Читать книгу Unter dem Himmel von Notre-Dame - Penelope Williamson - Страница 4
PROLOG
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Seit zwanzig Jahren besaß Simon Prion einen Pfandleiherladen neben dem Palais Royal. Diese Gegend war sehr belebt, und nichts Unmenschliches war Simon Prion fremd geblieben. Was auch immer seine Kunden ihm brachten – ein Diamantenhalsband der Großmutter, einen Degen des Vaters, die silbernen Schnallen der im Vorjahr gekauften Schuhe –, es lief alles aufs gleiche hinaus: Sie verpfändeten ihre letzte Hoffnung, das letzte Stück eines zerbrochenen Traums.
Nicht so diese Frau ... Sie kam Simon anders vor.
Seit mehr als einer Stunde beobachtete er sie jetzt. Sein Geschäft befand sich in der neuen Galerie de Valois, rechts neben dem Palast, den sich ursprünglich Kardinal Richelieu hatte erbauen lassen. Eingangstür und Schaufenster blickten auf den Park hinaus. An sonnigen Tagen herrschte in dem rückwärtig gelegenen Park und den umgebenden Arkaden des Palais Royal ein überaus geschäftiges Treiben. Bettler und Balladenerzähler, Herzöge und Flickschuster – irgendwann kamen sie alle her. Denn das Palais Royal war das Zentrum von Paris, und Paris war das Zentrum der Welt, und hier verpfändeten sie ihre Träume.
Heute war es anders. Heute war der Himmel schmutziggrau. Der Wind blies feucht und kalt und zauste die letzten welken Blätter an den Ästen der Kastanienbäume. Manchmal rüttelte er an dem Geschäftsschild über dem Eingang – den drei goldenen Kugeln der Pfandleiher; dann knarrte das Schild. Es war zwar erst November, doch die Ränder der Pfützen auf den gepflasterten Straßen und sandigen Wegen hatten eine Eiskruste.
Der Park war menschenleer, nur die junge Frau ging auf der anderen Straßenseite hin und her. Ab und zu blieb sie stehen und blickte zu ihm hinüber, und Simon dachte, daß sie nun endlich kommen würde. Statt dessen setzte sie ihre unruhige Wanderung fort. Es fiel ihr schwer, sich von den Träumen zu trennen, die sie nun endgültig aufgeben mußte.
Von Neugierde getrieben, trat Simon an das vollgestellte Schaufenster, von wo er sie besser beobachten konnte. Sie war groß und schlank, und in dem weiten, schwarzen Cape wirkte sie zart und zerbrechlich. Das war nicht die Tochter eines Kaufmanns aus der Provinz, auch kein Bauernmädchen. Ihre gemessene Art, sich zu bewegen, und die stolze Haltung ihres Kopfes entsprachen der guten Erziehung, wie sie in Familien mit alter Tradition vermittelt wurde. Der Schnitt ihres weiten Mantels, ihre selbstbewußten, zielstrebigen Bewegungen – die Frau war zweifellos in Paris zur Welt gekommen und aufgewachsen.
Ihr Gesicht war blaß und glatt, ohne Pockennarben. Sie hatte klare, kräftige Züge, ein ausgeprägtes Kinn, eine breite Stirn und dunkle, kräftige Brauen. Während Prion die Frau beobachtete, fuhr ihr der Wind unter die Kapuze; eine Haarsträhne löste sich und fiel ihr auf die Wange. Das Haar war flammend rot.
Plötzlich blieb die junge Frau stehen, drehte sich um und blickte zum Laden herüber.
Simon stolperte vom Fenster zurück und hätte beinahe eine orientalische Vase von ihrem Podest gestoßen, deren Preis er mit zwanzig Livres angesetzt hatte. Sein Gesicht glühte. Er konnte sich gut vorstellen, wie er aussah – ein älterer Mann, beleibt und mit halb kahlem Kopf, der dabei ertappt wurde, wie er hinter dem Fenster eine hübsche Frau beobachtete.
