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Andreasabend

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Vater Seliger im Strassenwirtshaus zur „Linde“ war ein gerechter Mann. Wenn er Sonntags zur Kirche kam, tat er ein Fünfzigpfennigstück auf den Opferteller. Das war so unerhört, dass meilenweit im Umkreise nichts Ähnliches vorkam. Der geizige Fleischer Peluschke sagte, Seliger werde sich zur Ehre Gottes ruinieren; ihm selbst würde so etwas nie einfallen, in finanzieller Hinsicht dürfe man den lieben Gott nicht allzu sehr verwöhnen. Dem Briefträger, wenn er einmal den weiten Weg zu dem einsamen Gasthause machte, gab Seliger ein Gläschen zum Besten, die Hälfte mit Kornbranntwein, die andere Hälfte mit Wasser gefüllt. Seliger nannte das einen „Gestreckten“ oder „Gespritzten“. Reiner Kornbranntwein, sagte er, sei ungesund, denn er gehe auf die Nieren. Aus dieser prophylaktischen Fürsorge bewirtete er alle seine Gäste. Sein „Korn“ erfreute sich aber bei Kennern und Feinschmeckern keiner besonderen Wertschätzung. So mancher Gast spuckte ihn aus und fluchte.

Der Gasthausbetrieb ruhte an Wochentagen fast völlig. Fuhrwerk aller Art fuhr am Hause vorbei; die Kutscher und Chauffeure kehrten lieber in der „Hoffnung“ ein, im Dorfe bei der „schmutzigen Konkurrenz“, wie Vater Seliger sagte. Alle Konkurrenz auf Erden ist „schmutzig“, das hat schon jeder so im Gefühl, Vater Seliger auch. —

Unbestechlich war Vater Seliger auch. Als sich die zweiundfünfzigjährige Jungfrau Martha Lembke in ihn verliebte und ihm zum fünfundsechzigsten Geburtstage ein Sammetkäppchen mit eigener Kreuzstickerei schenkte, nahm Vater Seliger zwar das Käppchen, die Jungfrau aber nahm er nicht. So unbestechlich war er.

Es war Ende November. Früher Winter hatte die Hügel und Hänge mit glitzerndem Schnee bedeckt. Vater Seliger nutzte die günstige Konjunktur aus. Für den Sankt-Andreas-Abend, das ist der 30. November, kündigte er in den einschlägigen Zeitungen „Grosses Bleigiessen mit Tanz“ an. Die Bude war übervoll. Schlitten kamen klingelnd vor der Tür angefahren. Skifahrer erschienen in Mengen, einer kam in Harlekinstracht und zog seine Liebste auf einem Kinderschlitten; einer kam als Bär verkleidet und einer ritt auf einer Kuh. Er hatte drei Stunden gebraucht, um seine vier Kilometer zurückzulegen. Darüber mussten die Leute sehr lachen. Vater Seliger zog die Feierlichkeit in die Länge. Er erklärte, das Bleigiessen könne nur zwischen Mitternacht und ein Uhr früh stattfinden, sonst wirke der Zauber nicht.

Um Mitternacht wurden alle Lampen ausgedreht. Das war besonders den Liebespaaren sympathisch. Dann flammte auf einem Tisch in der Mitte gespenstisch eine blaue Flamme auf. Ein Spiritusapparat stand da. Vater Seliger hatte kleine Kuverts verkaufen lassen mit dem Aufdruck „Ein Blick in die Zukunft. Nur eine Mark.“ In dem Kuvert steckte ein Klümpchen Blei. Glänzendes Geschäft! Schon um zehn Uhr waren alle Schicksalsbriefe ausverkauft. Nun, Schlag zwölf, trat einer an den Tisch, legte sein Blei in einen Löffel, hielt den Löffel über die blaue Flamme, bis das Metall schmolz und schüttete es in ein mit kaltem Wasser gefülltes Gefäss. Lebhaftes Aufzischen. Sofort nahm Vater Seliger das erstarrte Blei, das die kuriosesten Formen annehmen konnte, aus dem Wasser und sagte: „Deuten Sie sich Ihr Schicksal selbst oder gehen Sie zum Medium!“

Das „Medium“ war die Frau eines Schmieds, eine als Wahrsagerin sehr geschätzte Person. Vater Seliger hatte sie um zwei Mark fünfzig und warmes, Abendbrot für die Veranstaltung engagiert.

Es gab ungeheures Gelächter, als die elektrischen Lampen wieder brannten. Jeder betrachtete das seltsame Gebilde, das aus seinem Schicksalsblei zusammengeronnen war, und alle sein Freunde und Freundinnen standen um ihn herum und deuteten. Und weil die Deutungen ganz verschieden ausfielen, war viel Gelächter. Wer würde nicht lachen, wenn ein Mädchen aus dem Schicksalsblei sich einen Brautkranz ersah, während eine Freundin behauptete, das sei nur ein Wurstringel? Oder wenn einer schrie, er fahre nach Amerika, weil er in seinem Blei ein stolzes Schiff erblickte, und ein anderer sagte, das sei kein Schiff, das sei ein Schweinetrog. Das Medium weissagte fast nur Gutes. Als aber der Harlekin mit seiner Liebsten kam, deutete das okkulte Weib das Blei des Mannes als einen Sarg und das Blei des Mädchens als eine Friedhofszypresse. Und als der Bauer Hönig mit seinem Bleiguss kam, sagte das Medium mit starrem Blick, da sei viel aufgeregtes Drum und Dran und am Ende stehe ein Galgen.

Auch darüber wurde herzhaft gelacht.

Am andern Morgen fanden Fuhrleute den Harlekin und seine Liebste tot auf der Strasse. Sie waren auf dem Heimweg im Schneesturm erfroren.

Vater Seliger zuckte die Achseln.

„Wer kann dafür? Wer zieht seine Liebste auf dem Schlitten im Schneesturm? Da war der mit der Kuh klüger; er blieb da, und wir haben die Kuh gemolken. Ach, es war ein so gemütliches Fest!“

Es waren blühende, lachende Menschen gewesen, der Harlekin und seine Liebste.

Vater Seliger schickte einen Kranz.

Wer kann dafür?

Der Bauer Hönig aber kriegte die Gelbsucht, als er die Kunde vernahm. Nicht wegen der verunglückten jungen Leute, die ihn nichts angingen, sondern wegen der Deutung, die er selbst von der hellseherischen Schmiedefrau für seinen Andreasguss empfangen hatte.

Am Ende der Galgen?

Das Geheimnis des Brunnens

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