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KAPITEL 1

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Simon Prion betrachtete vom Park des Palais Royal aus sein Geschäft. Das Ladenschild mit den drei goldenen Kugeln leuchtete hell in der Sommersonne. Simon nickte zufrieden und lachte; er war richtig glücklich.

Ehe er die Frau auf so wundersame Weise wiedergefunden hatte, war ihm seine Einsamkeit nie bewußt geworden. Mit ihr zusammen war Agnes in sein Leben getreten, auf die er, wenn er ehrlich war, hätte verzichten können, und der kleine Junge, Dominique; ohne ihn konnte er sich sein Leben nicht mehr vorstellen.

Wir sind eine Familie, dachte Prion und nickte zufrieden. Sie und ich, Agnes und der Junge. Eine richtige Familie.

Die Ladentür stand offen und war mit einem Messingstopper arretiert, weil es so heiß war. Simon blieb an der Schwelle stehen und sah hinein und konnte nicht anders als lächeln.

Gabrielle saß auf einem hohen Hocker hinter dem Ladentisch, die Beine um die Stuhlbeine geschlungen, und polierte einen Satz silberner Teelöffel. Die rotgoldenen Haare waren nach vorn gefallen und verdeckten ihr Profil. Sie wandte sich um und blickte auf; als sie sah, wer in der Tür stand, lächelte auch sie.

»Gabrielle!«

»Wie sieht das neue Schild aus?« fragte sie.

»Großartig!« rief er und betrat den Laden. »Der Maler hat zur Abwechslung einmal seine Arbeit ordentlich gemacht.« Simon lächelte ihr zu. »Ich glaube, er wollte dich beeindrucken.«

»Ach. Wir werden sehen, wie beeindruckt ich sein werde, sobald wir die Rechnung bekommen.«

Dominique streckte seinen blonden Wuschelkopf zwischen den Mänteln hervor, die an einem Kleiderständer hingen. Der Junge grinste Simon und Gabrielle an.

Simon blinzelte Gabrielle zu. »Ich sehe, die kleine Maus ist schon wieder zwischen meinen Mänteln. Ich muß einen Besen holen und sie verjagen.«

Quietschend und kichernd zog der Junge den Kopf zurück, stürzte zwischen den Mänteln hervor und klammerte sich an Simons Beine.

»Dominique!« wies Gabrielle ihn scharf zurecht. »Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du im Laden nicht herumrennen sollst?«

Simon hob den Kleinen hoch. »Schelte ihn nicht. Du bist zu streng mit ihm.«

»Jemand muß es sein. So wie du und Agnes ihn verwöhnt, wird er ...«

Gabrielle unterbrach sich, als eine junge Frau zur Tür hereinkam, die dünnen Arme schwer mit Lebensmitteln beladen. Sie trug keine Kopfbedeckung, und die aschbraunen Haare standen ihr in kurzen, strähnigen Büscheln vom Kopf ab. Ihre kleine Oberlippe war immer ein wenig hochgezogen, was ihr einen leicht überraschten Ausdruck verlieh.

»Verdammt noch mal!« rief die Frau nach Luft ringend. »Der verdammte Bäcker will zehn Sous für einen Laib Brot!«

Gabrielle seufzte, mußte aber unwillkürlich lachen. »Agnes, du sollst nicht fluchen.«

Noch vor einem Jahr war Agnes – obwohl fast noch ein Kind – eine Prostituierte und Taschendiebin gewesen. Das war, bevor Gabrielle sie gerettet hatte, oder Agnes hatte Gabrielle gerettet. Die beiden waren sich noch uneinig, wer nun tatsächlich die Retterin und wer die Gerettete war. Agnes hatte mittlerweile die meisten Angewohnheiten aus ihrem früheren Leben aufgegeben, bis auf das Fluchen.

»Ich habe nicht geflucht«, entgegnete Agnes prompt. »Zehn Sous! Ich habe dem Bastard nur gesagt, wohin er sich sein Brot stecken kann.« Damit ließ sie ihre Bündel neben Gabrielle auf den Ladentisch fallen und machte eine grobe Handbewegung mit der Faust.

Simon stellte Dominique wieder auf den Boden. Der kleine Junge lief zu Agnes und zupfte sie am Rock.

»Agnes, du mußt Mama erklären, daß ich nicht verwöhnt bin ...«

»Natürlich bist du nicht verwöhnt, mein kleiner Engel«, beruhigte sie ihn und drückte ihm ein Stück dunklen, klebrigen Kuchen in die Hand. »Sieh nur, ich habe dir Lebkuchen mitgebracht. Und für mich auch«, fügte sie hinzu und stopfte sich lachend ein Stück in den Mund. Agnes konnte sich wie eine Erwachsene benehmen und im Handumdrehen wie ein kleines Kind. In Wahrheit war sie fünfzehn Jahre alt und ziemlich klein. Aber Gabrielle fiel auf, daß Agnes allmählich Rundungen entwickelte und die Männer sich die Köpfe nach ihr ausrenkten.

»Schau, Mama!« rief Dominique und zeigte seiner Mutter den Leckerbissen.

Gabrielle lächelte ihren Sohn an und schüttelte den Kopf. »Ach, Agnes, du sollst das nicht machen! Jetzt wird er beim Abendessen keinen Appetit haben.«

»Abendessen!« rief Simon erschrocken. »Du lieber Himmel! Ich habe dem Vicomte de Saint-Romain versprochen, den Kupferstich noch vor dem Abendessen abzuholen!«

Gabrielle schob den Hocker zurück und stand auf. Sie zog den Arbeitskittel über den Kopf und warf ihn auf den Ladentisch. Dann glättete sie den Rock ihres billigen Baumwollkleides. »Ich hole ihn für dich. Wo wohnt er?«

»Nein!« rief Simon so laut, daß der kleine Laden von seiner Stimme widerhallte.

Alle sahen ihn erstaunt an. »Warum nicht?« wollte Gabrielle schließlich wissen.

»Warum nicht? Warum nicht?« wiederholte Dominique wie ein Papagei, bevor er das ganze Stück Lebkuchen auf einmal in den Mund schob.

»Weil ... weil das eben nicht richtig wäre.«

»Warum nicht?« fragte Agnes.

Simon wurde rot und murmelte. »Weil eben ... Der Stich ist von Arentino, verstehst du, sonst würde ich nicht ... Er ist wirklich ziemlich wertvoll, aber er ist ein wenig ... eigenartig.«

»So?« entgegnete Gabrielle.

