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Die Vereinsamten

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Nun waren es zehn Tage nach der Verurteilung. Die Gutsfrau Anna Zöllner sass am Tische. Sie trug ein schwarzes Kleid. Nie wieder wollte sie sich bunt kleiden. Auf der Wandbank lag ihr Sohn Karl. Ganz still lag er mit offenen, glasigen Augen, wie einer, der eben gestorben ist. Vom Gymnasium war er weggelaufen.

Die Frau hielt einen Brief in der Hand. Er hatte weder Über- noch Unterschrift.

„Sie haben mich nicht zum Tode verurteilt, wie ich es mir gewünscht habe. Zwölf Jahre wollen sie mich einsperren; aber ich werde in nicht langer Zeit vom Tode begnadigt werden. Dann denket daran, dass ich wieder frei bin. Dieses ist das allereinzige Mal, dass ich euch schreibe. Ich habe euch nichts zu schreiben. Rechnet mich zu den Toten. Wie schade, dass die eine Kugel im Felde nur meinen linken Arm traf. Eine halbe Spanne weiter nach rechts hin hätte sie gehen müssen, ins Herz; dann wäre uns dieses alles erspart geblieben. Eine Bitte habe ich noch: das Gut sollt ihr nicht verkaufen. Zwar werdet ihr es schwer haben, denn die ganze Gesellschaft ist gegen mich. Wie sie sich gedrückt haben im Zuhörerraum! Verkauft das Gut nicht! Seit Jahrhunderten sitzen die Zöllner dort, lauter geachtete Leute. Und nun ein Zöllner ins Zuchthaus kam, muss das durchgehalten werden. Karl soll den Namen wieder zu Ehren bringen. Er soll ja auf der Schule bleiben, damit er klug wird und Ansehen gewinnt.

Dieses ist mein Testament.

Ich küsse Dir, liebe Anna, Deine fleissigen Hände und Deine verweinten Augen. Ob ich noch beten kann, weiss ich nicht. Die Vorsehung hätte die Kugel etwas weiter nach rechts leiten sollen. Wenn ich aber noch einmal zu Gott finden sollte, dann werde ich mit ihm von nichts reden als von meinem treuen Weibe, von meinem braven Sohne und von meiner lieben Wirtschaft.

Lebt wohl! Schreibt nicht an mich. Die Toten soll man nicht stören. Und ihr müsst immer denken, dass ich gestorben sei.“

Das war der Brief. Gestern war er angekommen. Seitdem hatten Mutter und Sohn kaum etwas gesprochen und nichts mehr gegessen. —

Müde ging der Nachtwind ums Haus. Der Kettenhund winselte draussen. Da erhob sich Karl. Er war ein schöner, starker Knabe von siebzehn Jahren. Die Mutter rührte sich nicht. Sie wusste, dass er nun hinausging, den Hund loszulassen. Der Junge konnte kein Tier leiden sehen.

Was bellte der Hund plötzlich so laut? Das war nicht Freude über die Befreiung.

Der Knabe kam zurück.

„Mutter, weisst du, wer der Verbrecher ist?“

Sie sah ihn starr an.

„Unser Nachbar Hönig.“

„Hat der Hund auf ihn gebellt?“

„Er stand am Zaune und schaute auf unseren Brunnen . . . jetzt im Finstern.“

„Er hat gegen den Vater geschworen.“

„Er will mit dem Lumpen, dem Geissler, gesehen haben, wie Vater die Lore verfolgte. Er habe sich aber weiter nicht darum gekümmert, da er mit uns verfeindet sei.“

Wieder schlug der Hofhund an, beruhigte sich aber bald.

„Der Lehrer kommt“, sagte der Junge.

„Woher weisst du das?“

„Ich habe es im Gefühl. Wollen wir ihn einlassen?“ Die Frau nickte.“

„Er meint es wohl gut mit uns. Öffne die Tür!“

Es war der alte Lehrer. Er reichte den beiden stumm die Hand. Zunächst blieb es ganz still. Schwere Beklommenheit. Dann sagte der Alte:

„Es ist . . . es ist . . . wenn Sie mich einmal brauchen sollten . . . dass Sie dann zu mir kommen oder mich rufen lassen.“

Der Junge sprang auf:

„Herr Lehrer, erst eine Frage: Halten Sie meinen Vater für schuldig?“

„Gott allein weiss die Wahrheit!“

„Wenn Sie nichts anderes zu sagen wissen, Herr Lehrer, dann ist es am besten, wenn Sie wieder gehen.“

Die Mutter wies ihn zurecht; der Junge aber blieb trotzig stehen. Da sagte der Alte milde:

„Ich will dir was sagen, du junger Ungestüm: Ihr Zöllner habt hitziges Blut. Das bringt Schaden. Wenn ich unter den Geschworenen gesessen hätte, dann hätte ich die Schuldfrage ebenso verneint, wie sie Herr von Guntram verneint hat.“

Der Junge kam in Erregung; auch die Augen der Frau öffneten sich, und ihre Hände bebten leise.

