oder als Klostergeistlicher sein Leben verbringen.

Es war erklärlich, daß sich der kecke, gesunde Klaus und der zarte, fromme Bernhard nicht gut vertrugen. Bei allen Streitigkeiten aber trug Bernhard den Sieg davon, denn der muntere Junge griff mutig an, der blasse verteidigte sich kaum. So machte der Kampf keinen Spaß. Bei solchen Gelegenheiten wurde die Rede des Klaus immer heftiger, die des Bernhard immer sanfter, immer leiser, so daß Klaus schließlich den Streit aufgab und als Geschlagener von dannen schlich. Manchmal schalt er über die zu große Sanftmut des Bruders. Gewöhnlich redete er sich ein, daß er Bernhard als einen jämmerlichen Leisetreter gründlich verachte; dann wieder entdeckte er in sich eine geheime, scheue Hochachtung vor dem jungen Lateiner. Er, Klaus, war nun zwölf Jahre alt. Es fiel dem Pfarrer gar nicht ein, auch ihm lateinische Stunden zu geben. „Lerne du erst besser den Katechismus!“ hatte er gesagt. Auf der einen Seite fand Klaus das Ausbleiben des lateinischen Unterrichts als eine ihm persönlich angetane Unbill und Zurücksetzung, auf der andern freute er sich, daß er nicht zur „Stunde“ mußte wie der Bruder. Einmal hatte er das Latein buch des Bruders erwischt und die erste Lektion aufgeschlagen: Asia est terra, Europa est terra. Asia et Europa sunt terrae. Das fand er leicht. Asia und Europa übersetzte er fließend, „est“ stellte er ohne weiteres als „ist“ und hinter „sunt“ witterte er richtig „sind“. Aber „Terra“ machte Schwierigkeiten. Klaus kannte von ähnlichen Wörtern nur „Terrine“, die Suppenschüssel, und „Terrier“, den weiß und schwarz gezeichneten Hund. Wahrscheinlich hieß es: In Asien und Europa sind Suppenschüsseln und weiße Hunde mit schwarzen Flecken. Er sagte das dem Bruder, und Bernhard lachte. Er lachte wirklich einmal laut, der Leisetreter. Aber schon reute den Frommen dieses Lachen, und er belehrte den Bruder, daß „terra“ „Land“ bedeute. „Europa ist ein Land, Europa und Asien sind Länder.“ Klaus genierte sich mit seiner Suppenschüssel- und Hundeübersetzung und rannte vor den vielen Schwierigkeiten der lateinischen Sprache davon.

*

Wieder einmal waren die drei in der Stube: Marie, Bernhard und Klaus. Da fragte Klaus:

„Warum trittst du nicht in unseren Verein ein?“

„Ich will nicht.“

„Warum nicht?“

„Für einen, der Priester werden will, gehört sich das nicht.“

„Hat das der Pfarrer gesagt?“

„Nein! Ich sage es mir selbst.“

„Dann bist du ein Kamel!“

Marie verwies Klaus dieses beleidigende Wort, stellte sich aber sachlich auf seine Seite.

„Sieh, Bernhard, es wäre mir sehr lieb, wenn du in diesen Verein einträtest. Turnen, Wandern und Spiel im Freien sind ja doch keine Sünden. Es ist gesund.“

„Wenn du willst“, fiel Klaus ein, jetzt viel freundlicher im Tone, „kannst du in die Greisenriege eintreten, obwohl du erst vierzehn bist.“

„Was ist die Greisenriege?“ erkundigte sich Marie.

„Es gibt drei Riegen: die Kinderriege, die reicht bis zum 12. Jahre, die Männerriege, die reicht bis zum 16. Jahre, und was darüber ist, das ist die Greisenriege.“

„So bist du etwa in der Männerriege?“

„Jawohl!“

„Das sieht man dir an. Wer hat diese geistreiche Einteilung erfunden?

„Ich! An meinem 12. Geburtstag.“

„Das sieht man der Einteilung auch an.“

Sie wandte sich wieder an Bernhard und redete ihm zu.

„Es paßt nicht für mich“, sagte er abweisend.