Simon seufzte und wurde dabei noch röter. »Er trägt den Titel ... ›Unzucht‹.«

»›Unzucht!‹« johlte Agnes. »Monsieur Simon! Kaufen Sie jetzt vulgäre Bilder?«

Simon richtete sich zu voller Größe auf. »Es ist ein bedeutendes Kunstwerk, auch wenn es ein wenig, nun ...«

Agnes johlte vor Lachen.

»Ist schon in Ordnung, Simon«, lachte Gabrielle. »Ich bin bestimmt keine Unschuld, aber wenn es dich beruhigt, dann verspreche ich dir, das Bild nicht anzusehen.« Sie lachte noch einmal. »Zumindest nicht genau.« Sie drückte Dominique einen Kuß auf die runden Wangen. »Sei brav, mein Kleiner. Ich bin bald zurück.«

»Der Vicomte de Saint-Romain wohnt über dem Café de Foy«, rief Simon ihr beunruhigt nach. »Ich habe für das Bild bereits bezahlt, laß dir also nichts anderes einreden.«

Als Gabrielle gegangen war, hörte sie noch Dominique mit seiner hohen Stimme fragen: »Agnes, was heißt Unzucht?« Gabrielle dachte schaudernd an die deftigen Erklärungen, die Agnes dafür haben mochte.

Die Sonne brannte heiß auf die Parkwege. Gabrielle überlegte, ob sie umkehren und einen Hut holen sollte, ließ es aber sein. Simon hatte es womöglich schon wieder bereut, daß er sie zu dem zügellosen Vicomte geschickt hatte, um sein freches Bild abzuholen. Er wollte sie nur beschützen, aber von den Dingen, vor denen sie tatsächlich Schutz brauchte, hatte er keine Ahnung.

Sie hatte Simon nie etwas davon erzählt, was sie an jenem kalten Novembernachmittag veranlaßt hatte, in seinen Laden zu kommen und den Ring zu verpfänden, damals an dem Tag, an dem Dominique zur Welt gekommen war. Vermutlich erriet er, was sie in den langen Monaten danach durchgemacht hatte, bis das Schicksal in Gestalt der kleinen Prostituierten namens Agnes sie vor einem Jahr wieder Simon Prions Weg kreuzen ließ.

Er hatte Gabrielle allen als eine Verwandte seiner Frau vorgestellt und erzählt, sie sei die Witwe eines Neffen – den es nicht gab –, der bei einem Perückenmacher in Versailles in der Lehre gewesen war. Prion überredete Gabrielle sogar, den Namen Prion zu benutzen – »um das Gerede zum Verstummen zu bringen«, wie er behauptet hatte. Anfangs hatte sie gedacht, er würde von ihr erwarten, mit ihm zu schlafen, aber er hatte sie nicht einmal angerührt. Eines Abends war er ein wenig betrunken gewesen und hatte ihr gestanden, daß er zwar nie in Erwägung gezogen hatte zu heiraten, sich aber immer eine Tochter gewünscht hatte. Seit Gabrielle in sein Leben getreten war, redete er sich ein, daß er endlich seine Tochter hatte. Gabrielle hatte ihm mit Tränen in den Augen zugehört, aber auch jetzt nicht gewagt, ihm von ihrer Vergangenheit zu erzählen, weder von Martin noch vom Herzog und vor allem nicht von dem verhaßten Louvois. Nicht einmal ihren Namen hatte sie ihm genannt. Alles, was Simon wußte, war, daß sie an einem kalten, trüben Tag im November vor vier Jahren in seinen Laden gekommen war, um einen Ring zu verpfänden.

Jetzt war es Sommer, und im Palais Royal herrschte lebhaftes Treiben. Prächtig gekleidete Kurtisanen spazierten durch den Park und ließen vor gaffenden Passanten aus der Provinz ihren Charme spielen. Noch vor dem nächsten Morgen würden sie diesen Spießbürgern ihr Geld abgeknöpft haben. Zwei politische Redner standen auf Bänken und überschrien einander, während ein Quacksalber eine Kur gegen die Englischen Pocken so lautstark anpries, daß er die beiden damit übertönte. Ein wohlhabender Bürger führte seinen Hund spazieren und machte an einem Verkaufsstand unter einem Kastanienbaum halt, um Lakritzensaft zu kaufen.

Gabrielle kam an den teils aus Holz, teils aus Stein errichteten Arkaden vorbei. Vor einigen Jahren hatte der Herzog von Orléans – ein Vetter des Königs und einer der reichsten Männer Frankreichs – die Idee gehabt, in drei Flügeln seines Palastes Geschäfte und Wohnungen unterzubringen und damit noch mehr Geld zu verdienen. Jetzt war das Palais Royal ein Vergnügungszentrum mit Kasinos und Bordellen, Restaurants, Kaffeehäusern, Bücherläden, Badehäusern; natürlich durften Pfandleihanstalten nicht fehlen.

Vor einem Spielclub forderte ein Anreißer Gabrielle scherzend auf, doch ihr Glück zu versuchen. Sie lachte und warf ihm eine Kußhand zu.

Im Café de Foy hielt sie einen Servierkellner an, der ein Tablett mit Mokkatassen balancierte, und fragte ihn, wo der Vicomte de Saint-Romain zu finden sei.

Der Kellner dachte kurz nach, dann wies er mit dem Kopf nach oben. »Ich glaube zwei Treppen höher. Im Appartement auf der Parkseite.«

Im Treppenhaus roch es unangenehm nach Parfum. Aus einer offenen Tür drangen das Lachen einer Frau und das Rasseln von Würfeln.

Höflich klopfte Gabrielle an die Tür zum gartenseitigen Appartement. Niemand antwortete. Sie klopfte lauter.

»Ach, verdammt!« fluchte eine leise, tiefe Stimme. »Scher dich davon.«

Gabrielle zögerte, dann hämmerte sie ungestüm mit der Faust an die Tür.

»Zur Hölle!«

Sie konnte den Klang von Schritten vernehmen, und die Tür wurde aufgerissen. »Was willst du? Ich ... Du lieber Gott! Wer sind Sie?«

Gabrielle blickte auf ... und erstarrte.

Sie wollte etwas sagen, brachte aber nichts heraus als sinnloses Gestammel. Mit offenem Mund starrte sie ihr Gegenüber an und schnappte atemlos nach Luft.

