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KAPITEL 2

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Agnes versetzte dem Reifen einen kleinen Stoß, und Dominique lief mit einem kleinen Stöckchen hinterher. Der Reifen schwankte, wackelte und fiel um.

»Nein, Kleiner«, lachte Agnes. »Du darfst nicht so stark zuschlagen. Nur sachte, so wie ich, schau zu.«

Gabrielle stand unter der Markise vor dem Eingang zum Pfandleiherladen und sah ihrem Sohn beim Spielen zu. Sie dachte daran, was Agnes am Vorabend gesagt hatte: Du machst vor nichts halt, ehe du nicht hast, was du willst.

Manchmal, besonders in den schrecklichen Monaten nach der Geburt, als das Geld für den Ring bereits aufgebraucht gewesen war, hatte sich Gabrielle gefragt, ob sie richtig gehandelt hatte. Nicht für sich, sondern für Dominique. Sie hatte ihren Sohn gewollt und war vor nichts zurückgeschreckt, um ihn zu behalten. Aber als Enkel des Herzogs von Nevers könnte er seidene Breeches tragen, nicht auf den Knien geflickte Hosen aus grobem Stoff. Er könnte heute nachmittag Rebhühner und Kaupaune essen und nicht das gekochte Schaffleisch, das jetzt in der Küche auf dem Herd schmorte. Er würde Monsieur Dominique sein und in einem Palast mit Dienern wohnen, die nur darauf warteten, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.

Aber sie wäre nicht bei ihm. Bei dieser Vorstellung wurde ihr klar, daß sie doch richtig gehandelt hatte.

»Schau, Mama!«

Der Reifen rollte ruhig dahin, und Dominique lief lachend daneben her, so schnell ihn seine dünnen Beine trugen. Dann stieß er aus Versehen mit dem Knie an den Reifen, so daß er klappernd zu Boden fiel. Dominique starrte auf den Reifen, und seine Unterlippe zitterte.

»Nicht weinen, Dominique«, rief Gabrielle. »Heb ihn auf und versuche es noch einmal.«

Agnes setzte den Reifen für Dominique wieder in Gang, und schon lief der Kleine wieder neben dem Reifen über die Gartenwege; Vorübergehende blieben stehen und stimmten in sein fröhliches Lachen ein.

Ein Kunde kam, um eine Schmuckschatulle aus Elfenbein auszulösen, die er einen Monat zuvor verpfändet hatte. Gabrielle trat mit ihm in das Geschäft, wo es kühl war. Simon war nicht anwesend; er spielte an diesem Nachmittag in seinem Lieblingscafé Schach.

Nachdem der Kunde gegangen war, setzte sich Gabrielle hinter den Ladentisch und vertiefte sich in ein Buch. Es handelte sich um eine fesselnde politische Satire von einem englischen Schriftsteller namens Jonathan Swift; der Held namens Gulliver war durch höchst außergewöhnliche Länder gereist.

Aber heute fesselte das Buch sie nicht wie sonst. Immer wieder tauchte das Gesicht von Maximilien de Saint-Just vor ihrem geistigen Auge auf, und beim Lesen der gedruckten Worte hörte sie Maximiliens weiche Stimme. Zwei Tage waren vergangen, seit er sie mit seinem verrückten Experiment mit brennbarer Luft beinahe in die Seine gesprengt hätte, und Gabrielle mußte ständig an ihn denken.

Sie hatte sich hundert Ausreden ausgedacht, warum sie ihn besuchen könnte, und sie alle wieder verworfen. Er hätte ihr die Geschichten nie geglaubt, und sie wollte sich auf keinen Fall lächerlich machen. Trotzdem hatte sie heute morgen ihr bestes Kleid angezogen – ein veilchenfarbenes Musselinkleid, das die Farbe ihrer Augen unterstrich – und war ohne Grund am Café de Foy vorbeispaziert, mit dem Hintergedanken, daß er vielleicht auftauchte, sie sah, stehenblieb und ein Gespräch anfing ... Wenn sie nur daran dachte, blieb ihr schon vor Aufregung die Luft weg.

Eine Schwärmerei, weiter nichts, redete sie sich ein. Es war kein Wunder – der Mann sah gut aus, war weltoffen und interessant, ohne exaltiert zu wirken. Vor Jahren hatte sie etwas Ähnliches erlebt; damals war es der Tanzlehrer gewesen, den ihre Mutter in jenem glücklichen Sommer, als Gabrielle zwölf war, angestellt hatte.

Gabrielle ertappte sich dabei, daß sie die Buchstaben MAX mit dem Fingernagel in den Buchrand ritzte. Daraufhin schlug sie das Buch unwillig zu und stand auf. Damals war sie erst zwölf gewesen, das entschuldigte vieles; diesmal hatte sie keine Entschuldigung.

Ziellos ging sie im Laden auf und ab. Das kleine Schreibpult, das Simon von dem diebischen Vicomte de Saint-Romain gekauft hatte, stand auf einem Tisch im hinteren Teil des Ladens. Als Gabrielle das Pult gestern einem interessierten Kunden gezeigt hatte, entdeckte sie im Inneren Papier, Federn und Kohlestifte. Damit wollte sie sich jetzt ablenken, um endlich den Gedanken an den verrückten Wissenschaftler loszuwerden.

