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4.

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Marie Heinrich faßte den Entschluß, nunmehr die Sorge für das Wohl und Wehe ihrer Familie selbst zu übernehmen. Die Mutter war alt, weit über ihre Jahre hinaus alt. Langes Witwentum, viel Arbeit und Sorge, wenig Erholung und fast gar keine Freude — für eine Frau, auf die das zutrifft, zählen die Jahre doppelt und dreifach. Wilhelm mischte sich in Familienangelegenheiten niemals ein, er kümmerte sich nur um die Wirtschaft.

So blieb die Sorge um die Ihren Marie Heinrich überlassen.

Wieder hatte Marie mit der Mutter eine ernste Besprechung. Sie hatte zu der Unterredung Wilhelm zugezogen.

„Es sind ernste Dinge um uns, Mutter“, sagte sie, „so geht es mit Karl nicht weiter. Es muß anders werden!“

Wilhelm senkte den Kopf und schwieg.

Die Mutter jammerte:

„Ich hab’ ja den Karl schon so oft gebeten — er folgt mir doch nicht — was soll ich denn tun? Ich kann ihn doch nicht halten. Er ist jung und stark, ich bin alt und schwach.“

Marie sagte: „So muß ihn jemand anders regieren!“

„Wer denn?“

„Ich! Aber dazu brauche ich Vollmacht. Und die Vollmacht mußt du mir geben, Mutter!“

Wilhelm erhob sich. Er war aufgeregt, seine Augen starrten ein wenig, und er sagte:

„Es sind Familienangelegenheiten — ich will —“

„Nein, Wilhelm, ich bitte dich, daß du bleibst; du bist unser bester Freund, wir brauchen deinen Rat.“

„Was denn für Vollmacht?“ fragte die Mutter.

„Die Vollmacht, daß ich über alles Geld und Gut in deinem Namen verfügen kann. Wenn ich diese Vollmacht habe, dann habe ich auch Macht über Karl. Dann werd’ ich ihn kurzhalten. Hab’ ich recht, Wilhelm?“

„Es ist Sache der Frau!“

„Darf es so weitergehen, Wilhelm?

„Nein!“

„Nun, wenn dir das, was ich vorschlage, nicht gefällt, willst du uns nicht etwas Besseres raten?“

Wilhelm zuckte schweigend die Achseln.

„Glaubst du, Wilhelm, ich könnte eine solche Vollmacht mißbrauchen, könnte mir selber mehr zustekken, als mir zukäme?“

„Du würdest für dich weniger nehmen als für die anderen.“

„Nun, warum bist du nicht für meinen Vorschlag?“

„Es geht mich nichts an“, sagte Wilhelm dumpf; „es ist Sache der Frau!“

Er ging davon. Die Mutter starrte vor sich hin.

„Karl ist der Älteste! Was wird er sagen, wenn ich dir alles übergebe?“

„Es ist gleich, was er sagt. Hauptsache ist, daß bei uns Ordnung wird.“

„Ich kann nicht! Ich will auch nicht!“ sagte die Mutter.

„Nun, dann mag alles Gott befohlen sein. Aber dann laß mich in Frieden ziehen, Mutter! Es ist ja ohne mich gegangen, als ich auf der Schule war. Ich will mir etwas suchen draußen in der Welt.“

„Du willst fort?“ jammerte die Mutter.

„Ja“, sagte Marie düster; „ich will nicht untätig und machtlos zusehen, wie Karl über den Hof Not und Schande bringt.“

Am Abend desselben Tages versprach die Mutter zu tun, was Marie wünschte. —

Am nächsten Sonntag, bald nach dem Mittagessen, war die ganze Familie in der großen Stube versammelt. Wilhelm war nicht zugegen, man hatte vergebens nach ihm gesucht.

Da sagte die Mutter: „Ich habe was Ernstes zu sagen. Ich bin alt, ich kann nicht mehr alles übersehen; ich übergeb’ die Führung des Haushaltes Marie.“

„Was soll das heißen?“ fragte Karl, der Älteste.

„Das soll heißen“, sagte die Mutter mit viel festerer Stimme als sonst, „daß überall, wo bis jetzt ich befohlen hab’, nun die Marie zu sagen hat.“

„Und das Geld?“ lauerte Karl; „bekommt sie auch das Geld?“

„Ja, sie bekommt alles Geld; wer etwas braucht, muß sich an sie wenden.“

Feuerrot wurde der Bursche. In jäher Wut schlug er auf den Tisch und schrie:

„Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich bin der Älteste, ich bin zwei Jahre älter als sie; ich werd’ mich von einer solchen Gans doch nicht kommandieren lassen.“

„Was willst du denn tun, wenn’s nun doch mal so ist?“ fragte Marie ruhig.