Prion holte tief Luft. Sie kam auf seinen Laden zu.
Doch im letzten Augenblick bog sie nach links zum Tor des Palais ab. Simon hatte sich in den dunklen hinteren Teil seines Ladens zurückgezogen und sah der Frau nach, als sie an seinem Schaufenster vorbeiging und verschwand. Sie hatte sich also doch nicht überwinden können, sein Geschäft zu betreten, was ihn schmerzlich enttäuschte.
Ohne nachzudenken zog der Pfandleiher seinen Arbeitskittel aus und griff sich von einem Wandhaken eine Jacke. Sein linker Arm steckte im Ärmel und mit dem rechten tastete er nach der Türklinke, als die Tür aufgestoßen wurde und ihm hart auf die Nase knallte.
»Oh, entschuldigen Sie bitte!«
Simon nahm verschwommen eine schwarze Gestalt wahr. Vor Schmerz kamen ihm die Tränen, und er mußte blinzeln, um wieder klar zu sehen. Vor ihm stand die junge Frau.
»Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich habe nicht achtgegeben, wohin ich ...«
Er tastete nach seiner schmerzenden Nase und bemerkte dabei, daß sein Arm in einer geschmacklosen grellbunten Jacke steckte.
»Ich wollte soeben ausgehen, um ...«
Er versuchte, seinen stämmigen Körper in die Jacke zu zwängen, und mußte feststellen, daß er in der Eile einen Überrock erwischt hatte, der um mindestens zwei Nummern zu klein für ihn war.
»Das heißt, ich muß nicht unbedingt sofort ausgehen ...«
Er verstummte und stand mit schmerzender Nase und der halb angezogenen häßlichen Jacke vor ihr und wurde knallrot.
Aber sie sah ihn nicht an, sondern blickte sich im Laden um. »Wo ist Monsieur Prion?« fragte sie schließlich.
»Ich bin Prion. Aber wieso kennen Sie meinen Namen?«
Jetzt wandte sich die junge Frau zu ihm um. Prion blickte in ihre faszinierenden, dunkelblauen Augen. Sie war zwar noch sehr jung, aber in ihren Augen lagen Weisheit und schmerzliche Erfahrungen, wie bei jemandem, der um Jahre älter war.
Die Frau lächelte. Sie hatte ein entzückendes Lächeln, wenn es auch ein wenig gespannt wirkte, als hätte sie lange nicht gelächelt. »Über Ihrer Tür hängt ein Schild. Darauf steht: Inhaber Simon Prion.«
Prion lachte unsicher. »Natürlich, wie dumm ...« Er sprach undeutlich und wurde wieder rot. Er wußte, daß er sich dumm und unbeholfen benahm, und normalerweise konnte er es nicht ausstehen, wenn ihn jemand in Verlegenheit brachte. Doch heute ärgerte er sich nicht; die junge Frau machte ihn neugierig.
Prion schlüpfte aus der lächerlichen Jacke und warf sie in eine Ecke. Danach verbeugte er sich galant. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mademoiselle?«
Die Frau sah ihn unverwandt an. »Ich habe etwas zu versetzen ...«
Sie sprach nicht weiter, aber Simon sagte seinerseits auch nichts. Er hoffte, daß sie nicht ihr Cape versetzen wollte. Dafür könnte er ihr keinen guten Preis zahlen. Nicht nur, daß er ohnehin zu viele Mäntel und Capes hatte, aber der Winter fing erst an, und es war bereits kalt. Sie würde ihr Cape brauchen.
»Sagen Sie mir, Monsieur Prion«, begann sie. Im Unterschied zu ihren weise blickenden Augen klang ihre leise Stimme kindlich. »Kommen viele Ihrer Kunden zurück, um die Dinge, die sie versetzten, wieder auszulösen?«
»Aber natürlich!« log er. »Das passiert häufig. Sie wollen doch Ihren, nun den Gegenstand, nicht tatsächlich verkaufen, sondern ihn nur als Pfand für ein seinem Wert entsprechendes Darlehen hergeben.« Seinem halben Wert, fügte Prion insgeheim hinzu. Nicht zu reden von den Zinsen natürlich.