Er war groß. Das war das erste, was ihr an ihm auffiel, denn sie mußte den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Gesicht war hart, um seinen Mund spielte ein grausamer Zug, und die grauen Augen waren zusammengekniffen, trotzdem sah er ausgesprochen gut aus. Er hatte eine schmale, edle Nase, hohe Backenknochen und eine straffe Haut. Seine dunkelbraunen Haare waren nicht gepudert und wurden von einem schmalen Band zusammengefaßt.

»Was wollen Sie?« fragte er, diesmal etwas sanfter. Er sprach mit tiefer, zärtlicher Stimme und senkte dabei die Lider mit den langen Wimpern tief über die Augen.

Gabrielles Mund war trocken, und ihr stockte der Atem. Schließlich brachte sie hervor: »Monsieur Prion schickt mich.«

»So? Wie großzügig von ihm.«

»Ja, Monsieur«, antwortete sie, und seine Anspielung trieb ihr die Röte ins Gesicht. Zumindest konnte sie jetzt wieder normal atmen. Sie sind doch alle gleich, dachte sie halb enttäuscht, halb erleichtert. Diese gelangweilten Aristokraten hatten nichts anderes im Kopf als das nächste amouröse Abenteuer. Warum sollte dieser zügellose Vicomte mit seinem pornographischen Kupferstich anders sein?

Sie versuchte, an ihm vorbei das Zimmer zu betreten, aber er blieb in der Tür stehen und starrte sie derart arrogant und unverschämt an, daß sich Gabrielle in ihrem Stolz herausgefordert fühlte.

Aus diesem Stolz heraus lächelte sie ihn freundlich und vielversprechend an, ohne die geringste Absicht, dieses Versprechen zu erfüllen. Früher hatte sie dieses Lächeln oft benutzt, und sie kannte seine Wirkung.

Spöttisch erwiderte er ihr Lächeln.

»Kommen Sie doch bitte herein«, bat er und öffnete weit die Tür.

Gabrielle trat ein und sah sich um. Zum zweiten Mal innerhalb einer Minute stockte ihr der Atem.

Sie befand sich in einem Laboratorium. Tische, Bänke und Simse waren vollgestellt mit Flaschen, Destillierapparaten, leeren Bechergläsern und solchen mit geheimnisvollen Flüssigkeiten. Auf einem Tisch stand, zwischen Stapeln von Büchern, ein Mikroskop. Am Fenster wies ein riesiges Fernrohr gegen den Himmel. Obwohl es heller Tag war, brannten Dutzende Kerzen, und ihr Licht spiegelte sich in den unzähligen Gläsern und den Spiegeln an den Wänden.

Aber das Erstaunlichste befand sich in der Mitte des Raums. Es sah aus wie die Miniatur einer Montgolfiere, eines Heißluftballons. Er maß etwa einen halben Meter im Durchmesser und war aus dünnem Leinen oder aus Seide gefertigt. Sie schwebte über einem Metallkanister, aus dem eine blaue Flamme emporzischte. Der Ballon schien immer größer zu werden, während Gabrielle ihn anstarrte.

»Warum?« fragte er.

Gabrielle drehte sich um. Der Mann stand so nahe hinter ihr, daß sie unsicher den Blick senkte. Sein weißes Leinenhemd stand am Hals offen und seine glatte, braune Brust glänzte schweißnaß. Er hatte eine schmale Taille, und seine Kniehose saß so eng um die Hüften, daß sich jeder Muskel abzeichnete. Nackt muß er einfach wunderbar aussehen, dachte Gabrielle.

Sie erschrak über sich selbst und hob rasch den Kopf. Aus seinen grauen Augen funkelte ihr wissender Spott entgegen. Gabrielle wurde rot und wandte den Blick ab. Unbegreiflich, wieso sie auf solche Gedanken kam! Du lieber Himmel, sie war schon beinahe so schlimm wie Agnes, die keinen Mann ansehen konnte, ohne seine Qualitäten im Schlafzimmer abzuschätzen.

»Warum?« wiederholte er geduldig.

»Warum was? Sie meinen, warum ich hier bin?«

Er lächelte belustigt, und sein Gesicht wirkte plötzlich viel weicher. »Ja, das habe ich gemeint. Sie werden es mir hoffentlich gleich sagen. Ja?«

Gabrielles Blick wanderte unruhig zwischen dem Vicomte und dem immer größer werdenden Ballon hin und her. Er vergrößerte sich, das war eindeutig. Sie war erst ganz kurz hier, aber das Ding hatte mittlerweile bestimmt seinen Umfang verdoppelt. »Ich bin wegen der ›Unzucht‹ gekommen«, antwortete Gabrielle gedankenlos; der Mann und der sich vergrößernde Ballon lenkten sie gleicherweise ab.

»›Unzucht‹ ...« Der Mann lachte; er hatte ein warmes, heiseres Lachen. »Gott segne Monsieur Prion, wer er auch sein mag. Ich muß zugeben, so offen wurde mir noch nie ein Antrag gemacht«, fügte er leise hinzu. »Es gefällt mir.« Er legte ihr einen Arm um die Taille und wollte sie an sich ziehen.

Gabrielle verlor das Gleichgewicht, stolperte und mußte sich an seinem Ärmel festhalten, um nicht zu fallen. Er spannte seine Armmuskeln an und zog sie an die Brust. Sogar durch ihre voluminösen gesteppten Röcke hindurch spürte Gabrielle jeden seiner gespannten Muskeln, seinen flachen Bauch ... einfach alles.

Ihr Gesicht lag so dicht an seinem Hals, daß sie ihn hätte küssen können. Sie öffnete die Lippen ...

»Seien Sie doch kein Narr!« fuhr Gabrielle ihn an und machte sich mit mehr Ungestüm von ihm los, als notwendig gewesen wäre. »Ich habe nicht die Absicht, Ihre dummen Spielchen mitzumachen.«

Seine Augen waren beinahe wieder geschlossen, und er wirkte irgendwie gefährlich. »Und ich will Ihre Spiele nicht spielen. Wer schickt Sie?«

»Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Monsieur Prion. Wiederholen Sie immer ein und dieselbe Frage mehrmals? Das ist äußerst einfallslos.«

Er lachte. »Beantworten Sie Fragen immer mit unsinnigen Feststellungen? Das ist ebenfalls einfallslos.«

Die seltsame Art des Vicomte verunsicherte Gabrielle, und sie wußte nichts zu sagen. Er beobachtete sie. Es ist viel zu warm hier, dachte sie und hob ihre langen, schweren Haare im Nacken hoch. Warum mußte er so dicht vor ihr stehen! Sie konnte kaum atmen. War der Mann vielleicht verrückt? Du lieber Himmel, war es heiß hier. Die vielen Kerzen! Und der Ballon ... Der Ballon war ziemlich groß geworden. Seine Hülle war beinahe durchsichtig geworden, so sehr hatte sie sich ausgedehnt und war mittlerweile so gespannt, daß man meinte, sie könne jeden Augenblick ...