„Ich schlag’ alles kurz und klein und dich dazu!“

Marie blieb ruhig.

„Du würdest nicht lange alles kurz und klein schlagen; denn wir würden dich vom Hofe runterbringen.“

Jetzt wurde der Bursche weiß vor Groll und Haß.

„Wer — wer würde mich vom Hofe herunterbringen?“

„Ich!“

Er lachte laut.

„Du? — Du wärst eine!“

„Nun, wenn ich’s nicht kann, dann am Ende der Gendarm.“

Darauf fand er keine Worte mehr. Er stierte sie bloß an. Die Mutter, deren Energie schon wieder im Erlöschen war und die unter der messerscharfen Auseinandersetzung litt, sagte bittend:

„Marie, gehe nicht zu weit. Die Kleinen sind da!“

„Die Kleinen sollen es miterleben. Sie müssen das schlechte Beispiel des Bruders ja alle Tage auch miterleben. Sie wissen doch, daß ihr Bruder ein Trunkenbold ist!“

Ein heiserer Laut, der junge Mann fiel über das Mädel her. Die Mutter hastete weinend zur Tür hinaus, ihr folgte Bernhard. Klaus, obgleich er Tränen der Angst in den Augen hatte, blieb zurück und schrie: „Laß sie, Karl — laß sie!“ Er hing sich an die Jacke des Bruders und wollte ihn wegzerren.

Marie Heinrich war durch den rohen Angriff des Bruders erschreckt worden, aber sie faßte sich sofort. Das starke, gesunde Mädchen wurde rasch Herrin über den verlotterten Säufer. Sie ergriff seine Hände, bog sie nach hinten über, daß ihm die Gelenke zu brechen drohten, und er mußte vor ihr in die Knie. Starr sah sie dem Keuchenden in die Augen; sekundenlang ließ sie ihn knien. Dann sagte sie:

„Nun weißt du Bescheid! Ich bin stärker als du!“

Sie ließ ihn los. Er lief mit einer wüsten Drohung aus der Stube.

*

Drei Tage später fuhr Marie mit der Mutter nach der Kreisstadt. Sie selbst lenkte den Einspänner. In der Stadt gingen die beiden Frauen zu einem Notar. Dort machte die Mutter ihr Testament und stellte ihrer Tochter Marie eine Generalvollmacht aus für die Verwaltung des Gutes. Das alles regte die alte Frau sehr auf. Marie brachte sie deshalb in ein Gasthaus, setzte sie in eine Sofaecke, bestellte Kaffee für sie und ging allein wieder nach der Stadt. Sie besuchte ein Bankhaus, machte einige kleine Besorgungen und kaufte zum Schluß eine schwere, eiserne Geldkassette, die an den Fußboden anzuschrauben ging.

Dann fuhren sie schweigend nach Hause. Lang dehnte sich der Weg zwischen Erlen und Wiesen. Schwere Gedanken waren in den Köpfen der Frauen. Endlich sagte die Mutter:

„So wäre ich also jetzt fertig mit dem Leben. Das Testament ist gemacht! Dir ist alles übergeben.“

„Reut es dich, Mutter?“

„Nein, es muß ja so sein. Du wirst es schon schaffen, Marie.“

Das Rößlein schlich langsam den Weg entlang. Marie saß neben der Mutter und kutschierte. Zwischen ihnen auf dem Fußboden stand hochgekantet die schwere Stahlkassette und beengte den Platz.

„Warum hast du den eisernen Kasten gekauft, Marie? Es hat uns noch niemals jemand bestohlen.“

„Man kann nie wissen, was kommt.“

„Ach, Marie, hast du denn etwa einen Verdacht auf Karl? Er ist liederlich und viel im Wirtshaus. Aber er ist doch kein Dieb.“

„Man kann nie wissen, was kommt“, wiederholte das Mädchen.

Sie ließ das Pferd unbeachtet und wandte sich zur Mutter.

„Wir müssen Herr werden über ihn. Die letzten Schulden, die er in unseren drei Wirtshäusern gemacht hat, habe ich bezahlt und den Wirten gesagt, daß nicht mehr ein Pfennig von uns gegeben wird. Borgen sie ihm wieder, so ist es ihr Schaden.