Die Frau holte tief Luft, als träfe sie eine Entscheidung. Dann schob sie mit einer ungeduldigen Geste die Kapuze vom Kopf. Die kräftigen, langen Haare fielen ihr über den Rücken und reichten beinahe bis zu ihrer Taille. Prion kannte Haare von solcher Farbe nur vom Hörensagen – Tizianrot war die schwärmerische Bezeichnung für Haare mit diesem rotgoldenen Schimmer.
Die Frau zog einen großen Ring vom Mittelfinger ihrer linken Hand. Ihre Finger waren von der Kälte ein wenig geschwollen, und der Ring blieb am Fingerknöchel stecken. Schließlich hielt sie den Ring in der Hand und schob ihn Prion ungeduldig zu, so als könnte sie das Schmuckstück nicht schnell genug loswerden.
Prion nahm den Ring und trat hinter den Ladentisch, wo er ihn im flackernden Licht eines silbernen Armleuchters betrachtete. Er klemmte ein Vergrößerungsglas ins Auge.
»Er ist aus Gold«, erklärte die junge Frau leise.
Simon brummte.
»Und die Steine sind echt. Ein Saphir und Rubine.«
Prion seufzte.
Es handelte sich um ein altes Schmuckstück, zumindest hundertfünfzig Jahre alt, vielleicht auch zweihundert. Ein zweikarätiger Saphir saß auf halbkarätigen Rubinen in einer zarten Goldfassung. Eine neue Gravur auf der Innenseite des Ringes lautete: Für G. In Liebe M. Wer war M? Ihr Liebhaber? Ihr Ehemann? Vielleicht war der Ring Teil eines Familienschmucks und war von der Mutter an die Tochter vererbt worden. Vielleicht hatte sie ihn gestohlen oder in glücklicheren Tagen, da sie mehr Geld gehabt hatte, bei einem Pfandleiher gekauft. Prion seufzte; er würde es nie erfahren.
»Wieviel geben Sie mir dafür?« fragte die Frau.
Simon sah auf. Zu seiner Überraschung war das Gesicht der Frau nicht traurig, sondern hart. Schön und jung, aber hart.
»Fünfzehn Louisdor, mit zwanzig Prozent Zinsen«, antwortete er.
Sie streckte die Hand nach dem Ring aus, aber Prion schloß seine Faust um das Schmuckstück. »Anderswo würden Sie nur zehn dafür bekommen.«
»Aber er ist doppelt soviel wert!«
»Sein ideeller Wert vielleicht. Das Gold ist von minderer Qualität, und der Saphir ist nicht lupenrein. Selbst als Antiquität beläuft sich sein Wert auf höchstens zwanzig Louisdor. Im allgemeinen erfolgt eine Beleihung mit fünfzig Prozent des Wertes.«
Sie wich seinem Blick aus. Sie weiß es, dachte er. Sie hat schon öfter etwas versetzt.
»Ich gebe Ihnen fünfzehn Louis dafür. Jeder andere würde Ihnen nur zehn geben«, wiederholte er gutwillig und tat, als würde er an ihre Naivität glauben, denn er wollte daran glauben. »Wenn Sie den Ring nicht wieder auslösen können, sehe ich mich gezwungen, ihn zu verkaufen. Auch wir Pfandleiher müssen leben. Wir müssen Gewinn machen, auch wenn er noch so klein ist. Ich habe eine Frau und Kinder zu ernähren«, fügte er hinzu. Auch das war eine Lüge.
