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KAPITEL 3

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Jede andere Frau hätte geschrien, dachte Maximilien de Saint-Just. Jede Frau, nur nicht diese.

Gabrielle schob die Schublade mit einer raschen Bewegung zu und drehte sich um. »Du lieber Himmel! Was machen denn Sie hier?« fragte sie verärgert.

Ihre Worte überraschten ihn, und er mußte lachen. »Ich Dummkopf habe geglaubt, daß ich hier wohne«, antwortete er spöttisch.

Maximilien lehnte mit gekreuzten Beinen am Türstock, die Hände tief in den Taschen seiner engen Kniehose vergraben, und beobachtete Gabrielle aus halb geschlossenen Augen. Ihre roten Haare leuchteten im Licht der Nachmittagssonne, das durch das offene Fenster fiel, und ihre Haut schimmerte durchsichtig. Ihre dunkelblauen Augen funkelten böse.

Sie ist verdammt schön, dachte er. Aber das waren die hinterhältigen Frauen meistens.

»Wenn Sie Geld suchen, werden Sie hier nichts finden«, begann Maximilien wieder.

Gabrielle verzog verächtlich das Gesicht. »Sie sind mir der Richtige! Sie nennen mich eine Diebin, nach dem, was Sie getan haben!«

Max dachte an die vielen Untaten, die er im Laufe der Jahre begangen hatte, und überlegte, welche davon dieser seltsamen Frau zu Ohren gekommen sein mochte. Er war davon überzeugt, daß er sie vor zwei Tagen zum ersten Mal gesehen und nie zuvor mit ihr gesprochen hatte; seither allerdings geisterte sie unaufhörlich durch seine Gedanken.

Maximilien ging auf sie zu. Gabrielle erschrak, aber sie hielt seinem Blick stand. Max blieb unmittelbar vor ihr stehen. Gabrielle schob das Kinn vor und schluckte krampfhaft.

»Gabrielle.« Sein Blick verlor sich in ihren faszinierenden Augen, und Max vergaß, was er hatte sagen wollen.

Er schob seine Hand unter ihre Lockenmähne. Gabrielle zitterte, als er sie berührte. Max zeichnete mit dem Daumen die Konturen ihres Gesichts nach und schob ihren Kopf mit sanftem Druck zurück. Gabrielle wollte das Gesicht abwenden, doch als sein Mund den ihren berührte, hielt sie still.

Ihr weicher, warmer Mund öffnete sich willig unter dem zwingenden Druck seiner Lippen. Maximilien tastete mit seiner Zunge über ihre Zähne und erkundete spielerisch ihren Mund. Gabrielle gab einen kehligen Ton von sich, der Protest oder Hingabe bedeuten konnte.

Maximilien war auf ihren Zorn gefaßt gewesen, hatte Widerstand oder Angst erwartet, aber nicht das. Die Art, wie sie seinen Kuß erwiderte, weckte in ihm ein unerwartetes, tiefes Verlangen. Er wollte das Gefühl unterdrücken, und es überraschte ihn, wieviel Willenskraft es ihn kostete.

Gabrielle schmiegte sich an ihn und hielt sich an den Aufschlägen seiner Jacke fest. Sie erwiderte seinen Kuß mit wachsender Leidenschaft.

Max spürte, wie er seinem Verlangen allmählich erlag. Er wollte diese Frau besitzen, er würde sie besitzen, aber zuerst ... Ohne sich von ihr zu lösen, ließ er seine Hand über ihren Hals und ihre Schultern gleiten und strich über ihren Arm. Der Stoff ihres Kleides war vom Waschen dünn und verschlissen, und er spürte darunter ihre warme Haut; sie duftete nach Sonne und Sommerblumen. Mit seinen kräftigen Fingern umfaßte er ihr schmales Handgelenk.

Maximilien löste sich unvermittelt von ihr und riß ihre zur Faust geballte Hand hoch. »Öffnen Sie die Faust«, befahl er unter Keuchen mit gefährlich leiser Stimme.

Gabrielle schloß die Finger nur noch fester. »Nein«, widersprach sie. Ihre Lippen waren rot und feucht von seinem Kuß, aber ihr Blick blieb hart und trotzig. »Zuerst geben Sie mir den anderen, dann bekommen Sie diesen wieder.«

»Den anderen was? Wovon zum Teufel reden Sie?« Der Druck seiner Finger um ihr Handgelenk wurde fester. Gabrielle preßte den Mund vor Schmerz zusammen, doch sie gab keinen Ton von sich. Max verachtete sich, weil er ihr willentlich Schmerz zufügte.

Er lockerte seinen Griff, ließ sie jedoch nicht los.

»Öffnen Sie die Faust, oder ich breche Ihnen die Hand!« Zum ersten Mal in seinem Leben stieß er eine Drohung aus, die er bestimmt nicht in die Tat umsetzen würde. Jetzt sprach er jedoch nicht mehr im galanten Ton der Höflinge, sondern im groben Französisch der Taschendiebe und Zuhälter aus den Straßen von Paris, um die Frau zu überzeugen, daß er meinte, was er sagte.

Gabrielle ließ ihn nicht aus den Augen; sie maßen einander und versuchten, die Stärke des anderen auszuloten. Max wußte, daß sie seinem Gesichtsausdruck nichts entnehmen konnte, aber daß auch sie ihre Gefühle und Gedanken vor ihm verbarg, machte ihn wütend. Noch nie zuvor war ihm eine so willensstarke Frau begegnet.

Plötzlich überraschte sie ihn aufs neue und lächelte betörend.

»Also gut, Monsieur de Saint-Just!« Sie ahmte seinen spöttischen Ton von vorhin nach. »Nachdem Sie mich so höflich darum gebeten haben, bitte sehr.« Damit öffnete sie die Faust.

