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KAPITEL 4

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Gabrielle träumte, daß es regnete. Sie wollten im Bois de Boulogne ein Picknick machen, sie und ihre Mutter. Als sie am Morgen in der Kutsche losgefahren waren, hatte die Sonne geschienen, und Gabrielle trug ihren neuen Hut, den Strohhut mit der großen rosafarbenen Seidenschleife. Dann schoben sich dicke, schwarze Wolken vor die Sonne, und schwere Regentropfen fielen, trommelten auf die Blätter der Bäume und drückten das Gras flach.

»Du lieber Himmel, wir werden klatschnaß!« rief ihre Mutter. Sie nahm Gabrielle bei der Hand, und sie begannen zu laufen.

Doch dann bemerkte Gabrielle, daß sie Dominiques Hand festhielt. Er lachte sie an. »Mama, wir werden naß!«

Es hagelte. Hagelkörner, so groß wie Eicheln, fielen knatternd zu Boden. Gabrielle und Dominique liefen schneller, der Wind heulte, der Hagel knatterte immer lauter, und es klang, als würde jemand Steine gegen die Fensterscheibe werfen.

»Gabrielle!«

Mit einem Ruck fuhr Gabrielle im Bett hoch. Immer noch prasselten Kieselsteine an die Fensterscheibe, und eine Männerstimme rief ihren Namen.

»Der Teufel soll dich holen, Gabrielle, ich weiß, du bist dort oben!«

Gabrielle schlüpfte aus dem Bett und tastete sich im Dunkeln zum Fenster. Vorsichtig öffnete sie den Fensterladen und erschrak über das Quietschen der Angeln. Sie lehnte sich zum Fenster hinaus, um in den Garten sehen zu können.

Der Mann trat unter den Bäumen hervor, ein dunkler Schatten, der sich zwischen den vielen anderen Schatten bewegte. Als er den Kopf zurücklegte und hochblickte, fiel das schwache, flackernde Licht der Straßenbeleuchtung auf sein markantes Gesicht.

»Ga ...«

»Still!« zischte Gabrielle. »Um Himmels willen, was machen Sie ... es ist nach Mitternacht, Sie Narr!«

»Kommen Sie herunter!« bat er.

»Nein!«

»Kommen Sie herunter, oder ich bringe Ihnen ein Ständchen dar. Ein russisches Liebeslied. Ein lautes russisches Liebeslied, dazu wird laut geklatscht und mit den Füßen getrampelt.«

»Das würden Sie nicht wagen!«

Er begann zu singen.

»Du lieber Himmel, nein! Ich komme hinunter!«

Gabrielle trat vom Fenster zurück, stolperte über die Truhe am Fußende des Bettes und schlug sich die Zehe an. Sie unterdrückte einen Schrei, ließ sich auf die Truhe fallen und massierte den schmerzenden Fuß.

»Bei der Geduld des armen Job!« Agnes setzte sich im Bett auf und fuhr sich mit der Hand durch die strähnigen Haare. »Wieso bist du um diese Zeit wach und rumorst wie verrückt im Zimmer herum?«

»Er ist hier!« preßte Gabrielle zwischen den vor Schmerz zusammengepreßten Zähnen hervor. »Der Verrückte.«

»Wer? Hier? Warum?«

»Um mich zu quälen, warum sonst?«

»Ah!«

Gabrielle ließ ihren Fuß los und drehte sich um. Sie versuchte, Agnes’ Gesicht im Dunkeln zu erkennen. »Was soll das heißen?«

»Was soll was heißen?«

»Das Geräusch, das du gemacht hast und das zu deinem hämischen Grinsen paßt.«

»Wie kannst du mein Gesicht sehen? Es ist stockdunkel, und ich habe nichts gesagt. Ich habe bloß gegähnt.«

»So.«

»Die arme Seele«, fuhr Agnes fort. »Du siehst, was du bereits aus ihm gemacht hast. Zuerst stiehlt er Dinge und legt sie dann wieder zurück, dann wandert er mitten in der Nacht singend durch den Park. Er ist wirklich verrückt. Gib deinem Herzen einen Stoß und erlöse ihn aus seiner Pein. Du möchtest es doch selbst genauso gern.«

»Das beweist, wie wenig du verstehst«, zischte Gabrielle.

