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5.

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Im Dorfe waren drei Wirtshäuser. Das größte davon stand neben der Kirche, wie sich ja meist Bacchus sein fröhliches Zelt oder Merkur seinen bunten Jahrmarkt neben dem ernsten Haus des Christengottes aufschlagen. Der dicke Gastwirt musterte das Gelände. Es war alles in Ordnung. Der Fußboden war gestern am Sonnabend frisch gescheuert und mit Sand bestreut, Bänke und Tische waren abgestaubt worden; die Schnapsflaschen standen in Reih und Glied, das Fliegenpapier war erneuert, der Uhrzeiger um zwanzig Minuten zurückgedreht, in der Küche warteten fünfzig Paar Wiener Würstchen auf ihre Konsumenten. Das Faß Bier wollte der Wirt erst anschlagen, wenn sie drüben in der Kirche: „Dona nobis pacem“ singen würden. Dann war’s aus, dann kamen sie.

Es dauerte noch eine Weile. Der Wirt sah ein Bild an, das an der Wand hing. Es stellte eine rote Rose dar, und rund um die Rose stand in blauen Buchstaben gemalt: „Die Rose blüht, der Dorn, der sticht; wer gleich bezahlt, vergißt es nicht.“ Diese poetische Mahnung hing den Zechern immer vor der Nase. Wer kein Geld hatte, zahlte trotzdem nicht. Karl Heinrich hatte zweihundertundfünfzig Mark Schulden bei ihm gehabt. Die waren nun bezahlt; aber der Wirt hatte keine rechte Freude. Marie Heinrich war plötzlich bei ihm aufgetaucht mit dem Gelde und hatte eine Strafpredigt gehalten, schlimmer als der Pfarrer an Silvester. Er hatte sich verteidigt und gesagt, er gäbe als braver Wirt den Gästen das, was sie bestellten; er nötige niemandem etwas auf, aber die Wünsche der Gäste müßte er erfüllen. Sie hatte immer weiter auf ihn eingeredet. Was sich so ein junges Ding herausnahm gegen einen Ehrenmann! Schließlich war die Marie so laut geworden, daß die Wirtsfrau erschienen war und gefragt hatte, was denn los wäre. Da hatte Marie die ganze Strafpredigt noch einmal gehalten und am Schluß zur Frau gesagt: „Frau Erkner, Sie haben Kinder, ich wünsche Ihnen, daß Gott die Sünden Ihres Mannes nicht an Ihren Kindern strafe und eines so herunterkommen lasse, wie unser Karl hier bei Ihnen heruntergekommen ist.“

So eine! Lieber wollte der Wirt sogar eine Silvesteroder Fastenpredigt mit anhören, als ihr noch einmal in die Hände fallen. Bei solchen Predigten in der Kirche, die dem Wirt schrecklich auf die Nerven fielen, wurde es einem aber doch nicht so persönlich, nicht so ins Gesicht hinein gesagt, wie es dieses dumme Ding sich erdreistet hatte.

Das Schlimmste war, daß sie ihm den besten Kunden wegnehmen wollte. Nichts mehr an Schulden wollte sie bezahlen. Nun, wir wollen mal sehen! Wenn der Gerichtsvollzieher droht, der dem Karl den Sonntagsanzug, den Winterüberzieher und die Uhr pfänden will, werden die Heinrichs schon zahlen. Sie könnten sich ja sonst nicht mehr im Dorfe sehen lassen.

Die Rose blüht,

der Dorn, der sticht —

Hier hatte ein Dorn gestochen. Die Leute kommen noch immer nicht. Der Pfarrer hat wieder zu lange gepredigt. Lange Predigten bedeuten für den Wirt immer eine Schädigung; denn zum Mittagessen wollen die Leute zu Hause sein. Wir werden die Uhr noch um zehn Minuten zurückdrehen.

Langweilig wird’s. Der Wirt betrachtet ein zweites Bild an der Wand: „Die Lebensstufen“. Eine aufwärts und abwärts führende Treppe stellt das Bild dar; auf jeder Stufe steht eine menschliche Figur:

„10 Jahre, ein Kind“ — „20 Jahre, ein Jüngling“ — „30 Jahre, ein Mann“ — „40 Jahre, wohlgetan“ — „50 Jahre, Stillestand“ — „60 Jahre, geht’s Alter an“ — „70 Jahre, ein Greis“ — „80 Jahre, schneeweiß“ — „90 Jahre, ein Kinderspott“ — „100 Jahre, Gnade bei Gott“.

Er war fünfzig — Stillestand! — Schon faul! Aber noch schmeckte das Bier, noch schmeckte das Leben. Zum 50. Geburtstag hatte er eine anonyme Karte bekommen; darauf hatte gestanden: „Wer nichts wird, wird Wirt.“ Das war von irgendeinem Neidhammel. Er hat genug erreicht. Sein Bruder, der Gymnasialdirektor, der sechs Kinder hat, muß ihn um Weihnachten herum immer anpumpen. Und der Bruder gilt doch als ein großes Tier; er duzt sich sogar mit dem Landrat.

Marie Heinrich hatte gedroht, wenn das mit Karl so weiterginge, würde sie sich an den Landrat wenden und sich gar nicht scheuen, den Bruder öffentlich als Trunkenbold erklären zu lassen. Er wisse wohl, was einem Gastwirt passiere, der einem, der auf der Säuferliste steht, auch nur ein einziges Glas einschenke.

Sie werde ihm den Bruder aus den Zähnen rücken, koste es, was es wolle.