Auf ihrer Handfläche lag der Ring, den er am Morgen im Pfandleiherladen gekauft hatte. Noch mehr überraschte ihn seine Enttäuschung darüber, daß sie nur in sein Appartement gekommen war, um den Ring zu stehlen. Es war lange her, seit Maximilien de Saint-Just das letzte Mal von jemandem oder über etwas enttäuscht gewesen war. Denn man konnte nur enttäuscht über etwas sein, das einem wichtig war.

Max hatte das Spiel der kleinen Taschendiebin sofort durchschaut. In den achtundzwanzig Jahren seines Lebens war er stets auf seine Wachsamkeit angewiesen gewesen, wenn er überleben wollte. Und er wollte überleben. Sobald er bemerkt hatte, daß die üppige kleine Dirne seinen Schlüssel und nicht seine Börse geklaut hatte, war er neugierig geworden, worauf sie aus war. Er ließ sie gewähren und gab ihr oder ihrem Komplizen genügend Zeit, mit dem Schlüssel seine Wohnung zu betreten. Erst dann folgte er.

In jahrelanger Übung hatte Max gelernt, sich lautlos zu bewegen. In seiner eigenen Wohnung, wo er jedes lose Bodenbrett, jede knarrende Türangel kannte, fiel ihm das besonders leicht. In der Tür zu seinem Schlafzimmer war er stehengeblieben und hatte gewartet, während die Frau, in der er Gabrielle erkannte, seine Schubladen durchsuchte; er zögerte, bis er sicher war, daß sie gefunden hatte, was sie suchte.

Seufzend nahm er ihr den Ring aus der Hand und warf ihn auf die Marmorplatte der Kommode. Beide sahen zu, wie er über die glatte Platte rollte und neben dem Samtsäckchen liegen blieb.

»Wie oft wurde dieser Ring hier schon verkauft?« fragte er gelangweilt.

Gabrielle sah ihn verwirrt an. »Was?«

Er lachte spöttisch. »Kommen Sie, Gabrielle, das ist nicht besonders originell, wenn auch sicher gewinnbringend. Sie verkaufen den Ring und stehlen ihn wieder zurück. Immer wieder ...«

»Sie wagen es, mich einer solchen Tat zu bezichtigen! Dabei sind Sie selbst ein ... oh!« Sie schüttelte die kupferfarbenen Locken und funkelte Max zornig an. »Ich weiß, was Sie bezwecken, aber es wird Ihnen nicht gelingen!«

Er lachte. »Die hochmütige Masche ist nicht angebracht, wenn ich Ihnen die unschuldige Gabrielle glauben soll, die zu Unrecht beschuldigt wurde. Oder ist Gabrielle gar nicht Ihr richtiger Name?«

»Ich bin tatsächlich unschuldig. Aber Sie sind ein Dieb!«

Er zuckte die Achseln und deutete auf die Tür. »In diesem Fall ist es besser, wir holen die Gendarmerie ...«

»Nein!« Gabrielle packte Max verzweifelt am Arm und krallte sich an ihm fest. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wir können die Angelegenheit bestimmt auch ohne Gendarmerie regeln. Ich bin nicht hergekommen, um Sie zu bestehlen, Monsieur, das schwöre ich Ihnen. Bitte ...« Ihre Lippen zitterten, und in ihren Augen standen Tränen. Belustigt beobachtete er, wie sie sich Mühe gab, die Tränen zurückzuhalten. »Ich möchte nur zurückhaben, was mir gehört«, flüsterte sie heiser.

Ohne es zu wollen, hob Max die Hand, streichelte ihr Gesicht und zwang Gabrielle, ihn anzusehen. »Du lieber Himmel, Gabrielle ...« Er trat einen Schritt zurück und löste ihre Finger von seinem Arm. »Was soll ich haben, das Ihnen gehört?«

»Meinen Ring!«

Max runzelte die Stirn. »Aber ich habe diesen Ring bezahlt. Fünfhundert Livres. Sie wollten ihn mir einpacken, erinnern Sie sich?«

»Nicht diesen Ring, Sie Narr. Den anderen.«

»Welchen anderen?«

»Aber Sie ...«

Sie sah ihn fragend an. Ihre Augen verrieten Max, was in ihr vorging. Aus ihrer Angst und Zorn wurden Unsicherheit und Verzweiflung.

»Mein Gott, ist es möglich, daß Sie den Ring gar nicht gestohlen haben?« fragte sie mehr sich selbst als ihn. Bestürzt kaute sie an ihrer Unterlippe und sah dabei aus wie ein schmollendes Kind, was Max bezaubernd fand. »Ich glaube, es war vielleicht alles nur ein dummer Fehler, Monsieur ...« Sie wollte an ihm vorbeihuschen und den Raum verlassen.

»Nein, nein. Sie gehen jetzt nicht, meine Liebe.« Max erwischte Gabrielle am Arm, drehte sie um und warf sie auf das Bett. Er sah die Angst in ihren Augen und den pochenden Puls an ihrem Hals. Vielleicht war es auch nicht Angst, vielleicht war es ein Gefühl, an das er gar nicht denken wollte.

»Ach, zum Teufel!« sagte er schließlich laut und trat auf sie zu, mit der unbestimmten Absicht, sie in die Arme zu nehmen und diesen schmollenden Mund zu küssen. Das wäre, seiner Meinung nach, das einzig Vernünftige gewesen.

Sie verstand seinen entschlossenen Gesichtsausdruck falsch und schreckte zurück. »Bitte, Monsieur, nicht! Ich kann es Ihnen erklären.«

Max hielt inne. »Also gut ...« Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er sich gegen den Schreibtisch. »Dann erklären Sie!«

Er erwartete nicht viel Glaubhaftes an ihrer Erklärung, aber im Laufe der Jahre hatte er gelernt, daß Lügen oft ebensoviel enthüllten wie die Wahrheit, wenn nicht sogar mehr.