Die junge Frau zog die Brauen hoch. »Warum sind Sie dann mir gegenüber so großzügig?«
»Weil ...« Er zuckte lächelnd die Achseln. »Weil Sie jung und hübsch sind.«
Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, aber sie zog die Hand vom Ladenpult zurück. »Wie lange behalten Sie den Ring für mich?«
»Sechs Monate.«
Sie lächelte kurz und gezwungen. »Sechs Monate ist eine lange Zeit, Monsieur. Sie sind wirklich sehr großzügig.«
Simon Prion hob die Schultern und wurde wieder rot. Was sollte er ihr sagen? Daß sie ihn an seine Tochter erinnerte, auch wenn er nie eine Tochter gehabt und nie geheiratet hatte? Daß er für sie gesorgt hätte und daß sie nie ihre zerbrochenen Träume verpfänden müßte, wäre sie tatsächlich seine Tochter?
Aber da sie nicht seine Tochter war, zog er eine zerbeulte eiserne Kassette hervor, schloß sie auf und zählte fünfzehn Louisdor auf den Tisch. Die junge Frau trat näher, und Prion sah auf. Eine Falte ihres Capes blieb an der Ecke des Pultes hängen, und der schwere Umhang klaffte vorne auf. Simon sah die Frau erschrocken an.
Unter ihren steifen schwarzen Röcken wölbte sich ihr hochschwangerer Bauch.
Ein eisiger Windstoß trieb Regentropfen durch die dürren Kastanienblätter im Park des Palais Royal. Gabrielle de Vauclair de Nevers wickelte sich fest in ihren weiten wollenen Umhang und stemmte sich gegen den Wind. Ihr Rücken schmerzte, aber sie beachtete das dumpfe Pochen kaum.
Der Geldbeutel, den sie trug, war schwer. Seit Wochen war er leer gewesen, aber jetzt hatte sie fünfzehn Louisdor. Wenn sie sparsam lebte, würde das Geld lange reichen. Es mußte lange reichen.
Sie dachte nicht darüber nach, was sie getan hatte, um die fünfzehn Louis zu bekommen, und zerbrach sich auch nicht den Kopf darüber, was sie tun würde, sobald das Geld einmal verbraucht war. Sie besaß nichts mehr, das sie versetzen konnte. Sie bildete sich auch nicht ein, daß sie den Ring in sechs Monaten würde auslösen können. Der Ring war für immer dahin. Geradeso wie der Mann, der ihr den Ring geschenkt hatte.
Sie überquerte die weite Place du Carrousel. Der Wind zerrte an ihren Röcken und blies ihr Staub in die Augen. Bald würde der Regen den Straßenstaub in dunklen, klebrigen Schlamm verwandeln.
Der Wind trug Gabrielle den Duft von frischen, heißen Crêpes zu, und ihr Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Seit zwei Tagen hatte sie nichts gegessen. Sie zögerte kurz, aber dann bemerkte sie, daß der Crêpes-Verkäufer seine Bude wegen des Wetters dichtmachte, und sie ging weiter.
Gabrielle schritt an der Seine entlang zum Pont Neuf. Unter ihr rauschte dunkel der Fluß. Unter den steinernen Brückenbogen flackerten die Feuer der Bettler und Obdachlosen.
Auf der Brücke war wenig Verkehr. Die Quacksalber und Zahnzieher hatten vor dem Regen Zuflucht gesucht. Die meisten Läden und Buden waren mangels Kundschaft bereits geschlossen; sogar die Schießbuden hatten geschlossen. Gabrielle war beinahe am anderen Ufer angekommen, als hinter ihr eisenbeschlagene Räder über das Kopfsteinpflaster ratterten. Unwillkürlich drückte sie sich zur Seite, um nicht von der vorbeirollenden Kutsche mit Schlamm bespritzt zu werden.
Sie drehte sich um. Eine schwere schwarze Berline, gezogen von vier dunklen Pferden, rollte langsam näher. Gabrielle zuckte ängstlich zusammen.
Närrin, schalt sie sich. In Paris gab es hundert solcher Kutschen.
Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte. Neben ihr schien der Wagen sein Tempo zu verlangsamen. Die Männer auf dem Kutschbock trugen schwarz-goldene Livreen. Zögernd, wie von unsichtbaren Zügeln gelenkt, wandte Gabrielle den Kopf.