Gabrielles Mutter war eine Salonière gewesen. In ihrem eleganten Stadtpalais in der Rue de Grenelle hatte sich jeden Abend die Elite der literarischen Welt versammelt. Romanschriftsteller, Dichter, Philosophen oder Freidenker – darunter die klügsten Köpfe ihrer Zeit – hatten sich bei Madame Marie-Rose de Vauclair eingefunden, um aus ihren Werken zu lesen und über das Leben, die Religion oder über Politik zu diskutieren.

Gabrielle war noch ein Kind gewesen, war aber dennoch bei diesen Abendgesellschaften zugegen gewesen. Manchmal hatte sie zur Belustigung der Gäste Kohlestift und Papier zur Hand genommen und Karikaturen von berühmten Leuten am Hof gezeichnet. Eines ihrer beliebtesten Opfer war die hochmütige, leichtfertige Königin Marie Antoinette, die von den Philosophen »die österreichische Schlampe« genannt wurde. Gabrielle überbetonte die Züge der Königin, so daß das Gesicht dem eines gefräßigen Wiesels glich, und alle lachten.

Jetzt nahm sie hinter Simons Schreibtisch Platz und wollte die Königin zeichnen, wie sie maskiert und als Engel verkleidet in ein Theater ging, in dem die Schauspieler alle Teufel waren. Statt dessen zeichnete Gabrielle einen Ballon. Es wurde ein großer Ballon, an dessen unterem Ende ein bootförmiger Korb an Seilen schaukelte. Sie zeichnete Ruder und ein schmuckes Segel. Dann fügte sie voll Eifer einen Mann hinzu, der mit dem Kopf nach unten hing und sich nur mit einem Fuß am Rand des Korbes festhielt. Sie betonte die aristokratische Nase und die markanten Backenknochen. Gabrielle mußte lachen, als sie seine komisch-schreckhaft aufgerissenen Augen und den zum Schrei geöffneten Mund zeichnete.

Ein Schatten fiel über das Papier, und Gabrielle blickte auf. Zwei graue Augen sahen sie an, und Schamröte stieg ihr ins Gesicht.

Verstohlen versuchte sie, das Papier mit den Händen zu bedecken, aber Max holte es unter ihren Fingern hervor und drehte sich damit zum Licht, das von der offenen Tür hereinfiel.

Ein Lächeln huschte über seinen arroganten Mund. »Nicht besonders ähnlich, meine Liebe. Die Nase ist ein wenig lang und das Kinn viel zu schwach.«

Gabrielle biß sich auf die Lippen, um nicht zu lächeln. Dann meinte sie mit hochmütiger Miene: »Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Kunstkritiker; Ihre Talente scheinen ja sehr vielfältig zu sein, Monsieur de Saint-Just ...«

»Max. Bitte nennen Sie mich Max, meine Liebe.«

»Monsieur de Saint-Just. Außerdem bin ich nicht ›Ihre Liebe‹.« Auch wenn ich es gern wäre, so wahr mir Gott helfe.

»Ich bestehe darauf, daß Sie mich Max nennen.« Sein Lächeln war einfach zum Verrücktwerden. »Schließlich haben wir doch gemeinsam dem Tod ins Auge gesehen ... Gabrielle.«

Mit seiner geschmeidigen Stimme gab er ihrem Namen einen melodischen Klang. So hatte bisher noch nie jemand ihren Namen ausgesprochen; es wurde ihr richtig warm ums Herz.

Rot geworden senkte Gabrielle den Blick. Jetzt erst bemerkte sie, wie krampfhaft sie den Kohlestift festhielt. Sie ließ ihn los und hob den Kopf. »Wieso kennen Sie meinen Namen? Wie haben Sie herausgefunden, wo ich ...« Sie sprach nicht weiter; statt dessen ärgerte sie sich über sich selbst. Wieso nahm sie an, er sei ihretwegen hergekommen?

»Ich habe nach einem geheimnisvollen Monsieur Prion gesucht. So bin ich auf Sie gestoßen«, erklärte er in der langgezogenen Sprechweise der Höflinge des Königs in Versailles. »Der geheimnisvolle Monsieur Prion ist zu meiner Enttäuschung nichts weiter als der gewöhnliche Besitzer eines Pfandleiherladens.«

Max sah sich müßig im Laden um und betrachtete die Gegenstände auf den Regalen und in den Schaukästen. Er war sehr korrekt gekleidet in einen schwarzen Samtanzug, der mit Silberfäden bestickt war. Sein Hemd war am Hals und an den Manschetten mit üppigen Rüschen besetzt, die seinen dunklen Teint vorteilhaft zur Geltung brachten. Trotzdem betonte die Eleganz seiner Kleider die herbe Männlichkeit seiner Erscheinung, die Gabrielle bei ihrem ersten Zusammentreffen aufgefallen war.

»Um herauszufinden, wer Sie sind, mußte ich mich nur ein wenig mit der Bäckersfrau unterhalten«, fuhr er neckend fort. »Bäckersfrauen sind zuverlässige Informationsquellen. Sie hat mir zum Beispiel erzählt, daß Sie eine Witwe seien und ein Kind hätten, einen kleinen vierjährigen Jungen. Sie sind Monsieur Prions angeheiratete Nichte und wahrhaftig ein Segen für ihn. Den hat er auch bitter nötig, da er sich die Sorge für den ungezogenen Balg namens Agnes aufgebürdet hat. Wenn es nach der Bäckersfrau ginge, sollte Agnes wegen ihrer Impertinenz im Gefängnis landen.«

Gabrielle lachte. Plötzlich war sie sehr glücklich. Er wollte sie wiedersehen, und der Wunsch nach einem Wiedersehen war so stark gewesen, daß er sich die Mühe gemacht hatte, ihren Namen und ihren Wohnort herauszufinden.