»Es geht mir um den Saphirring, Monsieur«, begann Gabrielle. »Sie erinnern sich an den Ring, den Sie heute vormittag so bewundert haben. Kurz nachdem Sie den Laden verlassen haben, war er verschwunden. Ich nahm selbstverständlich an ...«

»... daß ich ihn gestohlen habe.«

Auf ihren Wangen prangten zwei rote Flecken, wie mit Rouge gemalt, und sie senkte den Blick. »Ja. Es tut mir leid.«

»Ist schon in Ordnung. Man hat mich schon schwerwiegenderer Dinge beschuldigt.« Und ich habe schon viel Ärgeres getan, dachte er.

»Ich habe diesen Ring von meinem Mann bekommen«, plapperte sie weiter und versuchte verzweifelt, ihren Fehler wiedergutzumachen. Er ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen, während sie ihm eine Geschichte erzählte, die er nicht glaubte. Von einem Ehemann, der bei einem Perückenmacher in Versailles gearbeitet hatte, bevor er viel zu früh verstarb. Den Ring hatte er ihr im ersten und einzigen Jahr ihrer Ehe geschenkt.

»Nach seinem Tod war ich völlig mittellos. Wir waren verschuldet, denn er mußte standesgemäß leben. Als er dann starb und ich ein Kind erwartete ... was hätte ich tun sollen?« Gabrielle zuckte die Achseln. »Ich lieh mir von seinem Onkel, Simon Prion, Geld und gab ihm dafür den Ring. Ich hatte nie wirklich die Absicht, ihn zu verkaufen. Nur aus Stolz bestand ich darauf, daß er in der Vitrine ausgestellt wurde, bis ich ihn auslösen kann. Und jetzt ist er verschwunden ...«

Sie fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Max fiel ein, wie süß diese geschmeckt hatten. Er wollte ihr keine weiteren Fragen stellen, er wollte keine weiteren Lügen aus ihrem Mund hören. Er wollte diesen Mund küssen.

»Ihr Perückenmacher-Ehemann muß einen großzügigen Meister gehabt haben, daß er Ihnen einen solchen Ring schenken konnte.«

»Es war ein Geschenk von einem reichen Kunden bei Hof. Er hatte eine neue Perücke erfunden, die üppig aussah und nur wenig wog. Außerdem ging er sehr geschickt mit Puder um. Der Kunde wollte seine Zufriedenheit mit einem kleinen Geschenk zum Ausdruck bringen, verstehen Sie. Das passierte öfter.« Sie preßte die Hände in einer flehenden Geste zusammen, die Max mehr bewegte als ihre Worte. »Warum glauben Sie mir nicht?«

»Ich glaube Ihnen doch«, log Max. »Sie haben Ihren Fall überzeugend vorgebracht.« Er faßte sie an den Händen und zog sie vom Bett hoch. Lächelnd sah er auf sie hinunter. »Es tut mir leid, daß Sie Ihren Ring verloren haben, aber Sie hätten nicht meinen Schlüssel stehlen müssen, nur um meine Schubladen zu durchsuchen. Im Laufe der nächsten Tage ... und Nächte hätten sich ungezählte Gelegenheiten geboten ...«

Gabrielle wurde noch röter. »Ich ... ich verstehe nicht.«

Er streichelte ihre geröteten Wangen. »O doch, Sie verstehen. Sie hätten mein Zimmer nach Herzenslust durchsuchen können, nachdem wir miteinander geschlafen haben.«

Sie taumelte zurück und mußte sich am Bettpfosten festhalten, um nicht zu stürzen. Als sie bemerkte, daß sie sich am Bett festhielt, ließ sie es sofort wieder los, als hätte sie sich verbrannt. Max verbiß ein Lachen.

Gabrielle reckte den Kopf hoch und schob die Haare aus der Stirn. »Ich weiß nicht, wie Sie auf den Gedanken gekommen sind, daß ich den Wunsch hege, Ihre Geliebte zu werden ...«

Jetzt lachte Max tatsächlich. »Sie wissen verdammt gut, wieso ich auf diesen Gedanken gekommen bin. Dieser ...«

Max zog sie an sich, faßte mit der Hand in ihre Haare und bog ihr den Kopf zurück. Er küßte sie hart und leidenschaftlich. Zuerst wehrte sich Gabrielle und stemmte sich mit geballten Fäusten gegen seine Brust. Bald ergab sie sich jedoch seufzend.

Max wollte mit diesem Kuß von ihr Besitz ergreifen, zuerst von ihrem Mund, später von ihrem Körper. Aber aus der Eroberung wurde sehr bald Hingabe. Ihre wunderbaren, weichen Lippen raubten ihm den Atem.

Maximilien löste sich von ihr, schob sie auf Armeslänge von sich und schloß nach Atem ringend die Augen.

»Gabrielle ...« begann er.

Gabrielle machte blitzschnell kehrt und floh.

»Warten Sie, Gabrielle!« Max stürzte hinter ihr her und stemmte sich mit der Hand gegen die Eingangstür, noch ehe Gabrielle sie öffnen konnte. »Was ist mit morgen? Mit dem Botanischen Garten. Ich möchte Sie trotzdem wiedersehen.«

»Ich Sie nicht.«

»Doch, das wollen Sie.«

»Bitte!« Flehentlich sah sie ihn an. »Bitte, lassen Sie mich gehen.«

Max sah ihr an, daß sie genauso fühlte wie er und darüber ebenso erschrocken war wie er.

Er ließ den Arm fallen und trat zurück.