»Monsieur«, rief Gabrielle plötzlich, »ich glaube, Ihre Montgolfiere wird gleich platzen!«

Der seltsame Mann wandte sich nicht einmal um, sondern ließ Gabrielle, die hochrot geworden war, nicht aus den Augen. »Es ist keine Montgolfiere. Montgolfieren sind mit heißer Luft gefüllt. Dieser Ballon ist mit Wasserstoff gefüllt. Mit brennbarer Luft. Ich nenne ihn Aerostat.«

Brennbarer Luft? Der Mann war eindeutig verrückt.

Die Kerzen flackerten im Luftzug, und der Ballon schwankte sanft, während er weiterhin größer und größer wurde ...

Gabrielle wollte zur Tür. »Ganz gleich, wie Sie das Ding nennen, Monsieur, es wird jeden Augenblick zerplatzen.«

Endlich blickte er doch auf den Ballon. Dann sah er Gabrielle an und grinste waghalsig. »Ich glaube, Mademoiselle, Sie haben recht.«

Er stürzte sich auf Gabrielle und warf sie zu Boden; im selben Moment erschütterte eine gewaltige Explosion das Gebäude.

Alles Glas im Raum zersprang in tausend Stücke. Die Wände zitterten, und der Fußboden schwankte. Das Getöse verebbte allmählich, ein paar Spiegelscherben fielen klirrend zu Boden, dann herrschte Stille.

Gabrielle öffnete die Augen. Zwischen ihr und der Zimmerdecke zogen Staubwolken durch die Luft. In ihren Ohren war ein dumpfer Druck, als würde sie unter Wasser schwimmen.

Der seltsame Vicomte lag in voller Länge auf ihr und drückte mit seiner Brust ihre Brüste flach. Seine Schenkel lagen zwischen ihren Beinen, und sein Gesicht war so nahe, daß sie die winzigen Falten um seine Augen sah und seine unglaublich langen Wimpern über ihre Wangen strichen, wenn er blinzelte; sein Mund wirkte nicht mehr so hart und grausam. An seinem Hals pochte sein Puls, und Gabrielle bemerkte, wie die Schläge immer schneller wurden.

»Sie liegen auf mir, Monsieur«, bemerkte Gabrielle und wünschte, sie hätte es nicht gesagt. Er kam vielleicht auf unliebsame Gedanken. Auch ihr kamen diese Gedanken.

Er schwieg und sah sie ernst an. Dann schob er seinen Leib ein wenig zur Seite, und Gabrielle spürte ein eigenartiges Flattern in ihrem Bauch.

Er berührte ihre Wange mit seinen Fingerspitzen. »Sie bluten ein bißchen. Es ist nur ein Kratzer.«

Gabrielle mußte über seine leidenschaftslose Feststellung lächeln. Nur ein Kratzer. Als wären sie nicht beide soeben dem Tod entgangen! Vermutlich war er ein wenig verrückt, aber vielleicht fand sie ihn gerade deshalb so aufregend.

Der verrückte Vicomte strich ihr über Wangen und Stirn und zeichnete mit den Fingern die Konturen ihres Gesichts nach. Die Berührung seiner rauhen, schwieligen Hand jagte Gabrielle eine Gänsehaut über den Rücken.

»Ihr Experiment hat einen höchst unheilvollen Verlauf genommen, Monsieur.« Gabrielle wollte mit dieser Bemerkung nur das flaue Gefühl in ihrem Bauch bekämpfen, aber ihre Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren zittrig und atemlos.

»Ganz im Gegenteil ...« Der Mann beugte sich näher zu ihr hin, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Sie glaubte, er würde sie küssen. Sie wünschte es. »Es war ein durchschlagender Erfolg«, stellte er mit leiser, sanfter Stimme fest.

Gabrielle schloß die Augen und öffnete seufzend den Mund. Seine Lippen berührten die ihren ...

»Der Teufel soll dich holen, Max, du Halunke! Willst du uns alle umbringen?«

Gabrielle riß die Augen auf. Der Mann wandte das Gesicht etwas zur Seite und sah die Frau, die ins Zimmer gestürzt war, aus halb geschlossenen Augen an.

»Verschwinde, Sophie! Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin?«

Die Frau hatte die Hände auf die Hüften gestützt und betrachtete die beiden Gestalten auf dem Boden. »Du bist wirklich unverbesserlich, Max. Dafür ist jetzt keine Zeit!« Sie sah sich in dem Trümmerfeld um. »Verdammt! Sämtliche Fenster sind zerbrochen und meine Kunden, ich meine Gäste, wurden zu Tode erschreckt.«

Gabrielle stemmte sich gegen die Brust des Mannes. »So stehen Sie doch endlich auf, Sie Flegel!«

Er erhob sich lachend und zog Gabrielle mit sich hoch. Er hatte sie schon längst losgelassen, aber Gabrielle fühlte immer noch den prickelnden Druck seiner Finger auf ihrem Handgelenk.

Die Frau nahm Gabrielle von oben bis unten in Augenschein, während Gabrielle sich Mühe gab, ihr Äußeres wieder in Ordnung zu bringen. Das Brusttuch war verrutscht, und Gipsstaub bedeckte Kleider und Haare. Von einem ihrer Schuhe war der Absatz abgebrochen, so daß sie vollkommen schief stand.

Gabrielle hatte die Frau früher schon einmal gesehen, auch wenn sie nie miteinander bekannt gemacht worden waren, denn Sophie Restonne war wohlbekannt im Palais Royal. Die Zeit von Jugend und Schönheit hatte diese Frau bereits hinter sich gelassen, aber Sophie Restonne verstand es, diesen Umstand mit einem geschickt geschminkten Gesicht und einer gekonnt gepuderten Frisur zu überspielen. Sie trug immer aufwendige teure Kleider und Reifröcke mit Bändern und Volants. Sie bewohnte ein Appartement über dem Café de Foy, wo sie gemeinsam mit mehreren »Schwestern« ein Etablissement betrieb, in dem man zu jeder Tages- oder Nachtzeit Rouge et Noir spielen oder zwischen Blonden und Brünetten wählen konnte.