„Wir werden es schon passend machen, du ehrwürdiges Schaf“, rief Klaus. „Bist du etwa schon Pfarrer? Ein blöder Kerl bist du und tust so heilig, daß einem schlimm wird.“

Marie sah Klaus mit dem gewissen Blicke an, der keinen Widerspruch duldete, und wies mit der Hand nach der Tür. Klaus verschwand. —

Die Kinder bekamen manchmal etwas Geld geschenkt, wenn Jahrmarkt in der Stadt war oder wenn bei der Kirmes um Lebkuchen gewürfelt wurde, wenn ein Karussell im Dorf war und bei ähnlichen Gelegenheiten. Bernhard, der jahraus, jahrein in der Kirche als Ministrant diente, bekam dafür den im Etat vorgesehenen wöchentlichen Sold von fünfzehn Pfennigen. Anfangs hatte er dieses Geld immer in den Gotteskasten gesteckt; dann aber begann er es aufzusparen. Von den Kirmes- und anderen Vergnügungsgeldern verbrauchte er keinen Pfennig, und so gelang es ihm, in einer kleinen Buchhandlung der Kreisstadt ein „Erbauungsbuch“ zu erstehen, das ihn schon lange aus dem Schaufenster heraus mit seinem auffallenden Titel angelockt hatte. Das Buch war mystischen Inhalts. Nach und nach erwarb Bernhard noch zwei andere Bücher dieser Art. Er las darin alle Tage. Jetzt, als er mit der Schwester allein war, fragte Bernhard:

„Marie, betest du für unseren Bruder Karl?“

Das Mädchen entgegnete nichts.

„Ich halte jetzt eine Novene vom heiligen Antonius für ihn.“

„Das ist ja schön“, sagte Marie herb. „Aber wenn ich’s täte, würde ich’s niemanden sagen.“

Eine Röte fuhr über das blasse Gesicht des Knaben.

„Das ist richtig! Ich hätte es nicht sagen sollen. Verzeihe es mir, Marie!“

Marie liebte Bernhard wie alle ihre Anverwandten. Aber ihre gesunde, gerade Art fand kein Verhältnis zu der mimosenhaften, lebensfremden Frömmigkeit des Bruders. Während sie jetzt eifrig an einem Strumpfe stopfte, flog das Gedankenschifflein ir ihr hin und her, webte an dem Schicksalstuche des Bruders.

„Wo hast du denn die Bücher her, in denen du so viel liest, Bernhard?“

Abermals errötete Bernhard, denn er hatte geglaubt, daß Marie von diesen Büchern nichts wüßte. Er hielt sie gut versteckt, zur Zeit auf einem Balken der Sommerlaube, und er las in ihnen nur in großer Heimlichkeit. Sein scheues Herz fürchtete, die anderen könnten über diese Bücher lachen, könnten das verspotten, was ihm heilig war.

„Ich möchte dir die Bücher nicht gern geben, Marie.“

„Ich hab’ sie schon“, antwortete sie. „Der Balken in der Sommerlaube ist kein gutes Versteck, denn von Zeit zu Zeit staube ich ihn doch ab. Ich habe die Bücher heute gefunden.“

„Wirst du mir die Bücher zurückgeben?“ fragte er ängstlich.

„Erst werde ich sie lesen.“ —

Drei Tage später kam Marie Heinrich die Dorfstraße herab und schritt rasch aus. Sie trug ein kleines Paket. Beim Pfarrer war sie gewesen, hatte ihm drei Bücher vorgelegt und gefragt, ob er wohl wüßte, daß Bernhard diese Bücher gekauft habe. Der Pfarrer besah die Bücher. Zwei kannte er nach Titel und zweifelhaftem Ruf, in dem dritten blätterte er und las einige Seiten. Er gab die Bücher zurück und sagte:

„Ich würde nie gestattet haben, daß Bernhard derartiges liest. Ich habe nichts davon gewußt.“

„Das dachte ich mir“, sagte Marie dankbar. „Den Jungen werde ich mir vornehmen, und die Bücher, die nur von Menschen geschrieben sein können, die ihrer fünf Sinne nicht mächtig sind, werde ich verbrennen.“

„Tun Sie das!“ sagte der Pfarrer. „Für Bernhard ist es Gift.“

In der Wohnstube traf Marie die beiden Jungen an. Bernhard saß über seiner Grammatik. Klaus hatte soeben mittels eines Taschenmessers seine Initialen K. H. in die Tischkante geschnitzt und saß nun müßig da.

„Geh hinaus, Klaus!“ sagte Marie.

„Wieso denn? Ich hab’ doch nichts verbrochen.“

„Du sollst trotzdem hinausgehen!“

Das war Befehl, dem nicht widersprochen werden konnte. Der Junge entfernte sich unter lebhafter Beschwerde, daß er selbst dann hinausgeworfen würde, wenn er „nichts verbrochen“ hätte. Dabei fiel ihm ein, daß es nicht glatt ablaufen würde, wenn Marie die beiden Buchstaben in der Tischkante entdeckte. Er kalkulierte aber auch, daß Marie mit Bernhard etwas vorhätte, und da er für Familienangelegenheiten immer ein warmes Interesse besaß, kletterte er wieder vorsichtig durchs Fenster zurück in die Stube und setzte sich still und bescheiden hinter die Kommode.