Max’ Lächeln war offen und freundlich geworden, und der Spott war aus seinem Gesicht verschwunden. Die Falten um seinen Mund wurden weicher, und das zynische Funkeln in seinen Augen verschwand.

Er hob einen elfenbeinernen Fächer hoch und entfaltete ihn mit seinen langen, gebräunten Fingern. Max trug, entgegen der herrschenden Mode, keinen Schmuck; die einfachen Silberschnallen an seinen Schuhen waren das einzige Putzwerk an seiner Kleidung. Ohne sein Aristokratengesicht hätte er wie ein Bauer gewirkt, der die Kleider seines Herrn trägt. Alles an ihm war ein seltsames Gemisch aus Eleganz und Derbheit. Gabrielle konnte sich ihn genausogut bei einem Faustkampf vorstellen wie bei einem Kampf mit dem Degen.

Der Fächer war mit einer ländlichen Szene bemalt, eine Hirtin, umgeben von ihrer Herde. Max besah den Fächer abschätzend und schob ihn dann beiseite. »Wenn ich schon hier bin, könnte ich ebensogut etwas kaufen«, stellte er beiläufig fest. »Ein Geschenk für meine Geliebte.«

Gabrielle erhob sich; ihre Fröhlichkeit schwand dahin, wie Rauch, der zum offenen Fenster hinauszieht. Sie hätte es sich denken können, daß er eine Geliebte hatte; vermutlich Hunderte. »Wenn Sie mir eine Andeutung über den Geschmack der Dame machen, könnte ich Ihnen vielleicht behilflich sein«, machte Gabrielle sich förmlich erbötig.

»Sie hat natürlich einen teuren Geschmack. Welche Frau hat das nicht?« Wieder lächelte er spöttisch. »Ich hätte gern etwas Persönliches, aber nicht zu extravagant. Ich möchte es ihr heute abend zum Abschied überreichen ...« Er sah Gabrielle tief in die Augen.

Weder seine Worte noch sein Blick ließen einen Zweifel offen. Gabrielle fühlte sich zwischen Freude, Angst, Aufregung und Schuld hin- und hergerissen. Ein Wort von ihr, eine einzige Bewegung würden genügen. War es Ja oder Nein? Sollte er gehen oder bleiben?

Gabrielle war unsicher und tat nichts.

Im hinteren Teil des Ladens stand eine große Glasvitrine mit kleinen, wertvollen Gegenständen: Schnupftabakdosen, Kameen und Schmuck. Max trat zur Vitrine und betrachtete prüfend ihren Inhalt. Gabrielle wollte ihn aufhalten und konnte die Bewegung gerade noch rechtzeitig unterdrücken.

»Vielleicht einen Ring«, überlegte er. Gabrielle schnappte entsetzt nach Luft ...

Denn auf dem Samtkissen in der Vitrine lag immer noch der Ring, der Saphirring, den sie vier Jahre zuvor an Simon Prion verpfändet und den ihr der Sohn des Herzogs einst an den Finger gesteckt hatte. Simon wollte ihn ihr schon oft zurückgeben, aber sie hatte sein Angebot immer abgelehnt. Sie wollte ihn auslösen, hatte sie stolz erklärt, sobald sie ihre Schuld abgezahlt hatte.

Aber es lagen ja noch andere Ringe zum Verkauf bereit, beruhigte sie sich. Schönere und kostbarere Ringe.

Max hatte sich wieder der Vitrine zugewandt. »Diesen hier.« Er zeigte auf einen Ring mit Rubinen. Gabrielle atmete erleichtert auf.

Sie holte einen kleinen Schlüssel aus dem Schreibtisch und schloß die Vitrine auf. Ihre Hände zitterten, und sie war überzeugt, daß Max es bemerkte.

Max schob den Rubinring auf den kleinen Finger seiner linken Hand. Er hauchte den Edelstein an, rieb ihn mit der Spitze an seiner Manschette blank und streckte die Hand aus, um ihn besser betrachten zu können.

»Was meinen Sie?«

Gabrielle lächelte gezwungen. »Er ist hübsch, Monsieur ... und er kostet nur fünfhundert Livres.«

»Ich weiß nicht recht.« Max betrachtete den Ring abermals und legte ihn nach einer Weile zur Seite. »Ich konnte mich nie für Rubine erwärmen.«

Sein Blick wanderte wieder über den Inhalt der Vitrine. Gabrielle umklammerte die Kante des Ladentisches so fest, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Max griff nach Ohrringen: ein paar Perlen an einer zarten Goldkette. Er warf einen Blick auf Gabrielle, dann schob er die Ohrringe fort. Seine Finger glitten über den Deckel einer emaillierten Schnupftabakdose, danach hob er ein mit Diamantensplittern besetztes Armband heraus und wieder einen Ring. Ihren Ring.

Gabrielle erstarrte. Max sah sie lächelnd an.

Er hielt den Ring gegen das Licht. Die Sonne schien zum Fenster herein; ihre Strahlen brachen sich in den Facetten des Saphirs und warfen regenbogenfarbene Lichtreflexe an die Wand.

»Vielleicht nehme ich diesen.«

»Nein!« hauchte Gabrielle.