»Die habe ich noch nie gesehen, Max«, stellte Sophie mit falscher Freundlichkeit fest. »Wer ist sie?«

Max zuckte die Achseln und betrachtete Gabrielle gelassen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

»Jetzt reicht es aber!« rief Gabrielle und schüttelte sich zornig den Staub aus den Röcken. »Sie müssen verrückt sein. Zuerst verkaufen Sie Monsieur Prion einen Kupferstich, und dann tun Sie so, als würden Sie ihn nicht kennen. Sie lassen es zu, daß dieser Aero –, wie das Ding auch heißen mag ...«

»Aerostat.«

»... daß er zerplatzt ...«

»Welchen Kupferstich?« fragte Sophie.

»Ja, welchen ...« begann Max, aber Gabrielle hatte nur Luft geholt und fuhr gleich wieder fort: »Dann werfen Sie mich zu Boden und fallen über mich her ...«

»Es ist mir nicht aufgefallen, daß Sie sich gewehrt hätten ...«

»Ich wollte ... ich hätte mich gewehrt, wenn Sie ... ach, egal! Was mich betrifft, Vicomte, können Sie zur Hölle fahren! Und nehmen Sie Ihren unanständigen Kupferstich mit, dort paßt er zweifellos hin!«

»Vicomte!« kreischte Sophie. »Schäm dich, Max! Seit wann bist du so tief gesunken, daß du Lügen erzählst, um eine Frau ins Bett zu bekommen?«

Gabrielle humpelte auf ihrem absatzlosen Schuh an ihm vorbei, doch Max hielt sie auf. »Warten Sie«, bat er in leisem, aber bestimmtem Ton und packte sie am Arm.

Eine dunkle Vorahnung drängte sich Gabrielle auf. »Sie ... Sie sind nicht der Vicomte?«

Er sah sie nachdenklich an, dann lächelte er verschmitzt. »Mein Bruder ist ein Vicomte. Ich bin einfach nur Monsieur.«

»Monsieur de Saint-Romain?«

Er schüttelte den Kopf. »Maximilien de Saint-Just.«

»Max, du bist ein Schurke!« lachte Sophie. »Ihr solltet euch zumindest vorstellen, bevor ihr ...«

»Verschwinde, Sophie!« befahl er, und ihr helles Gelächter brach abrupt ab.

Sophies geschminkte Wangen wurden zuerst rot, dann bleich. »Und was ist mit meinen zerbrochenen Fenstern? Gleich wird die Gendarmerie hier sein, das kannst du mir glauben, und ...«

Er antwortete nicht. Sie zögerte noch einen Augenblick. »Nun, wirklich!« Mit wogenden Röcken stürmte sie wütend aus dem Zimmer.

Die beiden bemerkten es nicht einmal. Max’ Blick ruhte auf Gabrielles Gesicht. Gabrielle empfand den zwingenden Blick dieser geheimnisvollen grauen Augen so intensiv wie einen Kuß. Der Druck seiner Finger auf ihrem Arm brannte wie Feuer durch den Stoff ihres Kleides. Sie hörte ihren Atem, sie hörte Max atmen. Sie atmeten beide im Gleichklang ...

Gabrielle schüttelte seine Hand ab und wollte rückwärtsgehend den Raum verlassen. »Ich ... ich habe einen dummen Fehler begangen.«

»Haben Sie?« Max machte wieder einen Schritt auf sie zu.

Gabrielle spürte die Tür im Rücken, tastete mit den Fingern nach der Klinke und zog die Tür auf. »Ich habe jemand anderen gesucht.«

»Und mich gefunden.«

»Nein ...« Sie drehte sich rasch um und lief durch den Korridor zur Treppe.

Vor dem Café de Foy hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ein Mann zupfte Gabrielle am Arm, als sie aus der Tür stürzte.

»Was ist geschehen, Mademoiselle? Was war das?«

Ohne auf die Fragen zu achten, bahnte sich Gabrielle einen Weg durch die Menge. Sollte er doch selbst erklären, was geschehen war, warum er Aero-dings – Aerostate – mit brennbarer Luft aufblies! Das sollte gesetzlich verboten sein. Vielleicht erfuhr der König davon, dann ließe er ihn verhaften und in eine Zelle in der Bastille werfen. Recht würde es ihm geschehen, weil er versucht hatte, sie zu küssen. Ich habe nicht bemerkt, daß Sie sich gewehrt haben. In der Erinnerung klangen die Worte noch sarkastischer als in Wirklichkeit. Der sollte noch einmal versuchen, sie zu küssen! Sie würde es ihm zeigen!

»Hast du die Explosion gehört?« fragte Agnes aufgeregt, kaum daß Gabrielle den Laden betreten hatte. »Angeblich hat irgendein verrückter Adliger mit Schießpulver experimentiert. Er ist dabei gestorben, und eine Hure, die er ... Ach, du lieber Himmel! Du blutest ja!«

Gabrielle drückte den Handrücken auf ihre Wange. »Es ist nur ein Kratzer. Wo ist Dominique?«

»Monsieur Simon hat ihn mitgenommen; er bringt den Sack mit den alten Kleidern, die wir nicht verkaufen konnten, zu den Lumpensammlern. Sie sind eben erst fortgegangen. Es wundert mich, daß du sie nicht gesehen hast. Was ist mit dir geschehen? Du siehst aus, als hättest du dich im Staub gewälzt.«

»Ich bin über einen Stein gestolpert.«

Gabrielle sah beunruhigt zum Fenster hinaus und unterdrückte den Wunsch, sofort ihrem Sohn nachzulaufen. Es war nicht gut für den Jungen, wenn sie jeden seiner Schritte überwachte, das wußte sie. Außerdem unterschied sich Dominique in nichts von anderen kleinen Jungen. Niemand würde auf den Gedanken kommen ... In Simons Begleitung war er sicherer als in ihrer. Er könnte Simons Enkel sein.

Erst jetzt bemerkte sie, daß Agnes etwas gesagt hatte. »Entschuldige, wie war das?«

»Wir wollen uns Monsieur Simons unanständiges Bild anschauen, solange er fort ist.« Agnes sah Gabrielle erwartungsvoll an. »Wo ist das Bild?«

Schuldbewußt gab Gabrielle zu: »Ich habe es nicht bekommen. Simon muß mich in das falsche Appartement geschickt haben.«

Simon und Dominique kehrten bald zurück; das Bündel Kleider waren sie losgeworden, aber Dominique trug einen seltsamen Filzhut mit einer schmutzigen, zerbrochenen Feder auf dem Kopf. Die weiche Krempe des Hutes ragte dem Jungen in die Stirn, und die herunterhängende Feder ringelte sich vor seinem Auge. Agnes und Gabrielle brachen in Gelächter aus.

