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Schwurgericht

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Es ging um Leben und Tod.

Der Staatsanwalt plädierte auf vorsätzliche Tötung, also auf Mord. Als Unterfrage stellte er: Totschlag.

„Stellen Sie sich vor: der Angeklagte ist wahnsinnig verliebt in seine Hausangestellte, obwohl er eine schmucke, gesunde Frau und einen braven Sohn hat, der schon in der Sekunda des Gymnasiums ist. Stefan Zöllner lief der Ermordeten auf Schritt und Tritt nach, besuchte mit ihr ein Tanzvergnügen nach dem anderen, stellte sich bloss vor der ganzen Gemeinde, brachte sich und das Mädchen in übelstes Gerede. Das stumme Leiden seiner Frau störte ihn in seinen Räuschen nicht; er dachte nicht an die Ehre seines heranwachsenden Sohnes. Ebensowenig scherte sich Lore Reich um die öffentliche Meinung. Dass sie ein leichtsinniges Mädchen war, muss zugegeben werden. Aber nach den Zeugenaussagen, auch nach der Aussage ihrer unglücklichen Mutter, die sie doch schon einmal verstossen hatte, war Lore, bevor Zöllner aus dem Kriege heimkam, ein braves, unbescholtenes Mädchen. Sie wurde verführt, und ihr Verführer, der heute auf der Anklagebank sitzt, wurde ihr Mörder. Was hat dieser Mann verschuldet an seiner Frau, an diesem unglückseligen Mädchen, an deren beklagenswerter Mutter, an ihrem Bruder, der, ein vom Felde der Ehre heimgekehrter makelloser Offizier, die Schande seiner Familie nicht ertrug, der Heimat und Mutter verliess, Verzweiflung im Herzen. Er ist verschollen seit Monaten, es fand sich von ihm keine Spur mehr. Das alles hat der Angeklagte auf dem Gewissen. Nun, was ging dem Morde voraus? Obwohl, wie die Hofgenossen aussagen, Frau Zöllner der Ermordeten den abermaligen Besuch eines Tanzvergnügens streng verboten hatte, entwich Lore Reich zur Nachtzeit aus dem Hause, wahrscheinlich auf Veranlassung und mit Hilfe des Angeklagten. Nun war aber mit dem Mädchen indes eine grosse Veränderung vorgegangen. Von ihrem Brotherrn verführt, war ihr das heilige Gefühl der Frauenehre verloren gegangen. Sie fing an, auch mit anderen Männern zu flirten. Das Dorf hatte militärische Besatzung bekommen, so wie es nach Kriegsschluss ja vielfach üblich war. Die Soldaten hatten nichts zu tun, Disziplin war nicht mehr; so trieben sie eben Unfug. Die Tanzereien nahmen nicht ab, die Mädchen wurden wild gemacht; eine der tollsten war Lore Reich. Sie warf sich den Soldaten an den Hals. Einwandfrei erwiesen ist die ausgebrochene wilde Eifersucht des Angeklagten. In der Mordnacht hat er sich im Tanzraum unbändig benommen, er hat die Lore aus den Armen ihrer Tänzer gerissen, Prügeleien angefangen, hat das Mädchen beschimpft, zuletzt, als er es gar zu arg trieb, hat ihn Lore Reich, die ja sehr temperamentvoll war, ins Gesicht geschlagen und ihm zugerufen: ,Ich mag dich nicht mehr, du alter Kerl!‘ Da hat er geschrien, nun sei ihr letztes Stündlein gekommen, und hat nach seinem Eichenstock gesucht. Das Mädchen ist in Todesangst entflohen, Zöllner ist noch eine Weile festgehalten worden, dann hat er sich losgerissen. Zwei Zeugen, die ihm nachrannten, hat er an die Wand geschleudert; er ist bärenstark. Da hat man von der Verfolgung leider abgesehen, und so ist das Unglück geschehen. Erwiesen ist, dass Zöllner in jener Nacht nicht stark betrunken war; er hat die grausige Tat bei klarem Verstande vollbracht. Dass er nicht betrunken war, geht auch daraus hervor, dass er das Mädchen am Brunnen nicht bloss würgte, sondern imstande war, sie mit dem Kopfe in das heisse Wasser des Brunnens solange zu halten, bis sie tot war. Im allgemeinen dauert es drei Minuten, ehe ein Ertrinkender oder Erhängter tot ist. Lore Reich war feingliedrig, aber doch ein kerniges Mädchen; sie hat sich natürlich mit allen Kräften gewehrt. Das haben die Spuren am Brunnen noch erwiesen. Die Fussspuren des Angeklagten am Tatort sind einwandfrei nachgewiesen, sie waren ganz frisch. Im Garten hat man seinen Hut, sein zerrissenes Halstuch gefunden. Der Angeklagte ist der Ermordeten vom Gasthaus aus nicht auf der Strasse diretzt nachgelaufen, sondern hat einen for genannten Schriemweg, also einen Abkürzungspfad, eingeschlagen. Bei eiligem Laufen ist er dem Mädchen zuvorgekommen. Vor der Tür, die zum Wege nach dem Brunnen führt, hat er sein Opfer erwartet. Er ist ihr durch den Garten nachgeeilt und hat sein Verbrechen vollbracht. Ein klipp und klarer Beweis sind die frischen Fussspuren, ist das abgerissene Halstuch, der Hut, die man bei dem Brunnen fand. Zwei Zeugen, Hönig und Geissler, haben eidlich bekundet, dass sie auf ihrem Heimwege beobachtet haben, wie Zöllner hinter Lore Reich her war. Dass der Angeklagte in dieser Tanznacht anfangs fast ganz nüchtern war, ist erwiesen. Freilich ist er von zwei Hofangestellten erst gegen einhalb sechs Uhr vor seiner Haustür schwer betrunken vorgefunden worden. Neben ihm standen zwei leere Rumflaschen. Den Rum hatte er schon vor seinem Aufbruch aus dem Wirtshause gekauft und in seine Manteltaschen gesteckt. Wahrscheinlich hat er sich erst Mut angetrunken und nach seiner Scheusalstat in erwachendem Gewissensschreck zu der Flasche seine Zuflucht genommen und sich zunächst nicht ins Haus gewagt.“