Max sah sie an. »Warum nicht? Gefällt er Ihnen nicht?«

»Nein ... .ich meine ja.« Sie nahm ihm den Ring aus der Hand. »Er steht nicht zum Verkauf.«

Max zog die Brauen hoch und fragte herausfordernd. »Warum stellen Sie ihn dann aus?«

Gabrielle zuckte gespielt gleichgültig die Achseln. »Da müssen Sie Monsieur Prion fragen.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Mir persönlich gefällt der Rubin besser, Monsieur ... Max.«

Max lächelte. »So? Das hätte ich nicht gedacht. Saphire passen besser zu Ihnen. Besonders dieser. Ist Ihnen aufgefallen, daß er die gleiche Farbe wie Ihre Augen hat?«

Gabrielle zuckte die Achseln und schloß die Faust fest um den Ring. »Das habe ich noch nicht bemerkt.«

Max griff in die Tasche seiner Samtjacke und zog eine dicke Börse hervor. »Dann nehme ich eben den Rubin, da der Saphir nicht zum Verkauf steht.«

Er leerte eine Handvoll Goldmünzen aus und stapelte sie auf dem Ladentisch auf. Beim Anblick seiner schmalen, braunen Finger mußte Gabrielle daran denken, wie rauh sie sich angefühlt hatten, als Max ihr Gesicht gestreichelt hatte; eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken.

»Soll ich ...« Sie räusperte sich. »Soll ich den Ring für Sie einpacken, Monsieur?«

»Das ist nicht notwendig.« Er nahm den Ring und steckte ihn in die Westentasche.

»Ich schulde Ihnen zehn Livres Wechselgeld, Monsieur.« Gabrielle war froh, daß ihre Stimme so forsch und geschäftsmäßig klang.

Sie trat an den Schreibtisch, wo Simon die Stahlkassette aufbewahrte. Als sie die Schublade aufzog, wo der Schlüssel verwahrt wurde, bemerkte sie, daß sie Martins Ring immer noch festhielt. Vorsichtig legte sie ihn neben den Kohlestift und das Blatt mit der Karikatur. Der Ring hatte einen kleinen Abdruck in ihrer Handfläche hinterlassen.

Max war ihr zum Schreibtisch gefolgt und stand dicht neben ihr. Seine dominante Gegenwart verwirrte sie, und sein männlicher Duft stieg ihr zu Kopf. Sie spürte, daß er sie beobachtete.

Ihre Hände zitterten, als sie die Geldkassette öffnete und zehn Livres abzählte. Ohne aufzusehen, reichte sie ihm das Geld. Seine Finger berührten ihre, als er die Münzen nahm, und Gabrielle wußte vor Verwirrung nicht, wo oben oder unten war.

Du lieber Gott, dachte sie. Was bringt mich an ihm derart aus der Fassung?

»Gabrielle ...«

Sie seufzte und sah ihn forschend an.

»Morgen ist Sonntag. Gehen Sie mit mir in den Botanischen Garten? Ich möchte Ihnen einen anderen Aerostaten zeigen, den ich baue, einen wirklich großen.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Ich verspreche Ihnen, diesmal wird er nicht explodieren.«

»Nun ... ich weiß nicht recht ... Mein Sohn. Ich muß mit ihm zur Messe.«

»Dann eben nach der Messe. Wir nehmen den Jungen mit. Der Botanische Garten wird ihm gefallen.« Der samtweiche Ton seiner Stimme gab den einfachsten Worten eine tiefsinnige Bedeutung. »Sagen Sie ja, Gabrielle. Bitte.«

Gabrielle lachte über das ganze Gesicht, und ihr Herz schlug vor Glück.

»Ja«, antwortete sie.

»Mama!« rief Dominique, als er wenige Minuten, nachdem Maximilien de Saint-Just gegangen war, in den Laden stürzte. »Ich habe den Reifen bis zur Place du Carrousel gerollt. Dort war ein Bär! Ein tanzender Bär! Ich bin auf seinem Rücken geritten.«

Agnes lachte über Gabrielles bestürztes Gesicht. »Es war ein sehr alter Bär. Außerdem hatte er keine Zähne mehr. Sieh her!« Bei diesen Worten wickelte sie ein kleines mit Garn umschnürtes Päckchen aus. »Wir waren auch bei Madame Tussard. Ich habe neue Fichus für uns gekauft.« Agnes hielt Gabrielle ein sehr dünnes Halstuch aus Musselin hin. »Wir bekamen sie praktisch geschenkt.«

»Ich kann es morgen tragen, wenn ich ... Wenn ich zur Messe gehe«, rief Gabrielle begeistert und freute sich über Agnes’ günstigen Kauf.

Agnes riß die Augen weit auf. »Aha! Er kommt also morgen in die Kirche, nicht wahr?«

»Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst, Agnes. Im Unterschied zu dir gehe ich zur Kirche, um zum Erlöser zu beten, und nicht, um die Lebemänner aus der Nachbarschaft zu begaffen.«

Agnes lachte. »Seit wann gehen die Lebemänner aus unserer Gegend zur Messe? Lenke nicht vom Thema ab, Gabrielle. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung, die wir kürzlich abends hatten ...«

Das Gespräch langweilte Dominique, und er verschwand im Laden. Er versteckte sich zwischen den Mänteln und gab vor, eine Maus zu sein. Aber da Monsieur Simon nicht hier war, um ihn mit einem Besen hervorzujagen, verlor das Spiel bald seinen Reiz. Er entdeckte das Papier und den Kohlestift auf dem Schreibtisch und entschloß sich, ein Bild von dem Bären zu zeichnen. Mama sollte wissen, wie mutig er war. Er hatte auf dem Bären gesessen, obwohl es ein sehr großer Bär gewesen war.