„Sie werden sehr böse sein auf dich.“

„Ja, sie sind böse. Aber daran schere ich mich nicht. Ich werde dem Karl drei Mark Wochenlohn geben. Er verdient noch gar nicht so viel. Die drei Mark wird er Sonnabend, wenn er sie bekommt, vertrinken; dann wird er eine Woche lang nüchtern bleiben müssen; denn es wird ihm niemand borgen, und ich werde nicht einen Pfennig mehr an ihn abgeben. Ich hab’ ihm gestern das alles gesagt.“

„Du bist zu hart gegen Karl.“

„Nein, ich bin nicht zu hart, sondern du warst zu weich. Das wird nun anders.“

Die alte Frau weinte still vor sich hin.

„Waren es denn viele Schulden?“

„Ja, es war viel.“

„Wieviel denn?“

„Das möchte ich nicht sagen. Die Schulden mußten bezahlt werden, und sie sind bezahlt.“

*

So kamen sie nach Hause. Da zeigte es sich, daß die hölzerne Truhe, in der bis jetzt im Heinrichshofe das Geld aufbewahrt wurde, erbrochen und beraubt war. In der Truhe lag ein Blatt, mit Bleistift beschrieben. Karl teilte mit, er halte es zu Hause nicht mehr aus, er lasse sich von einem Frauenzimmer, das zwei Jahre jünger sei als er, nichts sagen; er sei gegangen und habe die paar Groschen, die in der Truhe gewesen seien, als Reisegeld mitgenommen. Aber er verzichte auf nichts; er werde wiederkommen und sein Recht als Ältester fordern.

Marie entdeckte den Einbruch zuerst. Die Lade stand in einer Oberstube; niemand von den Dienstleuten hatte etwas von dem Diebstahl bemerkt. Karl hatte sich gegen Mittag entfernt; ein Dienst junge hatte ihm auf einem Schubkarren einen Koffer zum Bahnhofe fahren müssen. Marie schloß die Lade, nahm den Meißel, mit dem sie erbrochen war, und legte ihn unten in den Handwerkskasten zurück. Dann suchte sie Wilhelm auf und fragte ihn, was er über Karl wüßte. Wilhelm war auf dem Felde gewesen, als er aber von Karls Weggang erfuhr, ahnte er, daß da etwas nicht in Ordnung wäre, er ging nach dem kleinen Lokalbahnhof und erfuhr, daß Karl eine Fahrkarte nach Breslau gelöst hatte.

„Nun“, sagte Marie mit ruhigklingender Stimme, „so werden wir ihn reisen lassen müssen.“

Als sie nun aber doch der Mutter mitteilen mußte, was vorgefallen war, bedurfte es all ihrer Willenskraft, die äußere Ruhe zu bewahren.

Die Mutter lag mit Kopfkrämpfen im Bett. Marie saß bei ihr, flößte ihr Baldriantee ein, machte kühle Umschläge, saß dann wieder still da und hielt die Hand der leidenden Frau.

„War viel Geld in der Truhe?“ fragte die Mutter.

„Nein! Vorgestern war viel drin, das Kaufgeld für den Ochsen und die zwei Schweine und alles Gesparte vom Vierteljahr. Aber ich habe gestern bei den Wirten die Schulden bezahlt, und alles andere, was wir nicht brauchen, heute auf der Bank eingezahlt. Es waren knapp hundert Mark da.“

„Hast du es denn geahnt, Marie?“

„Ja!“

„O Gott — o Gott — ein Dieb!“

Das Mädchen legte die kühle Hand auf das zuckende Haupt der Mutter und bat sie, nicht mehr davon zu reden, sondern zu versuchen, ein wenig zu ruhen. Die Frau wurde stiller, die Müdigkeit machte sie still. Aber dann schlug sie die Augen auf und fragte:

„Marie, in der Truhe war auch dein goldenes Kreuz und dein Granatarmband. Hat er das auch mitgenommen?“

Das Mädchen zögerte mit der Antwort, dann sagte sie:

„Ja, das Kreuz und das Armband hat er auch mitgenommen. Aber er wird nicht viel dafür kriegen, und ich brauche keinen Schmuck. Ich fürchte, er wird bald wieder da sein.“

Die Mutter weinte lange in ihr Kissen. Dann sagte sie:

„Marie, ich hoffe, daß er bald zurückkommen wird oder Nachricht gibt. Für eine Mutter ist es schrecklich, wenn sie von einem Kinde nicht weiß, wo es ist.“

„Ja, Mutter, ich weiß es.“

Marie Heinrich

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