Dominique bewegte sich im Schlaf und murmelte etwas. Agnes stand auf und tappte zu seinem Bettchen.

»Psst, mein Kleiner.« Sie nahm den Jungen in die Arme und trug ihn in das große Bett. »Du kannst bei Agnes schlafen, während deine Mutter ihren Geliebten trifft.«

Gabrielle wollte etwas sagen, ließ es dann aber sein. Sie schlüpfte mit bloßen Füßen in ihre Holzschuhe, holte ihren Umhang vom Haken neben der Tür und legte ihn über das Nachtgewand um die Schultern.

Im Flur hörte sie Simon hinter der geschlossenen Tür seines Zimmers schnarchen. Zum Glück ging sein Fenster nicht hinaus in den Park, sondern nach hinten in den Hof. Aber Simon schlief ohnehin immer tief und fest. Manchmal, wenn er in seinem Stuhl vor dem Feuer in der Küche eingeschlafen war, konnten weder sie noch Agnes ihn wecken und zu Bett bringen.

Als Gabrielle durch die Ladentür ins Freie trat, war der Park leer und verlassen. Er ist also gegangen, dachte sie. Doch sie war keineswegs erleichtert darüber, sondern tief enttäuscht.

»Ich habe geglaubt, Sie hätten Ihre Meinung geändert.«

Gabrielle fuhr erschrocken zusammen und stieß einen leisen Schrei aus. Sie zog den Umhang unter dem Kinn noch fester zusammen und drehte sich um. Maximilien de Saint-Just lehnte unbefangen, die Arme vor der Brust verschränkt, an der Wand. Der Hut saß ihm schief auf dem Kopf, und sein Schatten ließ den Ausdruck auf Max’ Gesicht nicht erkennen.

Die Nacht war mild; die beiden Menschen sahen einander schweigend an, und alles, was Gabrielle hörte, war das wilde Hämmern ihres Herzens und ihr keuchender Atem.

»Sie jaulten wie ein liebestoller Kater, laut genug, um ganz Paris zu wecken«, brach Gabrielle schließlich die gespannte Stille, und ihre Stimme klang dabei zorniger als beabsichtigt. Aber er sollte auf keinen Fall erraten, wie sehr seine Anwesenheit sie beunruhigte.

»Ein liebestoller Kater?« Max lachte. »Wenig schmeichelhaft.« Er trat näher, griff nach ihrer Hand und hob sie an seine Lippen.

»Guten Abend«, grüßte er.

Er hauchte einen zarten Kuß auf die Innenseite ihrer Finger, und Gabrielle empfand die Berührung seiner Lippen wie die ersten wärmenden Strahlen der Morgensonne.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie heiser.

»Gabrielle, Gabrielle!« Er sang ihren Namen. »Ich möchte Ihnen die Sterne zeigen.«

Mitternacht war längst vorüber, aber die Straßen von Paris waren keineswegs leer. Aus dem Dunkeln tauchten Mietkutschen auf, schaukelten durch den gelben Lichtkreis der Laternen und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Aus den Guinguettes, den Freiluftcafés und Tanzetablissements, die die ganze Nacht Betrieb hatten, drangen Gelächter und Geschrei der Nachtschwärmer. Irgendwo bellte ein Hund, und eine Katze jaulte ihm ihre Antwort zu.

Gabrielle klapperte in ihren Holzschuhen laut über das Pflaster. Sie zog den Umhang enger um die Schultern, da sie sich plötzlich daran erinnerte, daß sie darunter nur ein dünnes Baumwollnachthemd trug. Sie staunte über sich selbst, daß sie einem Mann, einem Fremden, in die dunkle, unbekannte Nacht gefolgt war.