Dominique griff nach dem Kohlestift und bemerkte den funkelnden blauen Stein auf einem Ring. Begeistert nahm er ihn an sich; in dieser Woche hatte er nämlich eine Steinesammlung angelegt. Monsieur Simon hatte ihm einen runden, glatten Stein geschenkt, den man gut auf dem Teich in den Tuilerien springen lassen konnte. Gestern hatte er einen roten Stein mit gelben Streifen gefunden. Heute vormittag hatte er im Park noch andere gesammelt, aber dieser blaue war bis jetzt der schönste. Dominique steckte ihn zu den anderen in seine Jackentasche.

Dominiques Magen knurrte. Wie lange dauerte es noch bis zum Abendessen? Er schlenderte zu seiner Mutter, die das neue Halstuch gegen das Licht hielt und die Stickerei begutachtete.

»Wir werden deine Haare morgen für die Messe mit der Lockenschere frisieren und vielleicht ein wenig mit Mehl aufhellen ...«

»Mama, kann ich ein Brot mit Marmelade haben?« bat Dominique seine anderweitig beschäftigte Mutter.

»Natürlich, mein Kleiner«, erwiderte Gabrielle abwesend, und Dominique sauste in die Küche, bevor sie womöglich ihre Meinung änderte.

Agnes hänselte Gabrielle mit verschiedenen Vorschlägen, welches Kleid Gabrielle am nächsten Tag zur Kirche tragen solle. Gabrielle machte dem Gespräch unter dem Vorwand ein Ende, daß sie vor Simons Rückkehr den Laden in Ordnung bringen wolle. Sie versperrte die Stahlkassette und stellte sie wieder in den Schreibtisch. Dann nahm sie die Zeichnung zur Hand, die sie gemacht hatte, und beim Gedanken an Max’ neckende Stimme und sein spöttisches Lächeln mußte sie schmunzeln. Sie faltete das Papier und steckte es in die Tasche ihres Rockes. Plötzlich wurde sie ernst.

Hatte sie nicht Martins Ring hier abgelegt?

Sie suchte in den kleinen Fächern des Schreibtisches und bückte sich, um auch auf dem Fußboden danach zu suchen. Dann öffnete sie die Geldkassette und kramte zwischen den Münzen und Banknoten. Gabrielle schloß die Augen.

Sie sah genau vor sich, wie sie zum Schreibtisch gegangen war und Max neben ihr gestanden hatte. Hatte sie den Ring nicht in dem Augenblick neben die Karikatur und den Kohlestift gelegt? Nein, sie mußte ihn zurück in die Vitrine gelegt haben. Gabrielle lief zum Ladentisch –

»Dieser diebische Bastard!« schrie Gabrielle.

Agnes war gerade auf dem Weg in die Küche und drehte sich um. »Was ist geschehen?«

»Er hat ihn gestohlen! Meinen Ring!«

»Welchen Ring?«

»Meinen Ring!«

Agnes lief zur Vitrine, um sich selbst zu vergewissern. Unzählige Male hatte sie Simons seltsame Geschichte gehört, wie Gabrielle damals in den Laden gekommen war, um einen Saphirring zu verpfänden.

»Nun, das wird dir vielleicht eine Lehre sein«, schalt sie ärgerlich, »daß du ihn nicht einfach herumliegen läßt, wo ihn jeder stehlen kann. Wie konnte dir das passieren?«

»Es ist mir nicht passiert. Dieser ... dieser Schuft hat ihn vor meinen Augen gestohlen.« Weil ich eine dumme, vernarrte Gans bin, schalt sich Gabrielle insgeheim, und es gab ihr einen schmerzhaften Stich.

»Welcher Schuft?« fragte Agnes. »Wer hat ihn gestohlen?«

»Ein Mann«, antwortete Gabrielle vage. Sie konnte ihre Einfältigkeit nicht eingestehen, nicht einmal sich selbst.

Agnes machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber ganz klar. Ein Mann. Gibt es etwas Einfacheres? Wir suchen in ganz Paris nach einem Mann, und wenn wir ihn gefunden haben, holen wir die Gendarmen und bitten sie, ihn wegen Diebstahls zu verhaften.«

»Ich weiß, wer er ist«, stieß Gabrielle zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Er heißt Maximilien de Saint-Just. Er ist dieser verrückte, unerträglich arrogante Wissenschaftler, der über dem Café de Foy wohnt. Er war heute hier, um ein Geschenk für eine von seinen Flammen zu kaufen, und verschwand mit meinem Ring.«

Agnes starrte wieder auf die Glasvitrine. »Das ist ja entsetzlich, Gabrielle. Denk nur, wie gekränkt Monsieur Simon sein muß, wenn er davon erfährt. Du weißt, wieviel dieser Ring ihm bedeutet.«

Schuldbewußt mußte sich Gabrielle eingestehen, daß sie noch gar nicht an Simon gedacht hatte. Sie war zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt gewesen, warum Maximilien de Saint-Just den Ring genommen hatte. Er hatte auf sie nicht wie ein gewöhnlicher Dieb gewirkt. War es möglich, daß er den Ring der Herzogin von Nevers erkannt hatte? Gabrielle betete zu Gott, daß es nicht so war, denn falls es sich tatsächlich so verhielt, dann waren sie und Dominique bereits verloren.