„Hat Herr von Guntram wirklich . . . hat er . . .“

„Er hat ,nein‘ gesagt; die andern elf leider alle ,ja‘. Ich weiss es von ihm selbst.“

„Das segne ihm Gott!“

Jetzt erst wurde der Lehrer eingeladen, sich zu setzen.

„Ich komme hauptsächlich wegen Karl. Er ist vom Gymnasium fort. Soll es dann mit dem Studieren aus sein?“

Der Junge zuckte nicht. Weinend reichte die Frau den Brief ihres Mannes über den Tisch. Der Lehrer las ihn in tiefer Erschütterung.

„Ja“, seufzte er, „das ist schwer!“

Dann war tiefes Schweigen in der Stube, Totenschweigen um gestorbenes Glück. Müde ging die alte Wanduhr. Zur Stunde, in der Zöllner verurteilt wurde, war sie stehen geblieben. Das hatte eine Magd berichtet.

„Sie soll stehen bleiben“, hatte da der Junge gesagt, „stehen bleiben, bis der Vater gerechtfertigt ist. Sie soll immer dieselbe Stunde zeigen, in der das elende Urteil gefällt wurde, damit wir nicht einen Tag darauf vergessen.“

Aber um Mitternacht war die Mutter aufgestanden und hatte die Uhr aufgezogen. Der Junge war ihr nachgeschlichen, und fast wäre ein Unglück geschehen, als sie ihn so jäh gewahrte.

„Warum tust du das, Mutter? Willst du es vergessen?“

„Ich werde es nie vergessen. Aber die Uhr muss gehen. Seit vielen Jahren bin ich an ihr Ticken aus der Nachbarstube her gewöhnt. Wenn sie nicht geht, ist es mir, als sei Vaters Herz stehen geblieben.“

„Die Uhr soll gehen“, sagte der Junge. Und die Uhr schlug Mitternacht. —

Nun sassen die drei Bedrückten zusammen und hörten, wie die Uhr die Minuten ihrer Einsamkeit zählte.

„Frau Zöllner“, hub der Lehrer tröstend an, „dieser Brief ist der Ausfluss tiefster Verzweiflung am Anfang der schweren Zeit. Aber es wird stiller werden in dem Armen. Er wird es überstehen, wie er den Krieg überstanden hat. Er sagt, das sei sein Testament. Wir wollen nicht glauben, dass es so werden wird. Aber, was er da anordnet, muss heilig erfüllt werden. Sie dürfen das Gut nicht verkaufen. Und Karl muss zum Gymnasium zurück.“

„Ich kann nicht . . . ich kann nicht . . . die anderen . . . wie die mich ansehen . . . ich kann nicht!“

Der Junge legte den Kopf auf die Tischkante. Die starke Jünglingsgestalt zuckte.

„Ich kann nicht . . . ich kann nicht!“

„Sollst ja gar nicht, Karl, sollst ja nicht ins alte Gymnasium zurück. Ich habe einen einzigen Sohn, der Studienrat in Westfalen ist. Der wird’s schon machen, dass du dort aufgenommen wirst. Dort weiss kein Mensch was von unserem Unglück.“

Das richtete den Jungen auf, und er sagte, er wolle den Willen seines Vaters erfüllen, auf der Schule bleiben und fleissig sein.

„Freilich“, sagte der Lehrer, „es wird teurer werden. wegen des Reisegeldes und umständlicher. Karl, wirst halt nur zweimal im Jahre nach Hause kommen können, einmal zu den grossen Ferien und einmal zu Weihnachten.“

„Ich werd’ mich fügen“, sagte der Junge.

„Und ich werd’ mir alles absparen, dass er auch zu Ostern kommen kann“, sagte die Mutter.

„Alles wegen so einer Dirne, wie die Lore war“, heulte der Junge auf, „und wegen dem Teufel, dem Hönig!“

„Karl, von der Toten soll man nichts Übles reden, und Lores Mutter hat schwer zu tragen, sie ist arm, hat beide Kinder verloren. Lore ist tot, der Sohn in der Fremde.“

„Weiss sie denn nichts von ihm?“ fragte Frau Zöllner.

„Er ist in Brasilien, verkriecht sich in den Urwald. Niemand würde ihn finden, denn er führt einen fremden Namen. Wie sollte auch so ein armes Weib die Mittel aufbringen, den Sohn zu suchen? Vor drei Tagen ist ein Brief aus Rio de Janeiro angekommen. Es hat aber gleich darin gestanden, man solle ihn nicht in Rio suchen; er habe den Brief bloss mit Gelegenheit dahin gesandt. In dem Briefe hat einiges Geld gelegen, und der Sohn hat weiter nichts geschrieben, als dass er noch nicht mehr hätte ersparen können, dass er an die Mutter mit Liebe, an die Lore aber mit Abscheu zurückdenke.“

„Der hatte Ehrgefühl, der ertrug die Schande nicht“, flüsterte Karl. „Ich möchte auch fort; ich möchte mich auch im Urwalde verkriechen.“

„Karl“, verwies ihn die Mutter, „uns drückt keine Schande. Mich bringt niemand vom Zöllnerhofe herunter als der Tod.“

Im Ohre des alten Lehrers klang es plötzlich wie ein Geisterraunen: „Oder die Schwere der Zeit treibt dich fort!“

Der Lehrer machte sich auf den Heimweg. Er ging langsam, schritt tief in Gedanken dahin. Auf einmal schrak er zusammen; er hatte dicht hinter sich einen Schritt gehört.