Eine lange, schlaffe Hand schob den ledernen Vorhang am Fenster der Kutsche zur Seite. Gabrielle blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen und blickte unbeweglich in die dunklen vorstehenden Augen, die durch die dicken Brillengläser noch größer wirkten. Auf einer Wange des blassen Gesichts prangte eine frische Narbe. Der Mann blinzelte; dann erkannte er sie und lächelte triumphierend.
Gabrielle lief los.
»Gabrielle!« schrie der Mann in der Kutsche. »Warten Sie! Ich möchte nur mit Ihnen reden!«
Gabrielle lief schneller. Hinter ihr wurde geschrien, Pferdegeschirr klirrte, und die Hufe der Tiere klapperten über das Pflaster. Von Angst getrieben, flog sie förmlich über den Quai und tauchte im Viertel der Fleischer in den schmalen Straßen, Gäßchen und Hinterhöfen unter.
Ihr runder Bauch machte ihre Bewegungen schwerfällig, und mehrmals wäre sie beinahe hingefallen. Es regnete jetzt stärker, aber der Wind hatte nachgelassen, da sie nicht mehr so nahe am Fluß war. Sie drückte sich in einen dunklen, engen Durchgang, und es würgte sie im Hals, weil es hier so stank. Sie trat auf etwas Schlüpfriges und redete sich zur eigenen Beruhigung ein, daß es nur irgendwelche Eingeweide seien, die ein Metzger vor die Tür geworfen hatte.
Am Ende des Durchgangs führte eine Treppe nach unten zur tiefer gelegenen Straße. Gabrielle hielt inne; ihr Atem ging rasselnd. Die steinernen Stufen waren rutschig vom Regen.
»Hierher!« rief jemand. Schritte waren zu hören. Für die schwere Berline waren die Straßen hier zwar zu schmal, aber ihr Widersacher hatte seine Lakaien nach ihr ausgeschickt.
In Panik rannte Gabrielle die Treppe hinunter.
Sie glitt aus. Mit einem unterdrückten Schrei suchte sie verzweifelt mit den Fingern an den steinernen Stufen nach Halt. Ihre Fingernägel brachen, und die Arme schmerzten, aber sie fand ihr Gleichgewicht wieder und stolperte weiter in die ungewisse, dunkle Tiefe.
Die Treppe endete im Hof einer Poststation. Zwischen drei Schweinen bahnte sich Gabrielle einen Weg, wich einem Dunghaufen aus und huschte durch die Hintertür eines Ladens, in dem es stechend scharf nach Wein roch.
Rasch eilte sie an übereinandergetürmten Fässern und aufgestapelten Flaschen vorbei und schlüpfte durch die Vordertür wieder ins Freie. Niemand hatte sie gesehen.
Nach Atem ringend, lehnte sie sich gegen die Wand. Der Lärm ihrer Verfolger war verklungen. Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Seite, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Gabrielle schloß für einen Augenblick die Augen und kämpfte gegen ihre Benommenheit.
Louvois. Sie sagte in Gedanken den verhaßten Namen.
Er wolle nur mit ihr reden, hatte er gesagt, aber er log. Sie preßte die Hände auf ihren Leib mit dem Kind. Gabrielle wußte, was er ihr antun würde, wenn er sie zu fassen bekäme, ihr und ihrem Kind.
So schnell würde sie nicht aufgeben.
Suchend sah sie sich um. Aus dem Inneren einer Druckerei auf der anderen Straßenseite kam flackernder Lichtschein. Wasser sprudelte in den Rinnstein, und über ihrem Kopf knarrten die Laternen, die von den zwischen den Dächern der Mietshäuser gespannten Drähten und Seilen hingen. Obwohl es bereits später Nachmittag war und es allmählich dunkel wurde, brannten nur wenige Kerzen.
Sie wußte, wo sie sich befand. Erschöpft lief sie zwei Straßenecken weiter und bog in die Rue de la Huchette ein. Die Lakaien in ihren schmucken schwarz-goldenen Uniformen würden es nicht wagen, ihr hierher zu folgen.