Simon tauschte einen Blick mit Gabrielle und erklärte achselzuckend. »Als er das Ding gesehen hat, mußte er es unbedingt haben.«

»Der Hut hat einem Esel gehört, Mama«, erzählte Dominique. »Aber der nette Mann hat ihn uns um einen Livre ...«

Ohne sich um das Protestgeschrei des Jungen zu kümmern, riß Gabrielle ihrem Sohn den Hut vom Kopf. »Du lieber Himmel! Er ist vermutlich voll von Zecken und Läusen!« Mit den Fingerspitzen reichte sie Agnes den Hut. »Nimm ihn in die Küche, Agnes, und halte ihn über das Feuer. Vielleicht kannst du so das Ungeziefer ausräuchern.«

»Wo ist der ... nun du weißt schon, was?« fragte Simon, sobald Agnes und der Junge den Laden verlassen hatten.

Gabrielle schob die Haare aus der geröteten Stirn. »Simon, du bist ein gedankenloser Tropf! Du hast mich in das falsche Appartement geschickt. Es war sehr peinlich. Dir habe ich es zu verdanken, daß ich mich komplett zum Narren gemacht habe ...«

»Das Appartement über dem Café de Foy?«

Gabrielle nickte.

»War der Vicomte de Saint-Romain nicht dort?«

»Nein. Statt dessen traf ich einen arroganten Wissenschaftler, der Sachen aufbläst. Er rennt die Leute um und hat versucht, mich zu küssen ...«

Aber Simon war schon aus dem Laden gelaufen.

Eine halbe Stunde später kam er mit gerötetem Gesicht zurück und murmelte etwas vor sich hin. Der Vicomte de Saint-Romain war seit zwei Wochen verschwunden und hatte nichts als einen Berg Spielschulden zurückgelassen.

»Fünfhundert Livres!« jammerte Simon und raufte sich die Haare. »Ich hätte den Stich sofort an dem Tag, an dem ich ihn gekauft habe, mitnehmen sollen. Aber ich hatte mit dem Schreibpult und dem schweren marmornen Schachspiel schon mehr als genug zu tragen. Du lieber Gott, fünfhundert Livres ... ›Ich muß jetzt nach Versailles zum König‹, hatte er gesagt, ›aber kommen Sie in zwei Wochen, dann gebe ich Ihnen den Stich.‹ Ich war ein Narr, daß ich ihm vertraut habe, nur weil er gute Manieren und gute Verbindungen hatte. Diese verdammten Aristokraten. Ich sage dir, Gabrielle, sie finden nichts dabei, wenn sie uns bestehlen. So als wären wir keine Menschen! Daher zählt es nicht für sie. Er muß an dem Tag, nachdem ich das Bild gekauft habe, abgereist sein und hat das Appartement bis auf die nackten Wände ausgeräumt. Es ist bereits wieder vermietet. Du guter Gott, fünfhundert Livres!« Simon seufzte.

»Hast du mit ihm gesprochen?« fragte Gabrielle und gab sich Mühe, gleichgültig zu klingen. »Mit dem Mann, der jetzt dort wohnt. Vielleicht weiß er, wohin sich dieser diebische Vicomte abgesetzt hat.«

»Ob ich mit wem gesprochen habe? Ach, du meinst den Mann, der Ballons aufbläst. Nein, nein, er war nicht da. Ich habe mit Sophie Restonne gesprochen. Sie hat mir meine Befürchtung bestätigt. Dieser Halunke von Saint-Romain! Ich werde weder meinen Kupferstich noch meine fünfhundert Livres je wieder zu Gesicht bekommen.«

Nachdem Gabrielle Dominique an diesem Abend in sein Bettchen in der kleinen Stube über dem Laden gelegt hatte und neben Agnes ins Bett gekrochen war, gestattete sie sich, an ihn zu denken, an Monsieur Maximilien de Saint-Just.

Er gehörte zum Adel, hatte er doch gesagt, daß sein Bruder ein Vicomte sei. Sie hatte von einem Grafen von Saint-Just gehört; das war vermutlich sein Vater. Dieser Graf von Saint-Just war Marschall in der französischen Armee und berühmt wegen seiner Tapferkeit und Kampfeslust. Von ihm hatte Maximilien de Saint-Just vermutlich seine arrogante, aristokratische Nase. Aber er besaß weder den blassen Teint noch das laue, verweichlichte Gehabe vieler Höflinge. Seine gebräunte Haut und sein muskulöser Körper erinnerten eher an einen Dockarbeiter vom Fluß als an einen hochnäsigen Edelmann.

Früher hatte Gabrielle unter den begüterten, verwöhnten Höflingen der Salons gelebt, unter Männern, die mit leisen Stimmen flöteten und sich die Wangen rot schminkten. Später hatte sie ihr Leben unter dem Abschaum in den Straßen von Paris gefristet, zusammen mit gewalttätigen, groben Männern, die für eine Handvoll Münzen einen Mord begingen und ihre Bedürfnisse mit billigem Wein und noch billigeren Huren stillten. Aber dieser Maximilien de Saint-Just, mit seinen schwieligen, vernarbten Händen und dem hübschen Aristokratengesicht, stammte aus keiner dieser Welten, obwohl er von beiden etwas an sich hatte.

Er war ohne Zweifel gebildet, denn er war Wissenschaftler. Gabrielle lächelte – ein leichtsinniger Wissenschaftler. Ein Aristokrat mit ungehobelten Manieren und ein leichtsinniger Wissenschaftler, der noch dazu sehr gut aussah. Vermutlich gaben sich Dutzende Frauen die Klinke zu seinem Appartement in die Hand. Er würde sich wohl kaum für sie interessieren. Warum kam sie überhaupt auf solche Gedanken?

Gabrielle unterdrückte einen Seufzer. Sie konnte es sich ruhig eingestehen. Ein Blick hatte genügt, und sie hatte sich in ihn verliebt – wenn man dieses lächerliche Gefühl, das das Herz befiel, Liebe nennen mochte.