Aber die Hand, die sie führte, war stark und beruhigend. Sie verstand es zwar nicht, aber sie hatte keine Angst, denn es war seine Hand.

Max führte sie in den Park der Tuilerien. Dieser Park, der früher der Garten des königlichen Palastes gewesen war, bevor die Könige von Frankreich ihre Residenz in Versailles aufgeschlagen hatten, war tagsüber ein mondäner Promenadenplatz. Kinder ließen ihre Spielzeugboote auf dem Teich fahren; im Schatten der alten Bäume glitzerten die Brunnen; unter der Statue des Kriegsgottes Mars umarmten sich die Liebespaare.

Aber nachts lag der Park dunkel und verlassen da.

Auf der Promenade, von der man die Seine überblickte, blieb Max stehen. Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und drehte ihr Gesicht etwas nach oben, so daß sie in den Himmel über dem Wasser blickte.

»Sehen Sie nur«, flüsterte er.

Gabrielle hielt den Atem an. Die Sterne! Der nachtschwarze Himmel war übersät mit funkelnden Sternen, die wie Diamanten glitzerten. Sie schienen so nahe, daß man meinen konnte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sie einzusammeln. Gabrielle hatte ihr Leben lang in Häusern in engen Straßen gewohnt, hatte nachts zwar unzählige Male nach oben geblickt und die Sterne bemerkt, aber das hatte sie noch nie gesehen, das nicht. Es war so schön, daß ihr die Tränen kamen.

»Max!« Sie lachte und umklammerte vor Aufregung seine Hände. »Das ist wunderschön, Max!«

»Es ist eine schöne Nacht zum Sterngucken, und nicht alltäglich. Die Sterne werden nicht vom Mond überstrahlt, und der Himmel ist klar und wolkenlos.«

Sein Gesicht lag im Schatten, aber Gabrielle wußte, daß er lächelte. Sie bemerkte, daß sie seine warme, rauhe Hand noch immer festhielt, ließ sie los und blickte seufzend nach oben. Der Mann und ihre Gefühle für ihn waren ihr unbegreiflich.

»Es müssen Millionen sein.« Gabrielle sprach nur, um die plötzliche Stille zwischen ihnen zu unterbrechen, da sie Angst vor dem hatte, was diese Stille verbarg.

Max trat hinter sie.

Seine Ausstrahlung wirkte auf Gabrielle wie Feuer, dem man frierend die Hände entgegenstreckt. Halte mich fest, forderte sie ihn im Geist auf, und wie als Antwort auf ihre stumme Bitte legte er seine Hände leicht um ihre Taille. Sein Atem strich über ihre Haare, als er ihr zärtlich ins Ohr flüsterte.

»Die Menschen der Antike sahen Bilder in den Sternen, die Bilder ihrer Götter, und sie gaben daher den Sternen Namen. Dieser hier ...«, Max zeigte auf einen besonders strahlenden Stern, der leicht rötlich funkelte, und Gabrielle folgte mit dem Blick seinem Finger, »diesen nannten die Babylonier Sibzianna. Es ist der Stern der Hirten und der himmlischen Herden.«

Max zeigte Gabrielle noch andere Sterne und nannte ihre Namen, die in Gabrielles Ohren wie Musik klangen. Andromeda, Delphinus, Perseus ... Der Klang seiner verführerischen Stimme betörte sie.

»Perseus«, flüsterte Gabrielle tonlos. Sie bemerkte gar nicht, daß sie sich enger in seine Arme schmiegte und ihre Schultern an seine Brust drückte. »Perseus ... wie schön.«

Max ließ eine Hand von Gabrielles Taille höher gleiten, strich ihr über den Arm und legte sie ihr auf die Schulter. Er schob ihre Haare zur Seite und entblößte ihren Nacken. Als er den Kopf neigte, um ihren weißen Hals zu küssen, erwartete Gabrielle die Berührung seiner Lippen mit angehaltenem Atem.