Dunkle Gestalten huschten zwischen den Torbogen und Pfeilern hin und her. Gabrielle umklammerte ihre Geldbörse noch fester und zog das Cape enger zusammen; aber das geschah eher aus Vorsicht denn aus Angst. Vor fünf Monaten, in ihrem alten Leben, hätten ihr die Diebe, Beutelschneider und Banditen in diesen engen Gäßchen panisches Entsetzen eingejagt. Jetzt war sie eine von ihnen.
Der strömende Regen schoß zusammen mit den Abwässern durch den Rinnstein zum Abfluß, der sich allmählich verstopfte. Große, stinkende Pfützen mit Schmutzwasser bildeten sich. An der Ecke der Rue Saint-Jacques hatte ein einfallsreicher junger Mann eine kleine rollende Behelfsbrücke aufgestellt.
»Nur zwei Sous, und Ihre Füße bleiben trocken!« rief er.
Er sah Gabrielle, zog seinen triefenden Dreispitz vom Kopf und verbeugte sich grinsend. »Für Sie, meine Süße, macht es einen Kuß.«
Gabrielle ignorierte ihn und stieg gleichgültig in das gurgelnde Schmutzwasser.
»Hochnäsige Schlampe!« rief der junge Mann ihr nach. »Ich hoffe, Sie ertrinken!«
Bei der Kirche Saint Séverin blieb Gabrielle stehen und drückte sich unter einen Torbogen, um dem strömenden Regen zu entkommen. Ihr wollener Umhang war vollkommen durchnäßt, und sie fror.
Mit klammen, blutenden Fingern tastete sie unter ihre Röcke und riß ein Stück Stoff aus dem Unterrock, in das sie die Münzen wickelte; nur zwei beließ sie in der Börse. Das Päckchen verbarg sie unter dem Brusttuch im Mieder zwischen den Brüsten. Sie mußte unwillkürlich lächeln. Noch vor einem Jahr hatte sie sich über ihre zierlichen Formen beklagt. Jetzt kamen sie ihr sehr zugute.
Als Martin sie an jenem Abend zum ersten Mal nackt gesehen hatte, hatte er behauptet, ihre Brüste hätten genau die richtige Größe. Staunend hatte er sie berührt und gestreichelt und ...
Nein, dachte sie, ich kann jetzt nicht daran denken. Vielleicht später, wenn ich mehr Kraft habe und in Sicherheit bin, aber nicht jetzt ...
Der stechende Schmerz in der Seite war verschwunden, aber ihr Rücken schmerzte schlimmer denn je. Vielleicht drückte das Baby gegen ihre Wirbelsäule. Ihr Bauch fühlte sich riesig an; seine Größe widersprach allen Naturgesetzen. Über ihr begannen die Glocken zur Vesper zu läuten. Gabrielle lehnte sich gegen die Kirchentür und schloß die Augen. Aber es war zu kalt und zu naß, und sie hätte sich viel lieber hingelegt.
Knarrend öffnete sich die Kirchentür, und ein alter, buckliger Priester trat heraus. Als er sie sah, blieb er stehen.
»Fehlt Ihnen etwas, mein Kind?« fragte er freundlich.
»Nein, Vater.«
»Es ist kalt. An einem solchen Abend sollten Sie zu Hause vor dem Feuer sitzen.«
»Es geht schon, Vater«, antwortete Gabrielle und zwang sich zu einem Lächeln.
Der Priester nickte, hob die Hand zum Segen und ging zittrig die flache Treppe hinunter.
Es wird schon gehen, wiederholte sich Gabrielle und klammerte sich an die Worte wie an einen Talisman.
Das Schild über dem Gasthaus zeigte einen Schmortopf über dem Feuer, und darunter stand ZUR KUPFERPFANNE. Früher einmal war der Topf vergoldet gewesen, doch die Farbe war längst abgeblättert, und der Topf war schmutzig braun. Das Schild hing an einer rostigen Kette und knarrte im Wind.
Gabrielle stieß die Tür auf, und eine kleine Glocke über dem Türstock verkündete mit falscher Fröhlichkeit ihre Ankunft.