Gabrielle zog die Tür auf und lief, ohne sich umzusehen, durch den Korridor und über die Treppe hinunter. Maximilien schloß die Tür und trat an das Fenster, damit er sie sehen konnte, wenn sie in den Park lief. Ihr Kopf mit den rotgoldenen Haaren erinnerte ihn im Licht der Abendsonne an Herbstlaub, das im Wind tanzte. Er sah ihr nach, wie sie zwischen den Stühlen und Tischen des Café de Foy davoneilte und zwischen den Bänken und Bäumen des Parks verschwand.

»Aber nicht für immer«, sagte Maximilien laut in den leeren Raum hinein. »Was oder wer du auch bist, Gabrielle, du wirst in meinen Armen liegen, in meinem Bett! Meine liebste Gabrielle!«

Gabrielle lehnte am knorrigen Stamm eines Kastanienbaums und rang nach Luft, als wäre sie fünfundzwanzig Kilometer rund um die Stadtmauer gelaufen und nicht nur ein paar Meter durch den Park des Palais Royal. Mit zitternden Fingern tastete sie über ihre geschwollenen Lippen. Noch nie war sie so geküßt worden, nicht einmal in ihren Träumen.

Von den Strahlen der untergehenden Sonne geblendet, schloß sie die Augen, riß sie aber gleich wieder auf, da das Bild von Maximilien de Saint-Just vor ihren geschlossenen Augen auftauchte.

Als sie daran dachte, wie sie seinen Kuß erwidert hatte, stieg ihr brennende Röte ins Gesicht. Sie, Gabrielle de Vauclair de Nevers, die stolz auf ihre nüchterne Einstellung zum Leben war, hatte sich in einen vollkommen Fremden verliebt! Wenn es um Maximilien de Saint-Just ging, hatte sie keine Kontrolle über sich, nicht über ihren Kopf und bestimmt nicht über ihr Herz. In ihrem derzeitigen Zustand könnte er sie zu allem überreden, sie würde alles tun.

Geh ihm aus dem Weg, redete sie sich zu und stemmte sich vom Stamm des Baums weg. Entschlossen reckte sie die Schultern. Solange du ihm aus dem Weg gehst, kann dir nichts geschehen.

Aber es war bereits zu spät, das wußte sie. Eine unwiderstehliche Kraft zog sie zu Maximilien de Saint-Just hin. Sie kam sich vor wie ein auf dem Fluß treibendes Blatt, das hilflos dem Strudel entgegentanzte.

Kaum hatte Gabrielle den Laden betreten, stürzte Agnes ihr entgegen. »Hast du ihn gefunden?« flüsterte sie und warf dabei einen ängstlichen Blick zur Küche.

Gabrielle biß sich auf die Lippen. »Hat Simon ...?«

»Nein, er hat nichts bemerkt«, antwortete Agnes rasch; sie hatte Gabrielles schlimmste Befürchtung erraten. »Er trinkt in der Küche ein Glas Wein. Dominique ist bei ihm. Es gibt Fisch zum Abendessen. Beeil dich und leg den Ring zurück, bevor er es bemerkt.«

»Er war nicht ... ich habe ihn nicht gefunden«, wich Gabrielle vage aus. Kaum war sie Maximiliens faszinierender Gegenwart entronnen, bezweifelte sie seine Unschuld bereits wieder. Wenn er den Ring nicht genommen hatte, wer war es dann gewesen? Und wenn auf irgendeinem Weg ...

Louvois!

Gabrielle überlief es kalt vor Angst. Wenn Louvois den Ring sah oder davon erfuhr, könnte er sie und Dominique in Simons Laden aufspüren. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war jetzt zu groß. Sie mußten wieder verschwinden; der Gedanke war ihr unerträglich. Sie war mit Simon und Agnes so glücklich gewesen im Pfandleiherladen! Noch nie im Leben war sie so glücklich gewesen.

Nicht heute abend, dachte sie. Heute abend kann ich es nicht tun. Morgen. Wir gehen morgen.

»Was willst du damit sagen, du hast ihn nicht gefunden?« flüsterte Agnes aufgeregt. »Was willst du jetzt tun?« Gabrielle eilte in die Küche, ehe Agnes weitere Fragen stellte.

Simon hielt ein leeres Weinglas in der schlaffen Hand und war vor dem Feuer eingedöst. Sein Gesicht war vom Wein und von der heißen Sonne am Nachmittag gerötet. Gelegentlich stieß er ein leises Schnarchen aus.

Dominique stand auf einem Hocker vor dem Tisch und hantierte mit einem blutverschmierten Messer. Vor ihm lag ein blutiger Berg von Fischstücken. »Schau, Mama«, rief er und schwenkte das Messer. »Ich habe die Fische allein ausgenommen.«

Gabrielle riß ihrem Sohn das gefährliche Instrument aus der Hand, bevor er sich womöglich noch die Nase abschnitt. Von seinen bloßen Füßen bis hinauf zu den flachsblonden Locken war er mit schleimigen Fischschuppen und Blut verschmiert.

»Kind, du stinkst wie eine zwei Tage alte Makrele.«

Dominique schnupperte. »Ich rieche nichts.«

»So. Man kann dich bestimmt bis nach Versailles hinaus riechen. Der dicke alte König Ludwig schreit jetzt vermutlich seine Minister an.« Gabrielle senkte die Stimme und sprach mit einem tiefen Bariton: »Wer ist für diesen abscheulichen Gestank verantwortlich, der in meine königliche Nase steigt? Findet den Schuldigen, damit ich ihn in die Bastille werfen lasse.«

Dominique kicherte, aber sein Lachen erstarb, als seine Mutter einen schweren hölzernen Zuber in die Küche schleppte.