Aber er küßte sie nicht, sondern begann zu sprechen. Sein Atem roch angenehm nach Brandy und strich feucht über ihren Nacken, aber es war nicht das, was Gabrielle erwartet und erhofft hatte. Enttäuscht schloß sie die Augen.

»Kennen Sie nicht die Geschichte von Perseus?« fragte er. »Perseus war ein griechischer Krieger, der auszog, um die Gorgo Medusa unschädlich zu machen. Er war sehr tapfer, und es gelang ihm auch, der Gorgo das Haupt abzuschlagen. Ihr Haupthaar waren Schlangen, und sie war so häßlich, daß jeder, der sie ansah, zu Stein wurde.«

Gabrielle legte den Kopf zurück und sah Max fragend an. »Wie gelang es dann diesem Griechen, sie zu töten, ohne sie anzusehen?«

Max funkelte Gabrielle an. »Seien Sie doch nicht so schrecklich praktisch. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat. Vermutlich hat ihm eine Frau dabei geholfen.« Gabrielle rümpfte die Nase, und Max drückte verspielt ihre Schulter. »Unterbrechen Sie nicht meine Geschichte!«

Gabrielle schmiegte sich wieder in seine Arme, legte den Kopf an seine Schulter und blickte hinauf zu den Sternen, die Max das Sternbild des griechischen Helden Perseus genannt hatte. »Was geschah, nachdem er die Frau mit den Schlangenhaaren getötet hatte?«

»Er nahm das Medusenhaupt als Beute mit nach Hause. Unterwegs stieß er auf eine wunderschöne Frau, die an einer Meeresküste an einen Felsen gekettet war. Sie sollte einem bösen Seeungeheuer als Opfer dargebracht werden, um es zu beruhigen. Die Frau hieß Andromeda, und Perseus verliebte sich sofort unsterblich in sie. Mit seinem Schwert durchtrennte er die Ketten und verwandelte das Seeungeheuer zu Stein, indem er ihm das Medusenhaupt zeigte. Er bot Andromeda entweder die Freiheit oder seine Liebe an, aber nur eines davon, nicht beides.«

Gabrielle traten die Tränen in die Augen, und der Kloß im Hals ließ sie kaum schlucken. Zornig löste sie sich aus Max’ Armen und trat an die Steinmauer, die die Uferpromenade begrenzte. Der sternenübersäte Himmel spiegelte sich im ruhigen Wasser der Seine.

Gabrielle vernahm seine Schritte auf dem Kies hinter ihr.

Sie drehte sich um. »Warum konnte sie nicht beides haben?«

Max legte ihr die Hände auf die Schultern. »Beides war nicht möglich, vielleicht auch nicht notwendig.«

»Für welche Möglichkeit hat sie sich entschieden?«

Gabrielle hatte die Lippen zornig aufeinander gepreßt. Max zog die Konturen ihres Mundes sanft mit dem Finger nach, bis Gabrielle zitternd den Mund öffnete. »Für die Liebe natürlich. Gab es da je einen Zweifel?«

Gabrielle wandte den Blick ab. »Es ist keine wahre Geschichte, nur eine Sage.«

»Aber die Griechen haben sie geglaubt«, antwortete Max leise. »Perseus und Andromeda und ihre Liebe leben in den Sternen für immer weiter.«

Max streichelte ihren Hals, spielte mit ihren Haaren und bog ihren Kopf nach hinten, um sie zu küssen.

Ihre Lippen waren kühl von der Nachtluft und wurden unter seinem Kuß warm und weich. Gabrielle legte ihm die Hände um den Nacken, zog ihn näher an sich und schmiegte sich eng an seinen Körper. Sie ergab sich seinem Kuß mit der gleichen süßen Hingabe wie am Nachmittag.