Liebe! Welcher Hohn! Man sollte meinen, daß Gabrielle dazugelernt hätte! Liebe gab es nur in Romanen. Narren träumten von der Liebe. Im wirklichen Leben stirbt der Geliebte, und man bleibt allein und schwanger zurück – und wird verfolgt.

Gabrielle schob die quälenden Erinnerungen beiseite, drehte sich um und schob die Beine zwischen die Laken. Neben ihr regte sich Agnes im Schlaf und murmelte etwas.

Und wenn er nicht stirbt, setzte Gabrielle ihre Gedankengänge fort, dann vergehen die Jahre, und man muß entdecken, daß der Angebetete entweder schwach, faul oder grausam ist. Die Frau bekommt Kinder, und der Mann nimmt sich eine Geliebte. Über kurz oder lang dreht man ihm abends im Bett den Rücken zu, blickt am Morgen in sein schlaffes, unrasiertes Gesicht und fragt sich, was man in diesem Mann einst gesehen hat, daß einem das Blut bei seinem Anblick in Wallung geriet und die Knie weich wurden, wenn er einen berührte ...

Gabrielle lächelte bitter. So endete die Liebe, ganz gleich, wie wundervoll sie begonnen hatte. Sie kannte die Wahrheit über die Liebe. Warum konnte sie dann ihr pochendes Herz nicht zur Ruhe zwingen, wenn sie daran dachte, wie sich sein Mund dem ihren genähert hatte? Warum half ihr dieses Wissen über die Liebe nicht, das quälende Verlangen zu kontrollieren, das sogar jetzt ...

»Agnes?« flüsterte Gabrielle und rüttelte die Gefährtin an den Schultern.

Agnes vergrub sich tiefer in die Kissen. »Beim Schnarchen des heiligen Petrus, ich möchte schlafen!«

»Glaubst du, daß es stimmt, was man über Männer sagt, daß sie nämlich nicht lange ohne eine Frau auskommen?«

»Waas?« Agnes grunzte und warf sich auf den Rücken. Sie deutete auf das Fenster, das auf die Straßen von Paris hinausging. »Schau dir die vielen Huren an, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, dieses Verlangen zu befriedigen, und dann sag mir, was du darüber denkst.«

»Aber glaubst du, daß es umgekehrt genauso ist? Für eine Frau. Wenn sie die Liebe einmal kennengelernt hat, will sie dann auch ...?«

»Ob sie sich auch danach sehnt, wenn sie längere Zeit ohne Liebe gelebt hat? Ich glaube, das kommt auf die Frau an. Und wie gut ihr Liebhaber gewesen ist. Wenn er ... oho!« Agnes setzte sich auf und lachte ausgelassen. »Spürst du dieses Verlangen, Gabrielle?«

»Sei nicht lächerlich.«

»Doch, es juckt dich!« triumphierte Agnes. »Und du hast den richtigen Mann dafür gefunden, stimmt es? Gib es zu!«

»Werde ich nicht tun.« Gabrielle zog die Decke über den Kopf. »Jetzt sei still und schlafe, Agnes.«

»Wer ist er? Hast du es schon gemacht?«

Gabrielle stöhnte. Sie wünschte, sie hätte das Gespräch nie begonnen. »Es gibt niemanden, ich schwöre es.«

Agnes seufzte trübselig. »Arme Seele.«

»Meine Seele ist nicht in Gefahr, das versichere ich dir.«

»Ich habe nicht deine gemeint. Ich meinte seine. Du möchtest ihn, und wenn du ihn willst, dann hat er keine Chance. Der Teufel soll mich holen, wenn du nicht der stärkste Mensch bist, den ich kenne. Wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast ...«

»Du sollst nicht fluchen.«

»Möge die Jungfrau Maria uns beide beschützen, ich habe nicht geflucht. Ich habe nur festgestellt, daß ich noch nie jemanden gesehen habe, der so entschlossen gewesen ist wie du, sobald du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast. Du machst vor nichts halt, ehe du nicht hast, was du willst. Vor nichts.«

»Schlaf jetzt, Agnes!«

Agnes rollte sich in die Decke ein, und Gabrielle hörte ihr glucksendes Lachen. Sie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht wie Agnes handfest zu fluchen.

Viele Minuten verstrichen. Gabrielle starrte in die Dunkelheit und hörte Agnes’ rhythmische Atemzüge. Hatte Agnes recht? War sie tatsächlich so entschlossen und würde vor nichts haltmachen, bis sie erreicht hatte, was sie wollte? Sie dachte an Martin. Er hatte ihr seine Liebe zuerst gestanden, aber sie hatte sich ihn in den Kopf gesetzt ... Sie hatte zugelassen, daß Martin für sie sein Leben ruinierte. Weil sie ihn gewollt hatte. Die Liebe hatte sie beide zerstört.

Gabrielle schloß krampfhaft die Augen und versuchte, sich Martin vorzustellen, aber das Bild vor ihrem geistigen Auge blieb verschwommen. Der Schmerz darüber, daß sie ihn verloren hatte, war zwar vorhanden, aber er war gedämpft. Es kam Gabrielle vor, als wäre alles vor langer Zeit geschehen, als wäre es jemand anderem zugestoßen, einer anderen Frau, die sie einst gut gekannt, aber seit langer, langer Zeit nicht mehr gesehen hatte.

»Martin.« Gabrielle flüsterte seinen Namen in die Dunkelheit hinein, aber als sie die Augen schloß, sah sie nicht sein Gesicht. Sie sah zwei graue Augen und ein spöttisches Lächeln.

Zur selben Zeit stieg draußen in Versailles, fünfzehn Kilometer von Paris entfernt, ein kleiner Mann aus einer schwarzen Kutsche und erklomm die Stufen zu einem eleganten Haus neben dem königlichen Schloß. Man hatte ihn bereits erwartet, denn die Tür wurde geöffnet, ohne daß er klopfte. Er überreichte einem Diener in schwarz-goldener Livree Hut und Stock, das Licht der Leuchter in der großen Empfangshalle spiegelte sich in den dicken Brillengläsern des Neuankömmlings. Unbewußt berührte er die entstellende Narbe auf seiner Wange.

»Der Herzog erwartet Sie bereits in seinem Schlafgemach, Monsieur Louvois«, begrüßte ihn der Diener.

Die Absätze von Louvois’ Schuhen klickten auf dem Marmorboden, als er zur Treppe schritt. Er kannte den Weg. Seit mehr als zehn Jahren war er Verwalter und Anwalt des Herzogs von Nevers und dazu sein engster, vertrautester Freund.