Vor der Hintertür, die in einen Hof hinausführte, stand eine aus einem halben Weinfaß gefertigte Regentonne, in der das Badewasser gesammelt wurde. Seit Wochen hatte es in Paris nicht mehr ausgiebig geregnet, aber in den vergangenen drei Tagen hatte Gabrielle jeweils einen oder zwei zusätzliche Eimer Wasser beim Wasserverkäufer gekauft; sie wollte sich den Luxus eines langen, wohltuenden Vollbades gönnen. Jetzt mußte sie sich damit begnügen, sich in einem Handwaschbecken zu waschen, und das kostbare Wasser für Dominique verwenden.

»Aber Mama! Ich brauche wirklich kein Bad!« protestierte Dominique.

»Ausziehen, junger Mann!« befahl Gabrielle in einem Ton, von dem Dominique wußte, daß er keinen Widerspruch duldete. Mit einem lauten Seufzer knöpfte er den Knoten in der Kordel auf, die seine Hose zusammenhielt.

Gabrielle stand wartend neben dem Faß, während Dominique sich langsam entkleidete. Schließlich war er nackt, und das Unvermeidliche duldete keinen Aufschub mehr.

Gabrielle hob ihn in das Wasserfaß, und der Junge heulte auf. »Das Wasser ist eiskalt!«

Simon brummte von seinem Stuhl neben dem Feuer her, öffnete ein Auge und schlief sogleich wieder ein.

»Du sollst nicht schimpfen!« ermahnte Gabrielle den Jungen. »Das Wasser kann gar nicht kalt sein. Das Faß stand den ganzen Tag in der Sonne.« Sie reichte dem Jungen ein Stück Laugenseife und eine Bürste. »Schrubbe dich ordentlich, sonst muß ich es für dich tun.« Dominique schnappte schnell nach der Bürste, bevor seine Mutter ihre Drohung womöglich in die Tat umsetzte.

Mit den Fingerspitzen hob Gabrielle die schmutzige Hose vom Boden auf und staunte über ihr Gewicht. Sie schüttelte die Hose, und in den Taschen klapperte etwas. »Was hast du denn in deinen Taschen? Steine?«

»Wirf sie nicht fort, Mama! Das ist meine Sammlung.«

Gabrielle lehrte den Inhalt der Taschen auf den Tisch. Runde Kiesel und andere Steine kollerten über die abgenützte Tischplatte. Just in diesem Augenblick fielen die letzten Strahlen der Abendsonne schräg durch das Fenster, und auf der Tischplatte funkelte etwas Blaues.

Gabrielle mußte lachen, und gleichzeitig stiegen ihr die Tränen in die Augen. Hastig griff sie nach Martins Saphir und drückte ihn an die Brust. Er ist unschuldig, dachte sie, und ihr Herz jubelte. Max ist unschuldig, der Ring war nie verschwunden gewesen. Wir müssen nicht wieder fliehen. Ach Gott, wie habe ich mich zum Narren gemacht! Aber das spielt keine Rolle, denn morgen kann ich alles erklären. Sie hörte förmlich Max spöttisch lachen, wenn sie ihm den Hergang der Sache erzählte. Laut lachend drehte sie sich frohlockend im Kreis.

Als sie bemerkte, daß Dominique sie mit offenem Mund über den Rand des Waschzubers hinweg beobachtete, hielt sie inne. Agnes sah Gabrielle von der Tür her ebenfalls erstaunt zu. Simon hatte sich aufgesetzt und starrte sie an.

»Gabrielle, was ...«

Gabrielle steckte den Ring an den Finger und streckte Simon ihre Hand hin. »Simon, ich habe mich entschlossen, von nun an meinen Ring zu tragen. Es ist doch dumm, wenn er in der Vitrine liegt, wo ihn jeder sehen kann, findest du nicht auch? Womöglich möchte ihn jemand kaufen. Trotzdem werde ich dir die fünfzehn Louisdor eines Tages zurückzahlen.«

»Mein liebes Kind ...« Simon strahlte sie an, und seine Augen schimmerten feucht. »Du hast den Preis für den Ring schon tausendmal verdient, einfach durch deine Anwesenheit.«

»Aber Gabrielle«, staunte Agnes, »ich habe geglaubt, du kannst ihn nicht finden ...« Gabrielle funkelte Agnes so wütend an, daß sich diese mit der Hand auf den Mund schlug und ihren Wortschwall unterbrach. »Äh ... äh«, stammelte sie nur noch.

»Aber Mama«, wehrte Dominique sich heftig. »Den kannst du doch nicht tragen! Das ist mein Lieblingsstein!«

Zu später Stunde desselben Abends studierte ein Mann namens Abel Hachette an seinem Schreibtisch in seiner Bibliothek die Marktberichte des Tages. Die Bibliothek war ihm von den dreiundzwanzig Räumen seines Hauses in einer exklusiven Gegend des Stadtteils Saint-Honoré der liebste. Der Raum war kostbar mit Goldintarsienarbeit dekoriert, und die weißen Marmorsäulen hatten bronzene Kapitelle; der gediegene Luxus brachte Abel den Kontrast zwischen seiner Herkunft und seinem jetzigen Zuhause am deutlichsten zu Bewußtsein.

Er war in der Bretagne als Kind eines Bauern in einer Grashütte zur Welt gekommen; sein Großvater war noch Leibeigener gewesen. Heute war Abel Hachette Bankier, Unternehmer und Finanzmann. Er stand einer Clique von Pariser Geschäftsleuten vor, die allesamt reich genug gewesen wären, um ohne mit der Wimper zu zucken das Königreich Frankreich zu kaufen. Die Macht und der Reichtum dieser Männer, das Geheimnis ihres Erfolges, beruhten auf ihren Informationen.