Diesem Mädel war alles mögliche zuzutrauen. Schöne Wirtschaft, wenn der Landrat eines Tages zum Gymnasialdirektor sagen würde: „Lieber Freund, es tut mir leid; aber ich habe deinem Bruder die Schankkonzession entziehen müssen.“ Nein, lieber mochte doch der Karl Heinrich nicht mehr kommen. Er kam sowieso schon seit fünf Tagen nicht mehr. Wo steckte er bloß? —

Da war der Gottesdienst aus. Jetzt war’s Zeit. Der Wirt ging nach dem Schanksims, schlug einen Spund in ein mächtiges Faß, brachte es mit dem Kohlensäureapparat in Verbindung, wischte sich die Hände ab und sagte befriedigt: „Fertig!“

Zehn Minuten später war die große Gaststube voll Mannesvolk.

*

Die von weit her waren und darum wohl das meiste Recht gehabt hätten, sich zu stärken, hatten es am eiligsten. Sie schlangen eben nur ein Paar Würstchen hinunter, gossen ein Glas Bier darauf und gingen dann ihrer Wege. Manche hatten weit über eine Stunde bergauf und bergab zu wandern. Am längsten blieben die, die am nächsten wohnten. Sie hatten zwar keine ersichtliche Veranlassung auf ausgiebige Erquickung, aber sie hatten Zeit. Und Zeithaben ist immer ein triftiger Grund zum Trinken.

Als etwa nur noch zehn Männer um den größten Tisch der Wirtsstube saßen, sagte der Schmied dumpf vor sich hin: „Karl Heinrich ist nicht mehr da.“ Sie fuhren alle mit Fragen auf ihn ein, am heftigsten der Wirt.

„Er ist nicht mehr da; er ist nicht mehr in Wiesenthal“, sagte der Schmied, der seinen besten Freund und Zechkumpanen verloren hatte, mit leidumflorter Stimme.

„Er hat’s nicht mehr ausgehalten zu Hause; er ist in die weite Welt!“

„In die weite Welt“, sagten die andern mit Staunen und fast andächtig.

„Woher weißt du es denn? Wie lange ist er fort?“

„Ich weiß es seit gestern. Fünf Tage lang habe ich ihn in allen drei Wirtshäusern gesucht. Er war nicht da. Das hat was Schlimmes zu bedeuten, dachte ich mir gleich. Es konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen. Da ging ich endlich nach dem Heinrichshofe, um mich zu erkundigen.“

Der Schmied machte eine Pause, sprang auf und schlug auf den Tisch, daß alle Biergläser klirrten und sein eigenes umfiel.

„Ich werd’ es ihr anstreichen! Ich werd’ es ihr geben!“

„Wem?“

„Dem Mädel — der Marie! Ich bin hingegangen, hab’ sie gefragt, wo der Karl sei; da hat sie gesagt:

‚Fortgelaufen ist er! In die weite Welt ist er. Weil er mit euch nicht mehr in der Spelunke sitzen sollte!‘ “

„Spelunke? Spelunke hat sie gesagt?“ fragte der Wirt giftig. „Ich werde sie verklagen.“

„Tue das“, rief der Schmied, „ich verklage sie auch. Gemein ist so was! Ich hab’ nach der Mutter gefragt. Da hat sie gesagt: ‚Die Mutter habt ihr krank gemacht. Den Heinrichshof verwalte ich jetzt.‘ “

„Ah — die versteht’s!“

Nun wurde über Marie Heinrich übel geredet. Man war sich bald darüber einig, daß sie eine Erbschleicherin wäre, die es auf das Gut abgesehen hätte und darum den älteren Bruder aus der Heimat vertrieb. Die Mutter wäre dumm und schwach, da hätte das freche Ding leichtes Spiel. Der Karl sei ein famoser Mensch gewesen, immer lustig, immer gefällig, immer nobel. Wenn er gern einen getrunken habe — Himmel, was sei denn dabei? Karl sei jung und habe es dazu, sich was anzutun. Die Marie habe bis jetzt keinen Mann gekriegt, da wolle sie nun das Gut, damit am Ende doch noch einer anbeißt.

Karl wurde allgemein bedauert. Der Schmied sprang abermals auf, hieb wieder auf den Tisch, wodurch diesmal das Glas des Nachbarn zum Kentern gebracht wurde, und schrie:

„Auch die Arbeit hat sie mir aufgekündigt. Ich meinte, das wäre doch Sache der Frau. Da sagte sie: ‚Die Frau bin jetzt ich, und unsere Schmiedearbeit wird fortan in Bärsdorf gemacht!‘ “

Wieder ging es über Marie Heinrich her. Arbeit, die im Dorf gemacht werden konnte, nach auswärts zu vergeben, galt als großes Unrecht.

Der Schmied verfiel von neuem in seine oft weinerliche Stimmung. Heftig schmerzte es ihn, auf dem größten Hofe des Ortes seine Arbeit zu verlieren, noch dazu nach Bärsdorf hinab, wo nach seiner Meinung die Strandräuber wohnten, die bei der großen Überschwemmung seine Habe aus dem Wasser gefischt hatten. Er trank zwei Gläser Branntwein und wurde immer trübsinniger.

Ein einziger im Kreise hatte dem Geschimpfe still und mit einem leisen Lächeln zugehört, das war der Bauer Erle.

Als nun der Schmied immer wieder über den Verlust seines Freundes klagte, sagte Erle:

„Er ist versoffen wie die Kuckucksuhr des Schmieds. Hat er nicht noch dreimal ganz kläglich: ‚Prosit! Prosit! Prosit!‘ aus der Ferne gerufen? Fortgeschwemmt ist er worden.“

Es wollte ein großer Streit entstehen, aber Erle ließ es nicht darauf ankommen. Er ging. In der Türe drehte er sich noch einmal um:

„Wenn ich auch meine Meinung über Marie Heinrich sagen darf: Sie ist der sauberste Mensch im ganzen Dorfe.“

Marie Heinrich

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