Sein Kammerdiener und zwei Diener halfen dem Herzog von Nevers bei den Vorbereitungen für die Nacht. Als Louvois das Schlafgemach betrat, stand der Herzog nackt vor ihm und kratzte sich. Sein Bauch hing schlaff wie ein halbvoller Sack über die dünnen Beine. Auf seiner weißen Brust wuchs kein einziges Haar. Er war dreiundsechzig Jahre alt und sah nicht einen Tag jünger aus.

»Sie kommen spät, Louvois«, empfing er den Besucher.

Louvois’ vorstehende Augen blinzelten hinter der Brille.

»Ich bitte um Vergebung, Durchlaucht.«

Der nackte Körper des Herzogs erinnerte Louvois an eine Schnecke, die soeben unter einem Stein hervorgekrochen war. Kein Wunder, daß die Herzogin sein Bett mied und sich lieber auf den Landsitz der Nevers in Burgund zurückzog. Aber Louvois verbarg diese Gedanken vor seinem Herrn, als er ihm jetzt seine untertänigste Aufmerksamkeit zukommen ließ.

Der Herzog war soeben erst aus dem Schloß zurückgekehrt, wo er dem Coucher von Ludwig XVI. beigewohnt hatte. Es war ein besonderes Privileg, den König zu Bett zu begleiten. Nur Adeligen, deren Titel vier Generationen zurückverfolgt werden konnte, war es gestattet, dem König die Perücke abzunehmen, ihm das Nachtgewand anzulegen und den Nachttopf aus Perlmutt zu entleeren. Louvois hielt das Ritual des Coucher für erniedrigend – doch er hätte dem Teufel seine Seligkeit für das Privileg geboten.

Aber das war natürlich undenkbar. Er konnte ein Vermögen erwerben, er konnte sogar einen Adelstitel kaufen, aber es gab nichts, was man gegen eine zweihundert Jahre alte ehrwürdige Ahnenreihe eintauschen konnte.

Louvois nahm vom Kammerdiener das gefaltete Nachthemd in Empfang und reichte es dem Herzog. Das ist mein Schicksal, dachte er bitter. Dem Mann das Nachthemd zu reichen, der seinerseits dem König das Nachthemd reichte.

Der Herzog spuckte seine Zähne in die Hände seines Kammerdieners, und Louvois wandte das Gesicht ab, um seinen Abscheu zu verbergen. Es waren echte Zähne, keine aus Holz. Man hatte sie einem während der Amerikanischen Revolution in der Schlacht gefallenen Rotrock gezogen und später mit Draht verbunden. Sie paßten nicht gut, und der Herzog bekam davon Zahnfleischbluten. Jeden Abend mußte er den Schmerz mit einem Glas Wein lindern.

Der Herzog kroch ins Bett und machte es sich zwischen den Satinlaken bequem. Er schlürfte seinen Wein, während Louvois neben dem Bett stand und ihm erzählte, was sich tagsüber zugetragen hatte und was morgen zu erledigen sei. Louvois stand dem Herzog näher als jeder andere, aber es kam dem Herzog nie in den Sinn, ihm Platz anzubieten oder ihm ein Glas Wein anzubieten.

Als das Gespräch allmählich dem Ende zuging, richtete der Herzog seinen Blick auf das Porträt seines einzigen Sohns über dem Kamin. Das Gesicht auf dem Bild war hübsch, mit weichen kastanienfarbenen Locken und traurigen braunen Augen, aber es fehlte ihm Charakter. Das Bild war ein Jahr vor dem Tod des jungen Mannes gemalt worden; er war damals siebzehn Jahre alt gewesen.

Louvois wußte, was nun kommen würde, denn dieses Gespräch hatten sie schon oft geführt.

»Neuigkeiten?« fragte der Herzog.

»Nein, nichts, Durchlaucht.«

»Vielleicht ist das Kind tot.«

»Vielleicht«, pflichtete Louvois ihm bei.

»Er muß tot sein, sonst hätten Sie ihn mittlerweile gefunden. Vielleicht ist er bei der Geburt gestorben und die Schlampe mit ihm.«

Die nicht, dachte Louvois und tastete über die Narbe auf seiner Wange. Es brauchte mehr als die Geburt eines Kindes, um diese Schlampe umzubringen.

»Er müßte mittlerweile vier Jahre alt sein«, überlegte der Herzog. »Mein Enkel ... falls er noch am Leben ist.«

»Ja, beinahe vier Jahre.«

Seit vier Jahren suchte Louvois nach ihr. Einmal hatte er sie beinahe gehabt. Sie war ihm so nahe gewesen, daß er nur die Hand aus dem Kutschenfenster hätte strecken müssen, um ihr Gesicht zu berühren. Aber sie war davongelaufen, hatte sich im Viertel der Fleischer versteckt, und seine dämlichen Lakaien hatten ihre Spur verloren. Das hatte ihn jedoch nicht entmutigt, damals nicht. Er war davon überzeugt, daß sie ihm nicht für immer entgehen konnte. Dazu sah sie zu gut aus. Sie fiel auf, besonders den Männern. Und wer sie einmal gesehen hatte, der vergaß sie nicht. Louvois hatte die Macht und das Geld der Nevers auf seiner Seite. Sie hatte nichts. Kein Geld, keine Familie, nichts.

Dennoch hatte sie sich ihm entzogen. Sie war nicht tot, davon war Louvois überzeugt. Sie hatte überlebt, auch wenn er hoffte, daß es nicht leicht für sie gewesen war. Er hoffte, daß sie gelitten hatte, daß sie jetzt litt. Er hoffte, daß sie ihren Körper auf den Straßen für ein paar Sous an derbe Männer verkaufte – an Gerber, Schuster, Kaminfeger –, an Männer mit schmutzigen Händen und stinkendem Atem, die sie grob erniedrigten, die ihren Stolz brachen –

Ein stechender Schmerz durchzuckte Louvois’ Arm. Er hatte die Hand so fest zur Faust geballt, daß er einen Krampf bekommen hatte.

Gabrielle ... Ich werde dich finden, schwor er sich. Und wenn es Jahre dauert.

Er würde beide finden. Das Kind würde er dem Herzog zum Geschenk machen. Aber Gabrielle ... Gabrielle würde er behalten und sie töten, aber erst, nachdem er mit ihr abgerechnet hatte.

Unter dem Himmel von Notre-Dame

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