Damit, sagte der Staatsanwalt, sei der Indizienbeweis geschlossen, und er stellte seine schweren Anträge. — Der Verteidiger sprach sehr schwach. Seine Bemühungen, die Argumente des Anklägers zu erschüttern oder abzuschwächen, scheiterten.

Der Angeklagte sagte als Schlusswort: „Ich habe Lore Reich nicht umgebracht. Prügeln habe ich sie wollen, weil sie sich an die Soldaten wegwarf, und deswegen bin ich vornweg gelaufen. Aber sie ist flinker gewesen als ich. Sie kam nicht. Mein Ärger war so gross, dass ich zur Flasche griff und mich betrank. Weiter weiss ich nichts. Wenn ich verurteilt werde, bitte ich, nicht auf Zuchthaus zu erkennen, das wäre furchtbarer für mich als die Hinrichtung. Den Tod fürchte ich nicht. Der ist ein guter Bekannter von mir aus dem Felde.“ —

Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück. Der Gerichtsdiener verschloss hinter ihnen die Tür. Drinnen im Beratungszimmer hatte er Bier, Selter, belegte Brote, Zigarren und Zigaretten aufgestellt. Das war ein Nebengeschäft von ihm. Die Geschworenen frühstückten erst, während der arme Teufel und seine Richter draussen auf ihren Spruch warteten; dann wählten sie, wie die Tage vorher, den Rittergutsbesitzer Guntram zu ihrem Obmann. Guntram lehnte diese Wahl schroff ab. Er war der einzige der zwölf Geschworenen, der seine Stimme für Nichtschuldig abgab.

Stefan Zöllner wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust verurteilt.

Im Zeugenraum sass todblass Frau Anna Zöllner. Sie hatte Zeugnis abgelegt für ihren Mann, er sei dieser Tat nicht fähig, aber sie war nicht vereidet worden.

Als das Urteil gefällt war, rief Stefan Zöllner mit lauter Stimme:

„Anna, du allein hast die Wahrheit bezeugt. Ich habe diese Tat nicht begangen. Verzeihe mir, was ich dir angetan habe!“

Dann liess er sich geduldig abführen, ohne auf die Frau, die verzweifelt die Hände nach ihm ausstreckte, auch nur noch einen Blick zu richten.

Das Geheimnis des Brunnens

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