Madame Falour war ohne große Begeisterung damit beschäftigt, im Schankraum die Gläser notdürftig zu polieren. Jetzt watschelte sie in den Vorraum. Sie war groß und üppig, aber bereits schwammig. Ihr Gesicht war voll von Pockennarben, und sie trug eine altmodische Perücke aus Roßhaar, die für ihren großen Kopf zu klein war.
Sie stemmte die Hände auf ihre ausladenden Hüften und sah Gabrielle böse an. »So, so! Wenn das nicht die feine Madame Nasehoch ist! Sie sind also zurückgekommen? Ich habe gedacht, Sie hätten sich aus dem Staub gemacht.«
Gabrielle traten die Tränen in die Augen. Sie begriff nicht, warum Madame Falour so gehässig war. Seit ein paar Monaten wohnte sie schon hier und hatte kaum mit der alten Frau gesprochen. Bisher hatte es sie einfach nicht interessiert, aber jetzt ... Das kommt nur davon, weil ich müde bin, dachte Gabrielle. Schrecklich müde.
»Ich habe Ihnen doch heute früh gesagt, daß ich zurückkomme.« Gabrielle zwang sich, laut zu sprechen.
Die alte Frau zog die Nase hoch. »Und ich habe Ihnen gesagt, Madame«, sie betonte die Anrede, als hielte sie sie für unverdient, »daß Sie entweder mit Barem kommen, oder ich werfe Sie zur Tür hinaus, schwanger oder nicht. Ich betreibe hier ein Gasthaus und kein Armenhaus.«
Gabrielle öffnete die Börse.
Als Madame Falour das sah, beugte sie den massigen Oberkörper vor. »Sie schulden mir Miete für drei Wochen! Vierzig Livres.« Fordernd streckte sie Gabrielle ihre schmutzige Hand entgegen.
Gabrielle zog einen Louisdor aus der Börse und legte ihn der alten Frau auf die Hand.
Beim Anblick der Goldmünze glitzerten die Augen von Madame, aber sie zog die Hand nicht zurück. »Sie schulden mir mehr.«
Gabrielle seufzte und gab vor zu zögern. Dann nahm sie das zweite Goldstück heraus und reichte es der alten Frau. Als sie den Geldbeutel wieder zuzog, ließ sie die alte Frau wie unabsichtlich sehen, daß die Börse leer war.
»Damit ist meine Rechnung beglichen.«
Madame brummte.
»Noch etwas«, fügte Gabrielle hinzu.
»Nun, also ...«
»Ja.« Gabrielle starrte die alte Frau so lange an, bis diese verlegen den Blick senkte. »Ich möchte heiße Suppe auf mein Zimmer.«
Madame Falour blieb der Mund offen stehen. Dieses junge Ding wagte es, wie eine Herzogin Befehle zu erteilen, und rauschte einfach davon, als hätte sie mit ihren zwei Louisdor das ganze Haus gekauft!
»Wenn Sie heiße Suppe wollen, Madame Hochwohlgeboren«, schrie sie Gabrielle nach, die bereits die Treppe nach oben stieg, »dann können Sie sie selbst holen!«
Gabrielle antwortete nicht. Sie blieb nicht einmal stehen.
Ihr Zimmer befand sich fünf Treppen höher unter dem schrägen Mansardendach. In der Ecke neben dem winzigen Fenster war die Decke so niedrig, daß Gabrielle dort nicht einmal aufrecht stehen konnte. Während der ersten Monate hatte sich Gabrielle ständig eine Beule geholt. Jetzt zog sie rechtzeitig den Kopf ein.
Das Zimmer hatte keinen eigenen Kamin, aber durch die Ritzen im Fußboden stieg Wärme aus dem darunterliegenden Zimmer auf. Schon bald war Gabrielle warm genug geworden, um das tropfnasse Cape auszuziehen. Sie hängte es über die Lehne des einzigen Stuhls im Zimmer und entzündete den Stummel der Talgkerze im Wandleuchter.