Denn Abel Hachette erhielt aus allen europäischen Hauptstädten wortgetreu Bericht über jedes Gespräch, das einigermaßen bedeutsam war.

Würde der Brotpreis in Paris nächste Woche fallen, würde Abel rechtzeitig davon erfahren, so daß er seine Getreidevorräte zurückhalten konnte, bis der Preis wieder gestiegen war. Versprachen französische Brusttücher im nächsten Monat der letzte Schrei am Londoner Hof zu werden, dann wußte er es rechtzeitig und konnte Anteile an den Spitzenklöpplereien in Lyon kaufen. Seine Rivalen beschuldigten ihn oft, im Besitz einer magischen Kristallkugel zu sein. Tatsächlich saßen seine Spione in ganz Europa und trugen ihm Informationen zu; er brauchte keine Kristallkugel.

Informationen, dachte Abel Hachette bei sich, als er im abendlichen Dämmerlicht allein hinter dem eleganten Schreibtisch in seiner prunkvollen Bibliothek saß. Informationen waren der Schlüssel zum Reichtum. Und eines Tages ... eines Tages würden sie die Grundlage für etwas noch viel Größeres werden. Informationen würden dem heimlichen Unternehmen zum Erfolg verhelfen, an dem er und die Clique in den vergangenen acht Jahren gearbeitet hatten: der Revolution.

Eines Tages, und zwar bald, würden kluge und wohlhabende Männer, die sich ihre Position erarbeitet hatten, nicht mehr untätig zusehen, wie ihr Land und ihr Leben von einem unfähigen alten Narren regiert wurde, der nur deshalb König war, weil er in die Stellung hineingeboren worden war. Eines Tages würde ein Mann aus einer Bauernkate mit dem Sprößling aus einem herrschaftlichen Palast gleichgestellt sein. Eines Tages müßte man vor Titeln und Adelsnamen keine Bücklinge mehr machen. Eines Tages ...

»Zwiebeln! Frische, junge Zwiebeln! Zwiebeln!«

Die laute Stimme eines Gemüseverkäufers übertönte den Straßenlärm, den der Abendwind zum offenen Fenster hereintrug. Hachette seufzte, legte die Zeitung beiseite und griff nach der Klingel. Dann überlegte er es sich anders, stand auf und trat ans Fenster.

Unter ihm auf der Rue Royal bahnte sich ein Strom eleganter Kutschen einen Weg durch die vielen Fußgänger auf der Zufahrtsstraße zur Place Louis XV. Wenn sich Hachette zum Fenster hinauslehnte und den Kopf reckte, konnte er die riesige neue Bronzestatue in der Mitte des Platzes sehen, die den früheren König zu Pferd darstellte. Doch sich zum Fenster hinauszulehnen war gewöhnlich und bäurisch; so etwas würde Hachette nie tun.

Den Verkehr auf der Straße unter ihm konnte er hingegen beobachten, ohne sich zu verrenken oder sich hinauszulehnen. Soeben machten die Lampenanzünder ihre Runden. In diesem vornehmen Bezirk waren vor kurzem an den Ecken aller Gebäude an Stelle der alten Kerzenlaternen Öllampen installiert worden. Die neue Beleuchtung verlieh dem Straßenzug einen modernen Anstrich, der Hachette gefiel.

Hachette holte tief Luft, dann hielt er sich ein duftendes Taschentuch an die Nase, um ein Niesen zu unterdrücken. An diesem Abend roch es unangenehm nach Ruß und Staub. Wenn man sich Paris näherte, roch man die Stadt oft lange, ehe man sie sah; an diesem Abend traf das bestimmt auch zu. Wir brauchen einen tüchtigen Regen, der den Staub aus der Luft wäscht, dachte Hachette. Ein tüchtiger Regen würde ...

Er entdeckte eine vertraute Gestalt, die von der Rue Saint-Honoré kommend um die Ecke bog; Hachette brummte zufrieden. Dem athletischen jungen Mann fielen die Haare locker auf die Schulter, als er schwungvoll zwischen den mittlerweile zum Stillstand gekommenen Kutschen und Wagen über den Platz schritt. Hachette lächelte, als der junge Mann stehenblieb und mit einer koketten Geste eine Dame in einer Sänfte grüßte.

»Da bist du endlich«, murmelte Abel Hachette und grinste breit. Mein schwarzer Engel.

Hachette schloß das Fenster, und es wurde still im Raum. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf sein Spiegelbild in den Spiegeln an der gegenüberliegenden Wand: Unter den funkelnden kristallenen Kerzenleuchtern stand ein großer, überschlanker Mann, mit blassem Gesicht, an die sechzig Jahre alt, in einem mit Goldfäden bestickten Anzug aus silbrigem Satin, auf dem Kopf eine gepuderte Perücke mit dezenter Stehfrisur. Für einen Augenblick erschreckte ihn sein Spiegelbild, als hätte ein Fremder plötzlich sein Heiligtum betreten.

Hachette zuckte die Achseln und versuchte, sich wieder zu fassen. Der Junge – verdammt, er war schließlich noch ein Junge, mit seinen noch nicht einmal dreißig Jahren – verwirrte Hachette immer. Sein schwarzer Engel. Hachette mußte sich ständig in Erinnerung rufen, daß der junge Mann für ihn arbeitete. Aber im Grunde belog sich Hachette mit dieser Einbildung, und er wußte es auch. Sein schwarzer Engel hatte bei allen Unternehmungen immer sein eigenes Ziel im Auge, und er, Hachette, zahlte bloß die Rechnungen.

Die vergoldete Uhr auf dem Kaminsims aus Lapislazuli schlug neun, und ein Lakai öffnete beide Flügel der Doppeltür.