Nein, nein, er hat ihm einfach gefallen – hat er das nicht zugegeben? Nachdem sie ihm den Ring nicht verkaufen wollte, hatte er ihn einfach genommen. Er wollte ihn einer seiner Frauen geben. Gabrielle stellte sich vor, wie eine schöne, elegant gekleidete Kurtisane den Saphirring vielleicht auf einer Abendgesellschaft oder auf einem Ball trug. Womöglich entdeckte ihn jemand, der die vornehme Familie Nevers kannte, und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf den alten Familienschmuck, den er einmal an der Hand der alten Herzogin gesehen hatte. Louvois würde davon erfahren; er hatte seine Spione überall. Er würde die Kurtisane befragen, und er würde Maximilien de Saint-Just befragen, und dann ...

Sie mußte den Ring zurückhaben. Sie mußte ihn sofort zurückhaben, oder sie mußte mit Dominique verschwinden. Sie müßte Simon und Agnes und ihr Zuhause über dem Pfandleiherladen im Palais Royal verlassen und würde fortan wieder auf der Flucht sein.

»Ich muß ihn zurückholen«, sagte Gabrielle laut mit verzweifelter Entschlossenheit.

Agnes sah sie verwundert an. »Gabrielle ... wie willst du das anstellen?«

»Er hat ihn mir gestohlen, und ich werde ihn zurückstehlen.«

»Du und stehlen? Das schaue ich mir an!« prustete Agnes.

»Es wäre nicht das erste Mal. Früher war ich manchmal gezwungen zu stehlen. Aber diesmal wäre es nicht richtig stehlen. Ich beschaffe mir nur wieder, was mir ... was Simon gehört.«

»Diesmal! Gütiger Himmel, willst du damit sagen, daß du tatsächlich schon einmal gestohlen hast?« Agnes war verblüfft. Es hatte Gabrielle immer amüsiert, wenn Agnes sie für so tugendhaft wie eine Heilige hielt.

»Hör zu, ich habe einen Plan«, begann Gabrielle.

Agnes rollte mit gespieltem Entsetzen die Augen.

»Es ist ganz einfach«, fuhr Gabrielle fort. »Wir behalten heute nachmittag sein Appartement im Auge, und wenn er das nächste Mal seine Wohnung verläßt, lauerst du ihm auf und borgst dir den Schlüssel ...«

»Borgen!«

»Du nimmst ihn dir eben aus seiner Tasche, verdammt noch mal! Dann gibst du mir den Schlüssel, und ich laufe hinauf und hole mir den Ring.« Es sei denn, er hat den Ring mitgenommen. Du guter Gott, was ist, wenn er den Ring mitnimmt?

»Der Plan gefällt mir nicht«, stellte Agnes fest.

»Er muß dir auch nicht gefallen. Aber was ist schlecht an meiner Idee?«

»Was ist, wenn er mich dabei erwischt, wie ich ihm den Schlüssel entwende? Man könnte mich dafür auf der Place de la Grève auspeitschen.« Agnes spreizte die Finger und krümmte sie; besorgt runzelte sie die Stirn. »Ich bin nicht mehr in Übung.«

Gabrielle sah sie skeptisch an.

Agnes legte die Hand auf die Brust und beteuerte mit unschuldigen Augen: »Ich schwöre es dir bei meiner Jungfräulichkeit ...«

»Was für ein lügnerischer Eid ist nun das wieder?«

»Möge mich eine Bande Teufel über dem offenen Feuer rösten, wenn ich seit jenem Tag, an dem ich dir Undankbaren das Leben gerettet habe, auch nur einen Sou gestohlen habe.«

Gabrielle griff nach Agnes’ Händen. »Willst du es für mich tun, Agnes, ja?«

Agnes lächelte spitzbübisch. »Und ob ich es machen will! Um nichts in der Welt möchte ich das versäumen!« Plötzlich riß sie Mund und Augen auf. »Dieser Dieb ist nicht zufällig der Mann, der dir seit zwei Tagen den Kopf verdreht?«

Gabrielle ließ sich nichts anmerken. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst, Agnes. Ich fühle mich vollkommen normal.«

Gabrielle wartete beim Stand des Zeitungsverkäufers gegenüber dem Café de Foy und las anscheinend interessiert in einer Schrift über die Vorzüge des bäuerlichen Lebens. Alle paar Sekunden sah sie über die mit Wäscheklammern auf einer langen Leine befestigten Zeitungen hinweg hinüber zum Eingang von Maximiliens Wohnung.

Sie war so nervös, daß sie vor Schreck beinahe laut aufgeschrien hätte, als er schließlich auftauchte. Sie drehte sich um und stieß mit Agnes zusammen, die unmittelbar neben ihr stand.

»Da ist er«, flüsterte Gabrielle aufgeregt.

Agnes stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über die Leine mit den Zeitungen. »Du lieber Himmel. Du hast mir nicht gesagt, daß er ein so hübscher Teufel ist. Ich habe eine bessere Idee. Anstatt ihm den Schlüssel zu entwenden, könnte ich doch mit ihm in seine Wohnung gehen. Wenn er nachher eingeschlafen ist, könnte ich nach dem Ring suchen.«

Gabrielle versetzte ihr einen Stoß in den Rücken. »Benimm dich nicht wie eine Hure von Saint-Denis. Lauf, sonst entkommt er dir.«

Agnes fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen Locken und schob ihr Brusttuch zurecht, um ihren weißen Busen besser zur Geltung zu bringen; Gabrielle sah ihr neidisch zu. Dann hob Agnes den Korb mit verwelkten Veilchensträußchen auf, den sie abgestellt hatte, und mischte sich, aufreizend mit den Hüften wackelnd, unter die Menge vor dem Café de Foy.