Nichts zählte, außer diesem Augenblick mit diesem Mann. Die Vergangenheit war bedeutungslos, die Zukunft ungewiß. Nur diese Nacht hatte Gewicht, die Nacht und die Sterne und die Erinnerung an seine Stimme und seine Geschichte von einer sagenumwobenen Liebe.

Doch der Augenblick währte nicht ewig. Max löste sich von ihr und ließ ihre Haare los. Auch Gabrielle ließ ihn los und trat einen Schritt zurück, so daß sie einander nicht mehr berührten. Es hätte Gabrielle nicht überrascht, wenn er in diesem Augenblick wortlos gegangen wäre und sie allein im dunklen Park der Tuilerien hätte stehen lassen.

Aber er verließ sie nicht. »Suchen wir ein Café.« Das Glück, das in seiner Stimme mitschwang, war ansteckend, und Gabrielle lächelte. »Suchen wir ein gemütliches, belebtes Lokal, wo wir ein Glas trinken und unsere Lebensgeschichten erzählen können.«

Ihre Lebensgeschichten erzählten sie einander dann doch nicht. Das Gefühl, das sie füreinander empfanden, war noch so neu und so zerbrechlich, daß sie es nicht wagten, ihre dunklen Geheimnisse aufzudecken.

In dem Café in einem schmalen Gäßchen abseits der Rue de Rivoli drängte sich auch um diese Stunde noch eine lärmende Menge. Eine Gruppe von Studenten war in ein politisches Streitgespräch vertieft, und die Worte »Freiheit« und »Revolution« tönten laut durch den hohen Raum.

Max und Gabrielle bahnten sich einen Weg durch die Menge in den hinteren Teil des Cafés, wo ein kleiner Tisch aus einer Marmorplatte auf eisernen Füßen frei war. Es stand nur ein Stuhl dabei, aber Max stahl sich einen zweiten von einem Mann, der soeben auf einen Tisch gesprungen war, um mit seiner Meinung auch etwas zu dem Lärm beizutragen. Seine Äußerung erfreute sich offensichtlich keiner großen Beliebtheit, denn jemand zielte mit einer Schüssel nach seinem Kopf. Der Mann bückte sich, und das Geschoß zerschmetterte hinter ihm an der Wand. Leider war die Schüssel nicht leer, sondern mit dicker, klumpiger Suppe gefüllt gewesen. Der Tischredner heulte laut auf, als sich die heiße, fettige Brühe über ihn ergoß.

Max und Gabrielle sahen einander an und lachten.

Es war warm im Café, und Gabrielle wollte ihren Umhang ablegen, erinnerte sich jedoch gerade noch rechtzeitig, daß sie darunter nur ihr Nachthemd trug. Max beobachtete sie, und Gabrielle wurde rot, als sie begriff, daß auch er ihre unpassende Kleidung bemerkt hatte.

Ein Kellner schlurfte heran und warf Max einen unverschämten Blick zu: »Ja, mein Herr?«

»Brandy.« Max sah Gabrielle fragend an.

»Englischen Tee«, bestellte Gabrielle, worauf der Kellner verächtlich den Mund verzog und wieder davonschlurfte.

Die Studenten hatten ihr Streitgespräch im Freien fortgesetzt, und im Café war es etwas stiller geworden. Gabrielle betrachtete ihr Gegenüber. Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Maximilien de Saint-Just hatte er hart und grausam auf sie gewirkt. Auch jetzt, da Max entspannt lächelte, blieb seine Mundpartie hart. In seinen dunkelgrauen Augen stand ein Lächeln, aber es konnte die bittere Ernüchterung nicht verdrängen, die Max mit seiner spöttischen Art verbergen wollte.

Gabrielle fragte sich, wer oder was ihn so verletzt haben mochte.

»Wieso wissen Sie so viel über die Sterne?« wollte Gabrielle wissen.