Marie trat schweigend an den Tisch und entknotete die Schnur ihres Paketes.

„Meine Bücher!“ rief Bernhard erstaunt aus.

„Jawohl, deine Bücher! Steh auf, komm her zu mir!“

Der Knabe gehorchte ...

„Warum hast du in solchen elenden Machwerken gelesen?“ fragte sie mit strenger Miene.

„Es sind sehr fromme Bücher, Ma ...“

„Ich werde dir deine frommen Bücher anstreichen! Warum hast du solchen überspannten Unsinn ins Haus und in deinen Kopf gebracht?“

„Marie, es sind heiligmäßige ...“

Der Junge stand kreideweiß vor der zornigen Schwester.

„Warum hast du dem Herrn Pfarrer von diesen Büchern nichts gesagt?“

Nun trat doch ein Aufbegehren in das blasse Gesicht.

„Ich brauch’ nur das zu beichten, was Sünde ist. Das war keine Sünde. Das war Erbau ...“

„Das war keine Sünde? Das war ein Verbrechen an dir selbst. Der Pfarrer ist dein Lehrer und Erzieher. Du durftest auf keinen Fall hinter seinem Rücken so was lesen. Paß auf, was ich mit deinen Büchern mache!“

Sie zerriß die Bücher. Der Knabe sah ihr mit entsetzten Augen zu.

„Marie“, schrie er, „Marie, meine Bücher! Laß es, Marie, laß es! Es sind heilige Bilder drin, Wunderbilder, Gnadengebete. — Laß es, Marie!“

Sie setzte ihr Werk fort, dann befahl sie ihm, mit in die Küche zu kommen. Willenlos folgte Bernhard. In der Küche mußte er zusehen, wie Marie seine Bücher verbrannte. Der Knabe legte die Hand über die Augen, die Tränen rannen. Dem Mädchen griff das wohl ans Herz. Aber sie ließ sich nichts merken. Nur ihre Stimme klang milder, als sie sagte:

„Es mußte sein, Bernhard; geh jetzt zu deiner Grammatik!“

Klaus wälzte sich indessen draußen im Grase. Er hatte von seinem Lauscherwinkel aus alles miterlebt und sich dabei sein Taschentuch in den Mund gesteckt, um sich nicht zu verraten. Jetzt konnte er seinem ungeheuren Vergnügen, daß der fromme Bernhard auch mal etwas abbekommen hatte, nur durch völlig närrisches Gebaren und wüstes Freudengeschrei Ausdruck geben. Marie hörte ihn, dann sah sie ihn auch. Es war ihr klar, daß Klaus gelauscht hatte und daß er vor wilder Schadenfreude sich nun nicht zu lassen wußte. Sie mußte ihm das verbieten, aber sie fühlte sich plötzlich so elend und müde. Ach, immer aufpassen, immer streng sein, oft schelten, ja schlagen müssen, es war kein schönes Los für ein junges Mädchen. Klaus tobte indes draußen weiter.

Marie öffnete die Fenster und rief in den Garten:

„Brüll nicht so! Komm sofort in die Küche!“

Dort mußte Klaus Kartoffeln schälen. Das war ihm die unangenehmste aller Arbeiten. Er fand sie weibisch. Also murrte er.

„Warum schält Bernhard nicht auch Kartoffeln?“

„Weil er Grammatik lernen muß.“

„Ich denke, die Grammatik hast du zerrissen?“

Da setzte es ein Kopfstück.

Gerade kam die Mutter zur Küchentür herein. Sie hatte in der Oberstube geruht, weil sie wieder Kopfschmerzen hatte. Nun war sie heruntergekommen und fragte:

„Bernhard liegt mit dem Kopfe auf seinem Buch und weint. Was ist denn?“

„Ach, Mutter, laß das, du regst dich bloß auf. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Mit den Kindern, auch mit Bernhard, ist halt manchmal etwas los. Ich mach’ das schon alles gleich.“

„Ach ja, die Kinder!“ seufzte die Frau und legte die Hände kraftlos in den Schoß. „Ich kann’s nicht mehr. Mach du’s, Marie! Du machst es recht.“

Wer weiß, dachte Marie, ob ich es wirklich recht mache!“

Marie Heinrich

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