Max ging schnell und sah konzentriert vor sich auf den Boden. Unmittelbar vor ihm drehte Agnes sich unvermittelt um und ging zwei Schritte zurück, schwang dabei drohend die Faust, beschimpfte irgend jemanden hinter ihr und nannte ihn einen Hahnrei und gehörnten Bastard.

Max rammte Agnes.

Der Korb flog ihr aus der Hand und die Blumensträußchen landeten im Schmutz. Agnes begann zu jammern.

»Ach weh! Jetzt schauen Sie nur, was Sie gemacht haben, Sie Tolpatsch. Wer hat Ihnen beigebracht, blind wie ein Hornochse durch die Gegend zu laufen? Jetzt haben Sie meine Blumen ruiniert, sie verdammter Hurensohn!«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Mademoiselle«, bat Max höflich und bückte sich, um die Blumen wieder in den Korb zu sammeln.

»Ach, fahren Sie doch zur Hölle! Sie trampeln doch alles nieder, mit Ihren großen Füßen!« rief Agnes. Sie riß ihm den Korb aus den Händen und stieß dabei mit ihm zusammen.

Max hielt sie fest. »Ich glaube. Sie sind ein wenig betrunken«, meinte er lachend und warf einen anerkennenden Blick auf die halb entblößten, wogenden Brüste der jungen Frau.

»Wo denken Sie hin!« entgegnete Agnes entrüstet und wölbte herausfordernd den Busen.

Sie rülpste und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, was die Wirkung ihres Busens wieder verdarb. Agnes machte sich davon, und Max sah ihr belustigt nach. Schließlich schüttelte er den Kopf, drehte sich um und setzte seinen Weg fort.

Gabrielle wartete auf einer Bank in der Nähe auf Agnes, da ihr der Zeitungsverkäufer bereits mißtrauische Blicke zugeworfen hatte. Sie war schrecklich enttäuscht. Warum konnte sie sich nicht in einen einfachen Mann verlieben – in einen Bauern oder einen Geschäftsmann? Aber nein, zuerst mußte es Martin de Nevers sein, der einzige Sohn eines Herzogs und Erbe eines der mächtigsten Adelsgeschlechter in ganz Frankreich. Und jetzt war es Maximilien de Saint-Just. Der war bestenfalls ein Dieb, schlimmstenfalls ...

Als Agnes angelaufen kam, hätte Gabrielle fast geschrien vor Erleichterung.

Agnes drückte Gabrielle einen schweren schwarzen Schlüssel in die Hand. »Da ist er«, sagte sie atemlos und blickte sich um. »Ich glaube, er hat etwas bemerkt.«

»Warum glaubst du das?«

»Ich weiß es nicht ...« Agnes sah Gabrielle besorgt an. »Trödle nicht lange herum, Gabrielle. Nimm den Ring und verschwinde. Er kann jeden Augenblick zurück sein. Seine Augen verheißen nichts Gutes. Ich möchte ihm nicht in die Quere kommen, wenn er gereizt ist.«

Gabrielle nickte und schluckte. »Geh zurück in den Laden, Agnes, für den Fall, daß Simon und Dominique früher nach Hause kommen und sich wundern, wo wir sind.« Nach dem Essen hatte sie den beiden zwei Angelruten in die Hand gedrückt und sie für den Nachmittag zum Fischen an den Fluß geschickt. Gabrielle hatte Simon und den Jungen rasch zur Tür hinausgeschoben, ehe Simon den leeren Platz in der Schmuckvitrine entdecken konnte.

Gabrielle straffte den Rücken, erhob sich und ging mit fahrigen Bewegungen zum Café de Foy.

Im Treppenhaus roch es nach dem gleichen Parfum, aber heute waren weder Würfelbecher noch Frauengelächter zu hören. Das Haus wirkte seltsam leer, nur vom Café klangen Gesprächsfetzen und erregte Stimmen herauf.

Gabrielles Hände zitterten so sehr, daß der Schlüssel anfangs nicht in das Schlüsselloch passen wollte. Sie fürchtete bereits, daß Saint-Just mehr als einen Schlüssel bei sich getragen und Agnes den falschen erwischt hatte. Doch plötzlich steckte der Schlüssel im Schloß, Gabrielle drehte ihn um, und die Tür ging auf. Schnell trat sie ein und zog die Tür hinter sich zu.

Sobald sie in der Wohnung war, schwand ihre Nervosität, vielleicht weil sie schon einmal hier gewesen war. Die Glasscherben von den zerbrochenen Fenstern und Spiegeln waren in eine Ecke gekehrt worden, aber die wissenschaftlichen Utensilien, die bei der Explosion nicht zerbrochen waren, standen nach wie vor auf den Tischen und Regalen in dem großen Zimmer herum.

Gabrielle sah durch das Mikroskop, zuerst mit einem Auge, dann mit dem anderen, aber sie konnte nichts erkennen. Dann blickte sie durch das Fernrohr und sah ein Stück blauen Himmel. Sie kippte das Instrument, richtete es auf die Geschäfte auf der anderen Straßenseite und fokussierte den Zeitungsverkäufer. Sein faltiges Narbengesicht schien erschreckend nahe, und Gabrielle beobachtete ihn eine Weile fasziniert, wie er mit einem Zweig seine Ohren säuberte.