»Gezwungenermaßen. Ich bin einmal zwischen Frankreich und Amerika zur See gefahren. Der Atlantische Ozean ist groß, und ein Kapitän ist gut beraten, sich nach den Sternen zu orientieren, wenn er ihn sicher überqueren will.«

»Amerika!« rief Gabrielle leise aus. »Ich wollte immer einmal Amerika sehen. Ich bin noch nie über Paris hinausgekommen, außer dem einen Mal. Damals war ich noch ein Kind, und meine Mutter fuhr mit mir in dem alten Topf nach Versailles, wo wir dem König und der Königin beim Essen zusahen.«

Gabrielle erinnerte sich noch lebhaft an diesen Tag, obwohl sie damals erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein mochte. Sie und ihre Mutter hatten sich in eine der Touristenkutschen gedrängt, die der Volksmund »Topf« nannte, vermutlich weil die vielen ungewaschenen Menschen, die darin fuhren, einen ähnlich üblen Geruch verströmten. In Versailles angekommen, waren sie in einer langen Reihe am königlichen Tisch vorbeigezogen, bei einer Tür hinein, bei der anderen wieder hinaus. Gabrielle erinnerte sich, wie der König, der damals schon fett gewesen war, das Essen so schnell in den Mund gestopft hatte, daß er kaum zum Kauen kam. Die Königin schien schrecklich unglücklich darüber zu sein, wie ein Tier im Zoo zur Schau gestellt zu werden, und sie aß überhaupt nichts. Das war das einzige Mal, daß ihre Mutter Gabrielle nach Versailles mitgenommen hatte, obwohl Marie-Rose de Servien de Vauclair – hätte sie es gewollt – als Hofdame der Königin hätte fungieren können.

Gabrielle fiel ein, daß Max sie für die Frau eines kleinen Perückenmachers hielt, die die königliche Vornehmheit sehr beeindrucken mußte. »Das muß ja eine ziemlich tolle Erfahrung gewesen sein«, stellte Max mit leichtem Spott fest.

Der Kellner tauchte wieder auf. »Englischer Tee«, sagte er abfällig und setzte die Tasse mit dem Tee mit Milch derart unsanft vor Gabrielle ab, daß der Tee überschwappte. Das Glas mit dem Brandy stellte er vorsichtig auf den Tisch, beinahe ehrfürchtig, und bewies damit einerseits seinen Patriotismus und andererseits seine Verachtung für alles Englische.

Max bezahlte und gab dem Kellner zu verstehen zu gehen. Er trank einen Schluck Brandy und verzog das Gesicht. »Du lieber Gott! Ist das Zeug gräßlich! Vermutlich wurde es hier im Keller gebrannt.«

Gabrielle lachte leise, und auch Max lächelte. Ohne den Blick von ihm zu wenden, griff Gabrielle nach dem Löffel auf der Untertasse.

Plötzlich verschwand Max’ Lächeln. Er faßte nach ihrem Handgelenk und legte ihre Hand unsanft auf den Tisch. Der Saphirring funkelte im Licht der Wandleuchten.

»Ist das der Ring, den ich gestohlen haben soll? Der kostbare Ring, den Sie von Ihrem Ehemann erhalten haben?«

Gabrielle schluckte, aber sie hielt seinem Blick stand. »Es war ein dummes Mißgeschick. Mein Sohn hat ihn genommen. Er hielt ihn für einen Stein.«

Sie erzählte Max den Hergang und versuchte, der Geschichte einen heiteren Anstrich zu geben, aber ihre Stimme zitterte vor Nervosität. Langsam entspannte sich Max wieder, und der bedrohliche Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand. Am Schluß der Geschichte konnte er sogar lachen, obwohl der Ausdruck seiner Augen Gabrielle verriet, daß er ihr immer noch nicht ganz glaubte.

Max streichelte zart ihr Handgelenk, das er vorhin so grob gepackt hatte; bei seiner Berührung geriet Gabrielles Blut in Wallung.