»Du kommst spät!« Hachette wollte zur Abwechslung einmal von Anfang an seine Autorität zum Ausdruck bringen.

Maximilien de Saint-Just grinste anmaßend. »Mein lieber Abel, wann wirst du endlich lernen, dankbar zu sein, daß ich überhaupt komme?«

Ohne eine Aufforderung abzuwarten, ließ sich Max in einen vergoldeten Armstuhl fallen. Er schob die Hände in die Taschen, streckte seine langen Beine von sich und schloß die Augen.

Erst jetzt bemerkte Hachette, daß er mitten im Raum stand, und eine verlegene Röte stieg ihm ins Gesicht. Das Benehmen des Jungen, diese reservierte Geringschätzung gegenüber der übrigen Welt, ärgerte Hachette, denn es erinnerte ihn jedesmal daran, wer von ihnen als Bauernsohn und wer als Sohn des Grafen von Saint-Just zur Welt gekommen war.

Hachette räusperte sich und drückte ein Taschentuch an die Lippen. »Ich werde eine Tasse Schokolade nehmen«, begann er und seine Stimme kam ihm unsicher vor. »Möchtest du auch eine Tasse?«

Max öffnete ein Auge. »Nein, ich möchte keine Schokolade. Aber ich nehme gern ein Glas von dem Brandy, den du in den Tiefen deines Kellers versteckt hast. Von dem, den du nicht versteuert hast.«

Hachette trat zum Schreibtisch und läutete. Sofort trat ein Diener ein, der draußen vor der Tür darauf gewartet hatte, daß man ihn rief. Er erhielt den Befehl, entfernte sich sogleich wieder, und es wurde still, während Hachette hinter seinem eleganten Schreibtisch wie hinter einer sicheren Barrikade Platz nahm.

»Ich entnahm deiner Nachricht, daß du etwas Wichtiges für mich hast«, begann Hachette, als er merkte, daß der junge Mann in seinem Stuhl offenbar allmählich einschlummerte; er mußte das Gespräch selbst eröffnen. »Es hat dich anscheinend die ganze Nacht wach gehalten.«

Max lächelte mit geschlossenen Augen. »Du hast vollkommen recht, ich habe die ganze Nacht dafür gebraucht.«

Hachette bekam vor Aufregung eine Gänsehaut. Ah, mein schwarzer Engel, dachte er, was hast du diesmal für mich?

Als die verschwörerische Gruppe um Hachette begonnen hatte, sich der Mitarbeit von Agenten zu bedienen, um an die notwendigen Informationen für ihre Investitionen und Finanzierungsschachzüge zu kommen, bezeichneten sie in ihren Korrespondenzen die Spione als »Engel«, da die Schriftstücke versehentlich in falsche Hände hätten fallen können. Jetzt bediente sich niemand mehr dieser kindischen Spiele, aber für Hachette blieb der dunkle, gefährliche Maximilien de Saint-Just sein schwarzer Engel.

Der Diener kam herein und brachte eine Baccarat-Karaffe mit Brandy und ein dazu passendes Schwenkglas sowie die Schokolade in einer Tasse aus Sèvres-Porzellan.

Max erhob sich ein wenig, um das Glas in Empfang zu nehmen. Er ließ die Flüssigkeit im Glas kreisen und sog ihren Duft ein, ehe er den Inhalt mit zwei Schlucken hinuntergoß. Sobald sich die Tür hinter dem Diener geschlossen hatte, ging er zur Anrichte und füllte sein Glas nochmals aus der Karaffe.

Dann drehte er sich um und warf Hachette einen mit einem Band verknoteten Stoß Papiere zu.

»Was ist das?« fragte Hachette erregt und griff nach den Papieren.

»Lies und sieh selbst. Manches mag vielleicht unleserlich sein. Aber ich mußte viel abschreiben und hatte nur wenig Zeit.«

Hachette blinzelte durch ein Lorgnon und studierte die Papiere, während Max sich wieder setzte. Er lehnte den Kopf zurück und vertiefte sich anscheinend in die Putten und Engel des Deckenfreskos.

»Aber das ist ja unglaublich, Max!« rief Hachette. Mit den Informationen aus diesen Papieren konnte er alle Mitbewerber ausstechen, die sich gleich ihm für das einträgliche Geschäft der Versorgung der königlichen Armee mit Verpflegung und Uniformen interessierten. »Das ist einfach unglaublich. Wie, um Himmels willen, bist du an diese Papiere gekommen?«

Max schmunzelte und neigte den Kopf vor, bis er Hachette in die Augen sehen konnte. »Die Papiere, das heißt die Originale dieser Papiere, befinden sich im Besitz eines Monsieur Voltiere. Das ist der Sekretär des Kriegsministers. Du wirst sehr froh darüber sein, wenn ich dir sage, daß Monsieur Voltiere ein sehr vorsichtiger Mann ist. Die Papiere waren daher versiegelt und werden in einer versperrten Kassette im Geheimfach einer versperrten Kommode in seiner versperrten Bibliothek aufbewahrt.«

»Aber wie ...?«

Max’ Augen funkelten sarkastisch. »Was glaubst du, Abel? Monsieur Voltiere war gestern abend nicht zu Hause, dafür aber die charmante und sehr einsame Madame Voltiere.« Max zuckte die Achseln. »Siegel können gebrochen und Schlösser geöffnet werden.«

Und Frauen können verführt werden, dachte Hachette. Er hatte zwar keine Frau, aber er nahm sich trotzdem vor, niemals Dokumente, und seien sie noch so unverfänglich, in einer versperrten Schreibtischlade aufzubewahren.