An einem Ende des Raums befand sich ein großer offener Kamin mit einem Bratspieß und einem Dreifuß zum Kochen, aber auf dem Feuerrost lag keine Asche. Vermutlich ißt er unten im Caféhaus, dachte Gabrielle. Der Gedanke, daß er niemanden hatte, der für ihn kochte, stimmte sie traurig.

An der Wand neben der Tür standen schwere Bücherregale aus Mahagoni. Er besaß alle sechsunddreißig Bände von Buffons Naturgeschichte sowie die komplette Enzyklopädie von Diderot. Die meisten Bücher waren wissenschaftliche Bände, Reiseberichte oder geographische Abhandlungen. Hier und dort entdeckte Gabrielle einen Roman; viele waren englische Originalausgaben. Sie freute sich, als sie ihre Lieblingsbücher von Fielding und Defoe entdeckte. Neben den Bücherregalen waren Himmelskarten mit Sternen und Sternbildern an die Wand geheftet. Auf manchen Karten waren Korrekturen eingetragen; Max hatte hier offenbar eigene Entdeckungen gemacht.

Im Erdgeschoß fiel eine Tür ins Schloß, und Gabrielle erschrak. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wieviel Zeit verstrichen war. Verzweifelt sah sie sich in dem mit so vielen Dingen überhäuften Raum um. Falls der Ring hier war, würde sie ihn niemals finden.

Zuerst wollte sie im Schlafzimmer danach suchen.

Er hatte ein großes, aber einfaches Bett, ohne Vorhänge, nur mit einem Kissen und einer Federdecke. An einer Wand stand ein imposanter Schrank, gegenüber eine Kommode mit einer Marmorplatte, deren Laden mit Einlegearbeiten aus Perlmutt verziert waren. Auf der Kommode standen nur zwei silberne Kerzenleuchter. Neben dem Fenster hockte, mit dem Gesicht zum Garten, eine ausgestopfte Eule; die paßte nicht in den Raum. Ganz anders als das Laboratorium wirkte dieser Raum nüchtern und ordentlich.

Gabrielle legte den Schlüssel auf die Kommode und zog eine Lade auf.

Uhuu —

Gabrielle drehte sich rasch um. Das seltsame Geräusch hatte sie so erschreckt, daß sie einen leisen, hohen Schrei ausstieß und ihre zitternde Hand auf ihr wild klopfendes Herz drückte. Aber der Raum war leer, und es war wieder vollkommen still.

»Wer ist da?« rief Gabrielle vorsichtig und schalt sich gleich darauf eine Närrin. Sie war doch schließlich der Eindringling hier!

Ein Windhauch kam zum zerbrochenen Fenster herein und fuhr kühlend über Gabrielles schweißnasses Gesicht. Die Federn der ausgestopften Eule sträubten sich; dann blinzelte sie mit den glasigen gelben Augen.

Vorsichtig näherte sich Gabrielle dem Vogel. Sie wollte ihn berühren, um zu sehen, ob er lebendig sei, da blinzelte ihr die Eule abermals zu.

Gabrielle zog die Hand mit einem Ruck zurück. Sie mußte lachen. Das paßte zu dem Mann: Er hielt sich eine Eule als Haustier. Wie ein Zauberer aus einem englischen Märchen. Die Hand auf den Mund gepreßt, unterdrückte Gabrielle ein Lachen; sie war ja schon hysterisch! Entschlossen wandte sie dem Vogel den Rücken zu und begann, die Laden der Kommode zu durchsuchen, obwohl es ihr unter den wachsamen Augen der Eule nicht leicht fiel. Sie kicherte nervös.

In der oberen Lade befand sich der Ring nicht, dafür erregte etwas anderes Gabrielles Aufmerksamkeit. Es war eine Kassette mit Gießformen, wie man sie zum Kopieren der Wachssiegel verwendet, mit denen Briefe versiegelt werden. Wessen Korrespondenz mochte Maximilien de Saint-Just wohl heimlich geöffnet und dann erneut versiegelt haben?

In der zweiten Lade fand sie eine geschnitzte chinesische Holzschatulle. Das Kästchen war mit den Bildern von fremdartig gekleideten Schwertkämpfern verziert. Sie hob den Deckel. In der Schatulle lag eine schwarze, gut geölte Pistole. Sie sah gepflegt und benutzt aus. Gabrielle nahm sie heraus. Ob sie geladen war?

Außer der Pistole enthielt die Schatulle noch ein Samtsäckchen. Gabrielle leerte den Inhalt auf die Kommode. Ausländische Münzen, eine Krawattennadel mit einem Diamanten und ein Miniaturbild einer jungen Frau kollerten auf die Kommode. Und ein Ring – der Rubinring, den Maximilien de Saint-Just am Vormittag bei ihr gekauft hatte.

Gabrielle nahm die Miniatur zur Hand.

Es war eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hatte helle Haare, vermutlich gepudert, denn ihre Augen waren dunkelbraun. Die Lippen waren üppig und an den Mundwinkeln leicht nach oben gezogen, so daß sich auf einer Wange ein Grübchen bildete. Etwas an der jungen Frau kam Gabrielle bekannt vor, aber sie wußte nicht, was es war. War das die Frau, für die der Ring bestimmt war, oder war sie eine verflossene Liebe? Vielleicht war sie der Grund für das zynische Funkeln in Max’ grauen Augen.

Gabrielle betrachtete die Miniatur eine Weile und legte sie danach vorsichtig zurück in das Samtsäckchen. Den Rubinring behielt sie in der Hand.

»Suchen Sie etwas?«

Unter dem Himmel von Notre-Dame

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