Ich begehre ihn aus tiefstem Herzen, dachte Gabrielle. Und wenn Begehren etwas mit Liebe zu tun hat, dann – Gott möge mir beistehen –, dann liebe ich ihn.

Max ließ ihre Hand los, und sie schwiegen.

»Erzählen Sie mir von Amerika«, bat Gabrielle schließlich.

»Amerika ist groß, wild und unwirtlich. Alles ist neu. Neu und sauber.«

»Die Wiege der Freiheit ...«

Max lächelte zynisch. »So behauptet man.«

»Sind Sie nach Amerika gesegelt, um sich an der Revolution zu beteiligen?«

»Nicht unbedingt. Ich hatte zwar Musketen geladen und mußte den englischen Kriegsschiffen ausweichen, aber ich tat es für Geld, nicht für die Freiheit.« Er grinste verwegen, und wahrscheinlich war es dieser verwegene Gesichtsausdruck, in den sich Gabrielle zuerst verliebt hatte. »Für Geld tue ich alles«, gestand Max.

Dann wurde er wieder ernst und faßte über den Tisch hinweg nach Gabrielles Hand, die bis dahin nervös mit dem Teelöffel gespielt hatte. »Sie wissen, was geschehen wird, nicht wahr, Gabrielle?«

Gabrielle schüttelte den Kopf, unfähig, ihn anzusehen, aber sie sagte: »Ja.«

»Ich begehre Sie, Liebste, und ich will Sie besitzen. Aber geben Sie sich keinen Illusionen über mich hin, denn ich bin ein Halunke und habe nicht die Absicht, mich bessern zu lassen. Ich werde Sie belügen und Sie wahrscheinlich benutzen, und letztendlich werde ich Sie bestimmt verletzen. Wenn Sie auch nur eine Spur von Verstand besitzen, dann werden Sie ...«

»Es ist mir vollkommen gleichgültig, wie Sie sind!« rief Gabrielle, und es störte sie nicht im geringsten, daß er genau wußte, was sie mittlerweile für ihn empfand. »Außerdem glaube ich nicht, daß Sie ... daß Sie tatsächlich so sind.«

Max schüttelte den Kopf und legte ihr seine Finger auf die Lippen. »Sie können nicht wissen, was ich getan habe.«

Gabrielle faßte nach seiner Hand, drehte sie um und drückte einen Kuß auf seine Handfläche. Es war eine intimere Geste als ihre Küsse vorhin. »Ich weiß, was Sie getan haben«, flüsterte sie und glaubte es auch. Denn in diesem Augenblick durchschaute und verstand sie ihn, besser als sie sich selbst verstand. »Manche Dinge muß man einfach tun, um zu überleben. Später ... später sind sie dann nicht mehr wichtig. Ich weiß es, denn wahrscheinlich habe ich selbst ähnliches getan wie Sie.«

Max lächelte skeptisch. »Das ist so gut wie unmöglich.«

Gabrielle ließ seine Hand los und griff nach der Teetasse. »Ich verdiente mir einmal Geld als Briefschreiberin auf dem Friedhof der Innocents. Mit Feder und Papier saß ich auf einem Grabstein und schrieb Liebesbriefe für die armen Kerle vom Land, die nach Paris gekommen waren, um ihr Glück zu machen, und statt dessen ihr Herz verloren hatten. Ich bekam zehn Sous für einen Brief. Ich wette, daß Sie so etwas noch nie gemacht haben.«

Max lachte. »Nein, wirklich nicht.«

Sie lachten beide herzlich und verdrängten damit die Intimität, die auf unerklärliche Weise zwischen ihnen entstanden war. Gabrielle wußte, daß das die Gelegenheit gewesen wäre, ihm die Wahrheit über sich und ihre Vergangenheit zu erzählen. Aber es war noch zu früh dafür.

Unter dem Himmel von Notre-Dame

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