»Diese Arbeit der vergangenen Nacht könnte sich als äußerst gewinnbringend herausstellen, Max«, lobte Hachette. »Ich muß dich dafür beglückwünschen ...«

Max lachte schallend. »Ich brauche deine Glückwünsche nicht, Abel. Aber vergiß nicht, mir zwanzig Prozent zu geben, falls das Geschäft realisiert wird.«

»Aber natürlich, mein Junge. Das ist doch selbstverständlich!«

Hachette sah den jungen Mann liebevoll an, während Max ihn unter müden Lidern hervor beobachtete.

»Wer also ist die Frau, du elender Zuhälter?« fragte Max plötzlich im ordinären Französisch der Ganoven und Zuhälter.

»Welche Frau? Ich weiß nicht, wen du meinst.«

»Versuch nicht, mich zu verarschen, Hachette. Ich rede von der hübschen Kleinen, die du mir geschickt hast und die in den vergangenen zwei Tagen versucht hat, mir den Kopf zu verdrehen.«

»Ich bediene mich keiner Frauen, das weißt du, Max. Frauen sind unzuverlässig.« Hachette versuchte, verletzt zu wirken. »Außerdem lasse ich meine eigenen Leute nicht bespitzeln.«

»Wenn es dir in den Kram paßt, tust du das sehr wohl. Und genauso setzt du auch Frauen ein. Wer ist sie also?«

Hachette sah Max offen an. Sein blasses, ein wenig faltiges Gesicht spiegelte Neugierde wider, vielleicht ein wenig Ärger, nicht mehr. »Ich schwöre dir, ich weiß nichts von einer Frau. Außerdem schätze ich es nicht, mein Junge, wenn man mich einen Zuhälter nennt.«

Ein gequälter Zug huschte über Maximiliens Züge. »Aber bist du das nicht, Hachette? Ein Zuhälter profitiert doch von der Arbeit seiner Hure. Was glaubst du, was ich letzte Nacht gemacht habe, um an diese Papiere zu kommen?«

»Das ist nicht das gleiche.«

»Nicht?« Max sah ihn lange an, dann zuckte er müde die Schultern. »Es spielt keine Rolle. Die Frau nennt sich Gabrielle Prion. Ich habe sie heute nachmittag dabei überrascht, wie sie meine Wohnung durchsuchte.«

Hachette wurde bleich. Er dachte an die vielen Feinde, die er sich im Laufe der Jahre in den verschiedenen Ministerien gemacht hatte. König Ludwig XVI. hatte zwar keinen annähernd so umfangreichen Spionageapparat wie sein Großvater ihn hatte, aber trotzdem ... Außerdem durfte man das politische Ziel des Geheimbundes nicht vergessen. Wenn davon etwas bekannt wurde, landeten sie alle auf dem Rad auf der Place de la Grève.

Er tastete nach den von Max vollgekritzelten Blättern. »Hat sie das zu Gesicht bekommen?«

Max schenkte Hachette nur einen verächtlichen Blick.

»Aber das ist gefährlich, Max. Vielleicht arbeitet sie für den König.«

»Das bezweifle ich. Wer sie auch sein mag, sie ist eine blutige Amateurin.«

Hachette überlegte kurz, dann zuckte er die Achseln. »Der Name ... Gabrielle Prion. Ich kenne den Namen nicht. Beschreibe sie mir.«

»Jung, ungefähr zwanzig Jahre. Blaß, auffallende rotgoldene Haare. Dunkelblaue Augen, beinahe violett.«

»Ist sie schön?«

»Atemberaubend.«

Hachette wandte den Blick ab und lachte, aber es klang unaufrichtig. »Mein lieber Junge, ich kann es kaum glauben. Hat sie dir den Kopf verdreht?«

»Du kennst sie also.« Max wollte seine Vermutung bestätigt wissen.

»Es gibt da etwas ...«

Hachette forschte in seinem Gedächtnis. Eine Information mochte noch so unbedeutend erscheinen, Hachette vergaß sie nie, für den Fall, daß sie ihm einmal von Nutzen sein könnte. Hachettes Gedächtnis war legendär, und so mancher seiner Feinde und Rivalen wußte ein Lied davon zu singen.

»Könnte sein, daß ich von ihr gehört habe«, bemerkte Hachette schließlich. »Ich glaube, der Polizeiminister von Paris hat sich einmal nach einer Frau erkundigt, auf die deine Beschreibung passen könnte; es muß drei, vielleicht vier Jahre her sein.«

»Warum?«

Wieder grübelte Hachette eine Weile. »Ich glaube, er gab keinen besonderen Grund dafür an. Aber ich gewann den Eindruck, daß sich der Minister im Auftrag eines anderen nach ihr erkundigt hatte. Für irgendeine wichtige Persönlichkeit. Du hast dich doch nicht wirklich in sie verliebt, Max, oder etwa doch?«

Max überging die Frage. »Könntest du herausfinden, warum die Polizei sich für diese Frau interessierte, Abel? Diskret, bitte.«

»Natürlich. Aber du könntest doch genau so gut ...«

Max schüttelte den Kopf und stand auf. »Wenn es sich um dieselbe Frau handelt und sie Feinde hat, will ich nicht, daß diese sie durch mich finden.«

»Und wenn es sich herausstellt, daß sie auf der anderen Seite steht?«

»Abel, bitte!« Max sprach gedehnt und grinste spöttisch. »Du kennst doch meine Talente, wenn es darum geht, das schöne Geschlecht zu verführen; es überrascht mich, daß du überhaupt fragst.«

Hachette verbarg seine Sorge hinter einem Lächeln. Er mußte sich über diese Gabrielle Prion erkundigen. Falls sie eine Bedrohung darstellte, mußte man sie ausschalten. Wenn notwendig, für immer.

Es ging um den Geheimbund, um Frankreich und um die Revolution.

Unter dem Himmel von Notre-Dame

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