Gabrielle krümmte den Rücken, um die schmerzhafte Steifigkeit loszuwerden, aber der dumpfe Schmerz blieb. Stöhnend legte sie sich auf das schmale, unebene Bett. Ihr monströser Bauch stand ihr wie ein Berg vor Augen; sie fand ihn einfach unglaublich.
Gabrielle schwitzte, und der Schmerz im Rücken war stärker geworden. Sie holte tief Luft, während sich ihre Bauchmuskeln zusammenkrampften. Sekunden später war der Krampf verschwunden und ebenso der Schmerz. Gabrielle seufzte laut auf vor Erleichterung. Plötzlich begriff sie, was das bedeutete.
O mein Gott, dachte sie. Nicht jetzt ... schreckliche Angst überkam sie. Mehr Angst als vorhin, als Louvois’ Lakaien sie durch die Straßen gejagt und beinahe eingeholt hatten.
Sie biß sich auf die Lippen und unterdrückte einen Schrei, als sich ihr Bauch neuerlich zusammenkrampfte. Sie hatte dieses Kind gewollt, Martins Kind. Sie hatte alles für dieses Kind aufs Spiel gesetzt. Aber jetzt, Gott möge ihr beistehen, sie hatte solche Angst!
Sie wollte nicht sterben.
Eine Stunde später kletterte Madame Falour mit einer dampfenden Suppenschüssel mühsam die fünf Treppen zu Gabrielles Zimmer hinauf und murmelte etwas vor sich hin, über hochnäsige Frauenzimmer, die sich wie Herzoginnen benahmen und sich als angeblich verwitwete Madame bezeichneten. Man mußte schon eine besonders leichtgläubige Seele sein, wenn man eine solche Geschichte glaubte! Wenn das Kind, das sie trug, kein Bastard war, dann ...
Madame stellte das Tablett im Flur auf dem Boden ab und wollte soeben mit ihrem dicken Finger an der Tür kratzen, als sie die unterdrückten Schreie und das heftige Atmen einer von Wehen geplagten Frau hörte.
Madame Falour hielt unentschlossen inne. Sie sollte nach der Hebamme schicken, aber sie dachte an die leere Geldbörse. Wenn das verdammte Dämchen starb, würde die Hebamme die Rechnung ihr präsentieren. Vielleicht sollte sie sich selbst um die Frau kümmern? Doch diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Falls Madame Nasehoch starb, und sie war in die Sache verwickelt, würde sie es mit der Gendarmerie zu tun bekommen. Man würde ihr alle möglichen bohrenden Fragen stellen, so wie vergangenes Jahr, als man auf ihrem Abfallhaufen die zerstückelte Leiche des Kerzenmachers gefunden hatte.
Nein, die dort drinnen sollte allein mit der Geschichte fertig werden. Hätte Madame Hochwohlgeboren nicht von der verbotenen Frucht genascht, wäre sie gar nicht in diese unglückliche Lage gekommen. So war es doch, oder nicht?
Die alte Frau wollte schon wieder die Treppe nach unten steigen, kehrte aber noch einmal um und nahm das Tablett mit. Das gute Essen sollte nicht verderben, das wäre nicht recht.
Hinter der Tür erklang ein erstickter Schrei.
»Martin! Ach, mein Gott, Martin! Hilf mir!«
Madame Falour schniefte und schüttelte den Kopf. »Er wird dir jetzt nicht helfen, mein Kind. Niemand wird dir jetzt helfen.«
So geschah es, daß Gabrielle de Vauclair de Nevers ihr Kind allein zur Welt brachte. Sie zitterte vor Erschöpfung und weinte vor Schmerz und Freude, als sie den blutverschmierten winzigen Körper an die Brust drückte.
Mit dem aufdämmernden Tag hatte der Regen aufgehört, und die Sonne stieg über den Horizont. Ihr Sohn war erst ein paar Minuten alt. In drei Tagen würde Gabrielle de Vauclair de Nevers siebzehn Jahre alt werden.