„Ah, der Herr Lehrer! Sie waren auf dem Zöllnerhofe; ich sah Sie hineingehen.“

„Sie — Hönig? Gehen wohl ins Gasthaus?“

„In die ,Hoffnung‘ im Niederdorfe. Nun, wenn man den ganzen Tag gearbeitet hat, schmeckt am Abend ein Glas Bier. Das verdient man sich schon.“

„Ja, ja“, sagte der Lehrer. „Haben mich also in den Zöllnerhof hineingehen sehen?“

„Wenn man so Wand an Wand sitzt, sieht man manches, auch manches, das man gar nicht sehen will. In der letzten Zeit war da vielzuviel zu sehen.“

Der Lehrer gab keine Antwort.

„Vielzuviel zu sehen. Eklig war der Prozess. Das ganze Dorf ist in Verruf gekommen. In allen Zeitungen hat es gross und breit gestanden. Auch mein Name hat dringestanden, als Zeuge. Ich pfeif darauf, so in der Zeitung zu stehen. Wenn ich im Kreisblatt oder in der ,Landwirtschaftlichen Rundschau‘ einen Staatsbullen inseriere, da fühl‘ ich mich geehrt und gehoben, wenn mein Name darunter steht, aber so — Zeuge im Mordprozess — pfui Teufel!“

Wieder antwortete der Lehrer nicht. Der Bauer lachte auf.

„Als Hauptbelastungszeuge — haha! Was soll man denn machen? Hebst drei Finger auf und dann — heraus mit der dicken Luft! Oder kommst selbst ins Zuchthaus! Haha, soll ich mich meineidig machen? Den Zöllner schonen, den Schlund, mit dem ich an die zwanzig Jahre verfeindet bin? Wagt etwa jemand zu sagen, dass ich meineidig bin? He, wagt das jemand?“

„Das sagt ja niemand“, murmelte der Lehrer.

„Wollt’ ich auch jedem abraten! Aber grimmig abraten! Reden wir von was anderem. Sie waren also auf dem Zöllnerhofe?“

„Interessiert Sie das?“

„Na, viel Gäste werden die nicht mehr kriegen. Die Dienstleute machen sich fort.“

„Die besten bleiben.“

„Zwei oder drei, die anderen gehen.“

„Schlimm genug für die arme Frau!“

Sie schritten eine Weile weiter. Da sagte Hönig:

„Ich werd’ Ihnen mal was sagen, Herr Lehrer: am besten wäre es, die Frau verkaufte. Sie kann’s doch nicht machen; sie kommt doch unter die Räder. Zwölf Jahre! Wie soll sie’s denn allein machen?“

„Wollen etwa Sie den Zöllnerhof kaufen?“

„Wer spricht von mir? Wo hätt’ ich für das grosse Anwesen das Geld her? Nee, nee! Verkaufen — und sich scheiden lassen von dem Liederian, der jetzt im Zuchthause sitzt. Das kann sie doch, das ist doch ein Scheidungsgrund — Zuchthaus — Ehrverlust — das ist ein Scheidungsgrund!“

Der alte Lehrer blieb plötzlich stehen. Er blitzte den Begleiter durch die Gläser seiner Brille an.

„Herr Hönig, Ihre Wünsche werden sich nicht erfüllen.“

„Was denn für Wünsche? Was meinen Sie denn?

Was habe ich denn gesagt?“

Er wiederholte die drei Fragen immer wieder. Der Lehrer antwortete nicht. Sie kamen bald an die Tür des Schulhauses.

„Gute Nacht!“ sagte der Lehrer, ohne seinem Begleiter die Hand zu geben, und verschwand im Hause.

„Was meinen Sie denn? Was ist denn los?“ rief ihm Hönig nach. Als keine Antwort kam, ging Hönig zwanzig Schritte weiter. Dann blieb er stehen, stampfte mit dem Fusse auf und murrte:

„Verdammt! Ein ungewaschenes Schwatzmaul bin ich. Und den Alten nehm’ ich aufs Korn. Der ist gefährlich.“

Er stampfte zornig weiter.

Hundert Meter hinter ihm ging ein kräftiger, junger Mann. Er hatte eine Büchse an der Schulter hängen und war in der Tracht der Grenzjäger.

Das Geheimnis des Brunnens

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